Achtzehntes Kapitel.
Der Pilot von der Donau.

[248] Als er Serge Ladko aus dem Auge verloren hatte, zögerte Karl Dragoch keinen Augenblick, zu tun, was ihm zukam. So allein zu Anfang der Nacht, an diesem Punkte der Grenze Bessarabiens, dazu noch gefesselt durch den regungslosen Körper eines Gefangnen, den sich selbst zu überlassen ihm die Menschlichkeit verbot, wurde seine Lage doch recht unbehaglich. Da er natürlich nicht auf Hilfe rechnen konnte, wenn er diese nicht aufsuchte, mußte er wohl oder übel zu einem Entschlusse kommen.

Die Zeit drängte. Von einer Stunde, vielleicht von einer Minute, konnte das Heil Serge Ladkos abhängig sein. So ließ er den noch immer bewußtlosen und – um andernfalls dessen Entfliehen zu verhindern – noch gefesselten Jackel Semo vorläufig liegen und ging, so schnell es die Bodengestaltung erlaubte, am Stromufer hinauf.

Nach halbstündigem Marsche in einem völlig öden Lande begann er schon zu befürchten, daß er gezwungen sein werde, bis Kilia zu wandern, als er nahe dem Ufer ein einzeln stehendes Haus entdeckte.

Es war hier keine leichte Aufgabe, sich die Tür dieses Hauses, das zu einer größern Farm zu gehören schien, öffnen zu lassen.

Zu dieser Stunde und an diesem Orte war ja eine gewisse Vorsicht zu entschuldigen, und die Bewohner des Hauses schienen wenig geneigt, jemand den Einlaß zu gestatten. Vermehrt wurde diese Schwierigkeit noch durch den Umstand, daß man einander kaum verstehen konnte. Die Bauern sprachen einen örtlichen Dialekt, den Karl Dragoch trotz seiner Vielsprachigkeit nicht kannte. So erfand er denn einen auf den Fall angepaßten Jargon zu je einem Drittel aus rumänischen, russischen und deutschen Wörtern, und endlich gelang es ihm, sich das Vertrauen der Leute soweit zu erwerben, daß die so hartnäckig verteidigte Tür sich vor ihm auftat.

Einmal eingetreten, mußte er eine weit ausholende Befragung aushalten, aus der er natürlich mit Ehren hervorging, und es waren kaum[248] zwei Stunden seit seinem Betreten des Landes vergangen, als ihn ein leichter Wagen schon wieder zu Jackel Semo zurückbefördert hatte.

Der lag noch immer so da wie früher. Er gab sogar kaum ein Lebenszeichen von sich, als er vom Grase am Ufer auf den Wagen geschafft wurde, der sogleich nach Kilia abfuhr. Bis zu jener Farm ging das freilich nur im Schritt, jenseits davon gab es aber einen, wenn auch herzlich schlechten Weg, auf dem man etwas schneller vorwärts kam.


 »Hier ist noch einer.« (S. 246.)
»Hier ist noch einer.« (S. 246.)

Es war schon Mitternacht vorüber, als Karl Dragoch nach Überwindung aller Hindernisse in Kilia eintraf. In der Stadt schlief alles, und es war nicht leicht, den Chef der Polizei zu finden.

Das gelang endlich, und er nahm es auf sich, den hohen Beamten zu wecken, der sich, ohne eine üble Laune zu zeigen, ihm bereitwilligst zur Verfügung[249] stellte.

Karl Dragoch benützte das, Jackel Semo sicher unterbringen zu lassen, zumal da dieser die Augen zu öffnen anfing. Jetzt unbehindert in seinen Bewegungen, konnte er sich mit dem Einfangen der übrigen Bande und mit der Rettung Serge Ladkos beschäftigen, die ihm vielleicht noch mehr am Herzen lag.

Beim ersten Schritte aber begegnete er schon unübersteiglichen Schwierigkeiten. In Kilia war kein Dampfer zur Hand, und anderseits weigerte sich der Chef der Polizei, seine Leute auf den Strom hinauszuschicken. Dieser Donauarm gehörte jener Zeit noch Rumänien und der Türkei gemeinschaftlich, und es war mit Recht zu befürchten, daß deren Eingreifen jetzt, wo der Krieg schon in der Luft lag, seitens der Hohen Pforte Einsprüche hervorrufen könnte, die gegenwärtig sehr beklagenswert gewesen wären. Hätte der rumänische Polizeichef im Buche des Geschickes lesen können, würde er erkannt haben, daß dieser schon so lange drohende Krieg früher oder später, aber doch notwendig ausbrechen mußte, dann wäre er vielleicht etwas weniger zaghaft gewesen. Bei seiner Unkenntnis der Zukunft zitterte er jedoch bei dem Gedanken, irgendwie in diplomatische Auseinandersetzungen verwickelt zu werden, und folgte da der hausbacken klugen Vorschrift: »Hand von der Butter«, die, wie man weiß, bei den Beamten in allen Ländern mit Vorliebe beachtet wird.

Was er allerhöchstens zu tun wagte, bestand in dem Karl Dragoch erteilten Rate, sich nach Sulina zu begeben und ihn dort auf einen Mann hinzuweisen, der fähig sein würde, ihn die schwierige, fast fünfzig Kilometer lange Strecke quer durch das Donaudelta zu befördern.

Diesen Helfer in der Not zu wecken, ihn zu überreden, einen Wagen zu bespannen, um ihn (den Detektiv) nach dem rechten Ufer zu bringen, das erforderte alles recht viel Zeit. Es war fast drei Uhr früh, als Dragoch endlich von einem kleinen Pferde, das sich besser erwies, als es aussah, in mäßigem Trab dahin befördert wurde.[250]

Der Polizeichef von Kilia hatte recht gehabt, als er eine Fahrt durch das Delta der Donau als äußerst beschwerlich hinstellte. Auf den schlammigen und zuweilen mehrere Zentimeter hoch mit Wasser bedeckten Straßen kam der Wagen nur mühsam vorwärts, und ohne die Geschicklichkeit des Führers hätte der sich wohl mehr als einmal in dieser Ebene verirrt, auf der kein Merkzeichen sichtbar war. Schnell ging's hier natürlich nicht vorwärts, und von Zeit zu Zeit mußte dem erschöpften Pferde überdies einige Ruhe gegönnt werden.

Die Mittagsstunde schlug, als Karl Dragoch in Sulina eintraf. Die von Serge Ladko angenommene Frist sollte nach einigen Stunden ablaufen. Ohne sich Zeit zur Erholung zu nehmen, eilte er deshalb, sich mit den Ortsbehörden ins Einvernehmen zu setzen.

Das seit dem Berliner Vertrage rumänische Sulina war jener Zeit noch eine türkische Stadt. Da die Beziehungen zwischen der Hohen Pforte und den Westmächten jetzt höchst gespannter Art waren durfte Karl Dragoch als ungarischer Untertan, trotz seiner Mission von so allgemeinem Interesse, hier nicht darauf rechnen, als persona grata empfangen zu werden. Das gestaltete sich zwar über Erwartung besser, dennoch fand er bei der einschlägigen Behörde aber nur ein recht laues Entgegenkommen.

Die Ortspolizei – so wurde ihm eröffnet – besäße selbst kein ihr zugeteiltes Fahrzeug, sie könnte da nur den Zollkutter in Rechnung ziehen, dessen Eingreifen hier ja ganz am Platze wäre, da man eine Räuberbande ja ohne Schwierigkeit mit einer Schmugglerbande gleichstellen könnte. Leider war dieser Kutter, ein kleiner, doch recht schneller Dampfer, eben nicht im Hafen. Karl Dragoch müsse daher schon eine Fischerbarke leihen, da der Zollkutter nicht weit draußen sein könnte und er ihn also sicherlich antreffen würde. Verzweifelt ob seiner Ohnmacht, beschloß der Detektiv, diesem Rate zu folgen. Nachmittag halb zwei Uhr ging er unter Segel und umschiffte die Mole zur Aufsuchung des Zollkuiters. Jetzt hatte er nur noch hundertundfünfzig Minuten übrig an dem mit Serge Ladko verabredeten Platze einzutreffen.

Und während Karl Dragoch unter wiederholtem Mißgeschick zu leiden hatte, verfolgte dieser unbeirrt die Ausführung seines Planes.

Den ganzen Morgen hatte er gespannt aufgepaßt, ob die Schute schon irgendwelche Vorbereitung zur Abfahrt träfe. Seine Jolle lag inzwischen[251] im Schilfe des Ufers verborgen. Als er sich, vielleicht auf etwas zu brutale Weise, Jackel Semos bemächtigt hatte, hatte er gerade die Absicht im Auge, die Abfahrt der Schute zu verhindern. Wie er es vorausgesehen hatte, wagte sich Striga nicht ohne Lotsen auf so eine bedenkliche Fahrt, die sich durch zahlreiche Sandbänke von selbst für jeden verbietet, der das Fahrwasser nicht durch lange praktische Erfahrung genau kennen gelernt hat. Da die Piraten außerstande waren, sich das Verschwinden ihres Lotsen zu erklären, war anzunehmen, daß sie sich bald nach einem andern umtun würden. Lotsen trifft man aber auf dem Kiliaarme nur selten, und bis elf Uhr Vormittag blieb die Wasserfläche, abgesehen von der noch immer unbeweglichen Schute, völlig leer. Erst um elf Uhr tauchten vom Meer her zwei Fahrzeuge auf. Serge Ladko hatte sie mit dem Fernrohre beobachtet und erkannt, daß das eine ein Lotsenboot war. Dann mußte Striga also wahrscheinlich die Hilfe finden, nach der er so sehnlich verlangte. Der Augenblick einzugreifen war damit gekommen.

Die Jolle glitt aus dem Schilfe hervor und näherte sich der Schute.

»Hallo! Schute! rief Serge Ladko, als er sich in Hörweite befand.

– Hallo! Hier!« ertönte es als Antwort.

Oben auf dem Volkslogis erschien ein Mann. Es war Iwan Striga.

Wie loderte da der Ingrimm auf im Herzen Serge Ladkos, als er diesen Erzseind seines Glücks sah, den Elenden, der Natscha in seiner Gewalt hatte.

Er hatte dieses von ihm gesuchte Zusammentreffen jedoch vorausgesehen und war darauf vorbereitet. Sich mühsam beherrschend, verbarg er seine Wut in sich selbst.

»Solltet Ihr keinen Lotsen brauchen?« fragte er mit ruhiger Stimme.

Statt zu antworten, hielt Striga eine Hand über die Augen und sah sich ziemlich lange den, der ihn angerufen hatte, an. Im Grunde war er sich über dessen Persönlichkeit nach dem ersten Blicke klar gewesen; doch daß er hier den Gatten Natschas vor sich hatte, erschien ihm so außerordentlich, man kann sagen, so unverhofft, daß er seinen Augen nicht trauen wollte.

»Seid ihr denn nicht Serge Ladko aus Rustschuk? fragte er nun selbst.

– Jawohl, der bin ich, erklärte der Pilot.

– Erkennt ihr mich gar nicht wieder?[252]

– Da müßte ich ja blind sein, antwortete Serge Ladko. Ich hatte euch sofort erkannt.

– Und bietet ihr mir eure Dienste an?

– Warum denn nicht? Ich bin doch einmal Pilot«, erklärte Serge Ladko trocken.

Striga zauderte einen Augenblick. Daß der, den er auf Erden am tiefsten haßte, sich so freiwillig seinem Belieben überlassen wollte, war doch gar zu schön. Doch steckte dahinter nicht eine Falle? Welche Gefahr konnte aber gegenüber einer zahlreichen und zu allem fähigen Mannschaft von einem einzelnen Manne kommen? So mochte er denn die Schute bis aufs Meer führen, da er nun einmal die Torheit beging, sich dazu anzubieten. Draußen auf dem Meere würde sich das weitre finden.

»Kommt herauf!« schloß der Pirat, dessen Mund sich dabei zu widerwärtigem Lächeln verzerrte, das Serge Ladko aber deutlich genug sah.

Der wartete nicht erst auf eine zweite Aufforderung. Die Jolle legte an der Schute an und er stieg auf diese hinaus. Striga kam sofort zu ihm.

»Werdet ihr mir erlauben, begann er, meine Verwunderung darüber auszusprechen, daß ich euch hier an der Donaumündung begegne?«

Der Pilot schwieg.

»Man hielt euch allgemein für tot, fuhr Striga fort, seit ihr von Rustschuk verschwunden wart.«

Diese Worte hatten nicht mehr Erfolg als die vorigen.

»Was war denn aus euch geworden? fragte Striga unbeirrt weiter.

– Ich... ich bin aus der Nähe des Meeres nicht weggekommen, antwortete endlich Ladko.

– So weit von Rustschuk!« rief Striga.

Serge Ladko runzelte die Augenbrauen. Diese Ausfragung fing an ihn zu reizen. Doch ohne von dem Verhalten abzuweichen, das er sich vorgeschrieben hatte, unterdrückte er seine Ungeduld und erklärte bedächtig:

»Die unruhigen Zeiten sind dem Geschäftsgange nicht günstig.«

Striga sah ihn mit etwas spöttischem Blicke an.

»Und man hielt euch für einen so glühenden Patrioten! rief er ironisch.

– Ich bekümmere mich nicht mehr um Politik«, erwiderte Serge Ladko trocken.[253]

In diesem Augenblicke bemerkte Striga die Jolle, die die Strömung vom Deck der Schute etwas abgedrängt hatte. Da durchschauerte ihn ein Zittern. Er konnte sich nicht täuschen, das war dieselbe Jolle, deren er sich acht Tage lang bedient und die er am Kai von Semlin angeseilt wieder gefunden hatte. Serge Ladko log also mit der Angabe, das Delta der Donau niemals verlassen zu haben.

»Seit ihr von Rustschuk weggegangen wart, habt ihr euch aus dieser Gegend niemals entfernt? fragte Striga mit nachdrücklicher Betonung und indem er sein Gegenüber scharf ins Auge faßte.

– Nein, antwortete Serge Ladko gelassen.

– Ihr setzt mich in Erstaunen, rief Striga.

– Warum? Hättet ihr erwartet, mich anderswo zu treffen?

– Euch? Nein, euch zwar nicht, doch das Boot da unten. Ich würde darauf schwören, es auf dem Oberlauf der Donau gesehen zu haben.

– Das ist leicht möglich, gab Serge Ladko gleichgültig zu. Ich habe das Boot hier erst vor drei Tagen von einem Manne gekauft, der von Wien zu kommen angab.

– Wie sah der Mann denn aus? fragte Striga lebhaft, da sich sein Verdacht auf Karl Dragoch lenkte.

– Er hatte dunkle Haare und trug eine Brille.

– Ah!« stieß Striga träumerisch hervor.

Die Antworten des Piloten hatten ihn sichtlich irre gemacht. Er wußte jetzt nicht mehr, was er glauben sollte. Bald hoffte er sich jedoch aus dieser Verlegenheit zu befreien. Was kümmerte ihn das alles?

Ob Serge Ladko die Wahrheit sagte oder nicht, er hatte ihn auf jeden Fall in der Hand. Der Schwachkopf, der dem Löwen selbst in den Rachen lief! Einmal hier auf der Schute, sollte er die nicht lebend wieder verlassen. Jetzt waren es zwei Monate, daß Striga lügnerischerweise Natscha versicherte, sie sei Witwe. Sobald das Meer erreicht wäre, sollte die Lüge zur Wahrheit werden.

»Nun wollen wir aber abfahren! sagte er, als er mit sich einig war.

– Zu Mittag«, antwortete Serge Ladko gelassen, während er aus einer mitgebrachten Tasche etwas zu essen hervorholte und zu frühstücken anfing.

Der Pirat machte eine ungeduldige Bewegung. Serge Ladko gab sich den Anschein, sie nicht zu bemerken.[254]

»Ich muß euch aufmerksam machen, sagte Striga, daß mir viel daran liegt, vor Anbruch der Nacht auf dem Meere zu sein.

– Da werden wir dann auch sein«, versicherte der Pilot, ohne die geringste Neigung zu zeigen, sich jetzt stören zu lassen.

Striga entfernte sich nach dem Vorderteile. Dem nachdenklichen Ausdruck seiner Gesichtszüge nach zu urteilen, trug er sich mit ernster Sorge. Daß gerade der Gatte sich zur Führung der Schute, worin dessen Gattin gefangen saß, anbieten mußte, war doch wirklich etwas zu auffallend. Da das jedoch nichts daran ändern konnte, daß sich Serge Ladko auf dem Schiffe gegenüber sechs entschlossenen Männern allein befand, hätte er klug daran getan, an den Lotsen nicht noch weitre Fragen zu richten. So vernünftig war er aber nicht; ihm lag viel zu viel daran, zu wissen, ob das Verschwinden Natschas dem bekannt wäre, den es am meisten anging. Seine Neugier ließ ihm keine Ruhe, er mußte sie auf jeden Fall befriedigen.

»Habt ihr denn aus Rustschuk Nachrichten erhalten, seit ihr die Stadt verlassen habt? fragte er, indem er wieder auf den Piloten zutrat, der ruhig bei seinem Frühstück saß.

– Niemals, antwortete dieser.

– Und das Ausbleiben jeder Nachricht hat euch nicht verwundert?

– Warum sollte es mich verwundert haben?« fragte Serge Ladko, indem er den andern aufmerksam beobachtete.

Wie kühn und vermessen er auch sonst war, hier fühlte er sich von dem festen Blick etwas geniert.

»Ich glaubte, stammelte er, ihr hättet dort eure Frau zurückgelassen.

– Und ich, ich glaube, erwiderte Serge Ladko kühl, für uns würde sich ein andres Gesprächsthema besser eignen.«

Striga ließ sich das gesagt sein.

Wenige Minuten nach zwölf Uhr wurde auf Anordnung des Piloten der Anker aufgeholt, und nachdem das Segel gehißt und gerichtet war, ergriff dieser das Steuer. Da trat Striga nochmals an ihn heran.

»Ich muß euch darauf aufmerksam machen, sagte er, daß die Schute ziemlich tiefes Wasser braucht.

– Sie ist ja leer, wendete Ladko ein. Zwei Fuß Wasser müssen für sie genügen.

– Nein, sie braucht sieben Fuß, versicherte Striga.[255]

– Sieben!« rief der Pilot, auf den dieses Wort wie eine Offenbarung wirkte.

Da war es also erklärt, warum die Bande von der Donau bisher allen Verfolgungen entgangen war. Ihr Schiff enthielt einen doppelten Boden. Was man von diesem über dem Wasser sah, war nur zum Schein, zur Täuschung da. Die wirkliche Schute befand sich unter dem Wasser, und in diesem Verstecke wurde die Ausbeute der Raubzüge untergebracht, in einem Verstecke, das, wie Serge Ladko aus Erfahrung wußte, sich auch als sichrer Kerker benützen ließ.

»Ja, sieben, hatte Striga als Antwort auf den Ausruf des Piloten wiederholt.

– 's ist schon gut«, sagte dieser ohne eine weitere Bemerkung.

In den ersten Minuten nach der Abfahrt ließ Striga, den trotz eignen Widerstrebens noch immer einige Sorge erfüllte, die strengste Aufmerksamkeit nicht außer acht. Das Verhalten Serge Ladkos beruhigte ihn jedoch. Der waltete nur seines Amtes; er nährte offen bar keine böse Absicht, sondern bewies, daß sein Ruf als geschickter Pilot wirklich begründet war. Unter seinen Händen wand sich die Schute folgsam zwischen den Sandbänken hin und folgte mit mathematischer Genauigkeit der schwierig fahrbaren Wasserstraße.

Allmählich verschwanden die letzten Befürchtungen des Piraten. Die Fahrt ging ohne Zwischenfall von statten, und bald mußte das Meer erreicht sein.

Es war um vier, als dieses in Sicht kam. Nach einer letzten Biegung des Stromes stießen Himmel und Wasser am Horizonte zusammen.

Striga rief jetzt den Piloten an.

»Nun sind wir doch, glaub' ich, in Sicherheit? sagte er. Könnte man das Ruder jetzt nicht wieder unserm gewöhnlichen Steuermann überlassen?

– Noch nicht, erklärte Serge Ladko. Das Schwierigste ist noch nicht überstanden.«

Je weiter das Fahrzeug nach der Mündung kam, ein desto größres Feld öffnete sich den Blicken. Auch Striga sah unablässig auf das weite Meer hinaus. Plötzlich ergriff er ein Fernrohr und richtete es auf einen kleinen, vier- bis fünfhundert Tonnen haltigen Dampfer, der eben um die im Norden vorgelagerte Landspitze herumkam, und nach dessen kurzer Besichtigung[256] gab er Befehl, eine Flagge am Top des Mastes zu hissen. Darauf erfolgte sofort eine Antwort vom Bord des Dampfers, der sich, nach Steuerbord schwenkend, der Stromesmündung näherte.


 »Ich bin doch einmal Pilot.« (S. 253.)
»Ich bin doch einmal Pilot.« (S. 253.)

Im gleichen Augenblicke hatte Serge Ladko aber die Ruderpinne nach Backbord herumgeworfen, so daß die Schute stark nach Steuerbord abfiel, und indem sie die Strömung in schräger Richtung durchschnitt, nach Südosten umbog, als wollte sie das rechte Ufer anlaufen.[257]

Erstaunt sah Striga den Piloten an, dessen Gleichmütigkeit ihn jedoch beruhigte. Jedenfalls zwang eine letzte Sandbank die Schiffe, hier diesen auffällig abweichenden Weg einzuschlagen.

Striga täuschte sich nicht gänzlich. Im Bett des Stromes lag wirklich eine Sandbank, nur nicht in der Richtung nach dem Meere zu, und gerade auf diese Untiefe zu steuerte Serge Ladko jetzt mit fester Hand.

Plötzlich erfolgte ein furchtbares Krachen. Die Schute wurde davon bis zum Grunde erschüttert.

Durch den Stoß kam der Mast herunter, der dicht an seiner Spur abgebrochen war, und flatternd schlug das Segel aufs Deck nieder, wo es die Männer, die sich auf dem Vorderdeck aufhielten, mit seinen weiten Falten bedeckte. Unabänderlich fest aufgefahren, blieb die Schute unbeweglich stehen.

Auf dem Deck waren alle umgeworfen, darunter auch Striga, der sich wutschnaubend wieder aufgerafft hatte.

Sein erster Blick traf Serge Ladko. Der Pilot schien von dem Unfalle gar nicht betroffen zu sein. Er hatte das Steuer losgelassen, und die Hände in den Taschen seines Kittels, beobachtete er seinen Feind, gespannt auf das, was nun erfolgen würde.

»Halunke!« heulte Striga, der, einen Revolver in der Hand, nach dem Hinterteile stürmte.

Bei drei Schritt Entfernung gab er Feuer.

Serge Ladko hatte sich blitzschnell gebückt; die Kugel flog über ihn hin, ohne ihn zu verletzen. Sofort wieder aufgerichtet, stürzte er sich mit einem Sprunge auf seinen Gegner, dem er sein Messer ins Herz stieß. Iwan Striga brach tot zusammen.

Das alles hatte sich so schnell abgespielt, daß die fünf Leute von der Mannschaft, die übrigens von den Falten des Segels etwas zurückgehalten wurden, keine Zeit fanden, dazwischenzutreten. Welchen Schreckensruf stießen sie aber aus, als sie ihren Führer zusammenbrechen sahen!

Serge Ladko sprang auf das Spardeck hinauf, ihnen entgegenzutreten. Von hier aus beherrschte er das Deck, über das die Leute lärmend daherstürmten.

»Zurück!« donnerte er sie an, in beiden Händen einen Revolver, deren einen er Strigas Hand entrissen hatte.[258]

Die Männer stutzten und standen still. Sie hatten keine Waffen, und um sich solche zu holen, mußten sie ins Volkslogis eindringen, was aber nur unter dem Feuer des Feindes möglich war.

»Ein Wort, Kameraden, rief jetzt Ladko, ohne seine drohende Haltung aufzugeben. Ich habe hier noch elf Schuß... mehr als genug, euch bis zum letzten in jene Welt zu jagen. Ich erkläre euch hiermit, daß ich augenblicklich schieße, wenn ihr euch nicht nach vorne zurückbegebt.«

Die Mannschaft beriet sich unentschlossen. Serge Ladko begriff sehr gut, daß er, wenn alle gleichzeitig über ihn herfielen, zwar einige unschädlich machen könnte, daß er dann selbst aber den Streichen der übrigen erliegen würde.

»Achtung!... Ich zähle bis drei!« rief er hinunter, ohne jenen Zeit zum Überlegen zu lassen. Eins!«

Die Leute rührten sich nicht.

»Zwei!« erscholl es vom Piloten.

Da kam etwas Bewegung in die Gruppe. Drei schienen einen schwachen Angriff wagen zu wollen; zwei wichen eingeschüchtert zurück.

»Drei!« rief Serge Ladko und drückte auch schon los.

Ein Mann sank um; das Geschoß hatte ihm die Schulter durchbohrt. Jetzt ergriffen auch die andern die Flucht.

Ohne seinen Beobachtungsposten zu verlassen, warf Serge Ladko einen Blick auf den Dampfer, der Strigas Flaggensignal beantwortet hatte. Das Fahrzeug war jetzt kaum noch eine Seemeile entfernt. Wenn es erst Bord an Bord mit der Schute lag, und seine Mannschaften zu den Piraten hinzutraten, deren Spießgesellen diese doch mehr oder weniger sein mußten, würde die Lage freilich sehr ernst werden.

Der Dampfer kam immer näher heran. Er war aber kaum noch drei Kabellängen entfernt, als er plötzlich nach Steuerbord wendete, einen großen Bogen beschrieb und sich nach dem hohen Meere zu entfernte. Was mochte dieses Manöver bedeuten? War ihm etwas aufgefallen, was Serge Ladko nicht hatte bemerken können?

Dieser wartete hochklopfenden Herzens einige Minuten. Da erschien von der Südspitze des Landes noch ein andrer Dampfer. Aus seinem Schornstein wirbelten dicke Rauchwolken empor. Den Bug gerade auf die Schute zu gerichtet, kam er unter Volldampf näher. Bald konnte Serge[259] Ladko auf dessen Vorderteil eine ihm befreundete Gestalt, die seines Passagiers – des Herrn Jäger – die Karl Dragochs erkennen. Er war gerettet.

Einen Augenblick später sprangen schon Polizeimannschaften auf das Deck der Schute herüber, deren Besatzung sich nun ergab, ohne einen nutzlosen Widerstand zu versuchen.

Inzwischen war Serge Ladko ins Volkslogis eingedrungen. Eine nach der andern untersuchte er hier alle Kabinen. Nur zu einer war die Türe verschlossen. Durch einen Stoß mit der Schulter sprengte er sie auf und blieb, seiner Sinne kaum noch mächtig, auf der Schwelle stehen...

Da breitete ihm die wiedergewonnene Natscha die Arme entgegen.

Quelle:
Jules Verne: Der Pilot von der Donau. Bekannte und unbekannte Welten. Abenteuerliche Reisen von Julius Verne, Band XCIV, Wien, Pest, Leipzig 1909, S. 248-260.
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