Zehntes Capitel.
An der Mündung des Meta.

[131] Nachdem sie das linke Ufer erreicht hatten, gelang es den drei Piroguen, auch über das Raudal von Cariben hinauszukommen, ohne selbst einen Theil ihrer Ladung ausladen zu müssen, und gegen sechs Uhr legten sie eine nach der andern im Hintergrunde eines kleinen Hafens an.

Früher hätten die Reisenden hier einen von einer thätigen Bevölkerung belebten Flecken mit regem Handelsverkehr, der noch im weiteren Aufblühen zu sein schien, vorgefunden. Jetzt war derselbe aus den uns schon bekannten[131] Ursachen verfallen, und Cariben bestand eigentlich nur noch aus fünf Indianerhütten – wenigstens zur Zeit, als Chaffanjon mit dem General Oublion hierherkam.

Bei den wenigen Yaruros, die jene Hütten bewohnten, um Aufnahme nachzusuchen, wäre ganz zwecklos gewesen. In dem so weit heruntergekommenen Orte war an eine Neubeschaffung von Nahrungsmitteln und andern Dingen gar nicht zu denken. Das war übrigens in la Urbana ausreichend geschehen, und man hoffte an Proviant bis Atures genug Vorrath zu haben, zumal da die Jäger unterwegs gewiß noch manches Stück Wild für die Küche lieferten.

Am nächsten Tage, am 31. August, erfolgte die Abfahrt schon kurz vor Tagesanbruch, begünstigt von dem noch immer bestehenden Nordwind, den man sich für die Fahrt nach Süden, in der Richtung, die der Orinoco von la Urbana bis San-Fernando beibehält, gar nicht besser wünschen konnte. Cariben liegt ziemlich in der Mitte zwischen jenen zwei Punkten.

Leider wehte der Nordwind aber nicht stetig, sondern mehr stoßweise, so daß nicht viel auf die Segel zu rechnen war, die einmal einige Minuten lang straff gespannt waren und dann wieder längere Zeit an den Masten schlaff herabhingen. Man mußte also zu den Palancas und den Garapatos greifen, denn an dieser Stelle ist die durch den Zufluß des Meta verstärkte Strömung mächtig genug, ein Fahrzeug leicht zurückzutreiben.

Der Orinoco zeigte sich hier übrigens verhältnißmäßig belebt, da nicht wenige Boote der Eingebornen den Strom hinauf und hinunter fuhren. Keines davon schien aber die eine oder die andre Pirogue anlaufen zu wollen.

Diese Curiares waren von Quivas besetzt, welche sich mit Vorliebe in der Nähe des wichtigen Nebenflusses des Stromes aufhalten. Man hatte es übrigens nicht zu bedauern, mit ihnen nicht in Verbindung getreten zu sein, denn gerade diese Indianer stehen – und zwar mit Recht – in gar schlechtem Rufe.

Gegen elf Uhr, als der Wind sich fast ganz gelegt hatte, ließen Valdez und die beiden andern Schiffer die Segel einholen. Nun galt es, mittelst der Palaucas weiter vorwärts zu kommen, wobei die eine geringere Strömung aufweisenden Wasserwirbel längs des Ufers als Fahrweg gewählt wurden.

An diesem übrigens recht unfreundlichen und regnerischen Tage brachten die Piroguen nur eine geringe Strecke hinter sich; um fünf Uhr nachmittags ankerten sie jedoch in der Mündung des Meta, hinter einem Vorsprung des rechten Ufers, wo sie in stillem Wasser lagen.[132]

Der Himmel hatte sich später am Abend wieder aufgeklärt; es herrschte jetzt völlige Windstille. Durch eine freie Stelle in den Wolken am westlichen Horizont sandte die Sonne ihre letzten Strahlen auf die Fluthen des Meta, die sich in leuchtendem Rauschen mit denen des Orinoco zu mischen schienen.

Die Falcas legten sich Bord an Bord, die »Gallinetta« zwischen die beiden andern. Es sah aus, als bewohnten die drei Reisenden drei Zimmer ein und desselben Hauses und obendrein Zimmer, deren Thüren offen standen.

Es war schon erklärlich, daß Alle, nachdem sie bei schlechtem Wetter so viele Stunden in den Deckhäusern zugebracht hatten, jetzt das Verlangen empfanden, die schöne Abendluft zu athmen, auch zusammen zu speisen und miteinander wie Freunde an der nämlichen Tafel ein wenig zu plaudern. So bärbeißig der Sergeant Martial auch sein mochte, jetzt durfte er es doch nicht wagen, sich über dieses gesellige Beisammensein zu beklagen.

Zwischen den vier Franzosen und den drei Venezuolanern herrschte also das beste Einvernehmen. Jeder betheiligte sich an dem Gespräche, das von Jacques Helloch anfänglich auf ein Gebiet hinübergespielt wurde, wo die alten Gegner ins Handgemenge geriethen – auf das Gebiet der Geographie.

Er begann nämlich, boshaft genug, eine kleine Streitigkeit zu entfesseln:

»Da wären wir nun an der Mündung des Meta, Herr Miguel...

– Ganz recht, Herr Helloch.

– Das ist doch einer der Nebenflüsse des Orinoco?

– Ja, und zwar einer der bedeutendsten, da er ihm viertausend Cubikmeter Wasser in der Secunde zuführt.

– Kommt er nicht von den obern Cordilleren der columbischen Republik?

– Wie Sie sagen, antwortete jetzt Herr Felipe, der sehr wohl durchschaute, worauf diese Fragen hinausliefen.

– Nimmt er nicht auch eine große Anzahl Nebenflüsse in sich auf?

– Gewiß, sehr viele, bestätigte Herr Miguel. Die wichtigsten darunter sind die Upia und die Humadea, an deren Vereinigung er erst seinen Namen annimmt, ferner der Casanare, der den seinigen auf eine ungeheure Fläche von Ilanos übertragen hat.

– Mein lieber Jean, sagte da Jacques Helloch, wenn es mir gestattet ist, Sie so zu nennen...«

Der junge Mann erröthete leicht, und der Sergeant Martial sprang auf, als würde er von einer Feder emporgeschnellt.[133]

»Was fehlt Ihnen denn, Herr Sergeant? fragte Herr Miguel.

– O, nichts, nichts,« antwortete der alte Soldat sich wieder niedersetzend

Jaques Helloch fuhr also in seiner Rede fort.

»Mein lieber Jean, ich glaube, wir werden nie wieder eine so passende Gelegenheit finden, über den Meta zu sprechen, da dieser jetzt vor unsern Augen dahinströmt...

– Und Du kannst auch hinzusetzen, fiel Germain Paterne ein, daß wir nie wieder bessre Lehrmeister haben werden, uns über ihn zu unterrichten.

– Sie thun uns viel Ehre an, meine Herren, erklärte Herr Varinas und doch wissen wir über den Meta nicht so viel, wie Sie anzunehmen scheinen. Ja, wenn es sich um den Guaviare handelte...

– Oder um den Atabapo! fiel Herr Felipe ein.

– Dahin werden wir auch noch kommen, meine Herren, fuhr Jacques Helloch unbeirrt fort. Da ich aber voraussetze, daß Herr Miguel in der Hydrographie des Meta sehr bewandert ist, gestatte ich mir an ihn die Frage, ob dieser Nebenfluß des Orinoco nicht manchmal eine sehr große Breite annimmt...

– Ja freilich... er erreicht stellenweise die Breite von zweitausend Metern, antwortete Herr Miguel.

– Und seine Tiefe?

– Jetzt, wo die Fahrstraße mit Baken bezeichnet ist, können Fahrzeuge mit sechs Fuß Tiefgang in der Regenzeit bis zur Einmündung der Upia, und in der trocknen Jahreszeit noch den dritten Theil dieser Strecke hinausgelangen.

– Das beweist also, meinte Jacques Helloch, daß der Meta eine natürliche Verbindung zwischen dem Atlantischen Ocean und Columbien darstellt...

– Ganz recht, erwiderte Herr Miguel, ja einzelne Geographen haben sogar behauptet, daß der Meta den kürzesten Weg von Bogota nach Paris bilde.

– Ja, meine Herren, warum sollte der Meta dann nur ein Nebenfluß des Orinoco und nicht der Orinoco selbst sein? Und warum könnten die Herren Felipe und Varinas zu seinen Gunsten nicht ihre unzulänglich begründeten Ansichten bezüglich des Guaviare und das Atabapo aufgeben?«

Darauf zielte der Franzose also hinaus!

Man wird sich leicht denken können, daß er kaum dazu kam, seine Rede zu vollenden, ohne daß die beiden Vertreter des Atabapo und des Guaviare dagegen mit Handbewegungen an Stelle von Worten Einspruch erhoben.[134]

Jetzt platzten die Geister auf einander und es regnete Beweisgründe für die eine und die andre Ansicht über den tollkühnen jungen Mann, der die Frage über den Lauf des Orinoco angezweifelt hatte. Nicht etwa, daß er sich dafür besonders interessierte, denn ihm schien die Wahrheit auf Seiten des Herrn Miguel und der meisten Geographen zu liegen, es machte ihm aber Vergnügen, die streitsüchtigen Brüder aneinander zu hetzen. Was er für seine hingeworfene Ansicht ins Treffen geführt hatte, war mindestens ebensoviel, wenn nicht mehr werth, als die Gründe der Herren Varinas und Felipe, denn bezüglich der geographischen Wichtigkeit übertrifft der Meta zweifellos ebenso den Guaviare wie den Atabapo. Die beiden gelehrten Herren wollten aber einer dem andern nicht nachgeben, und die Verhandlung hätte sich gewiß bis weit in die Nacht hinein fortgesetzt, wenn Jean von Kermor ihr nicht dadurch eine andre Richtung gab, daß er an Herrn Miguel eine andre, nicht minder ernste Frage stellte.

Nach den Angaben seines Reiseführers machten sehr zu fürchtende Indianer die Ufer des Meta unsicher. Er fragte deshalb, was Herr Miguel ihnen wohl darüber sagen könne.

»Das hat sicher für uns mehr Interesse,« antwortete dieser, dem es ganz lieb war, das Thema des Gespräches gewechselt zu sehen.

Die beiden Collegen waren sich bereits, bildlich zu verstehen, »arg in die Haare gefahren«, was ja nichts Seltnes war, und wie mußte das erst werden, wenn sie sich an der Vereinigungsstelle der drei Flüsse befanden.

»Diese Quivas, fuhr Herr Miguel fort, sind allen Reisenden, die sich nach San-Fernando begeben, als ein sehr wilder Stamm bekannt. Man spricht sogar davon, daß eine Bande derselben über den Strom gesetzt und nach den östlichen Gebieten eingedrungen sei, wo sie Räubereien und Mordthaten ausüben.

– Ist der Anführer der Bande jetzt nicht schon todt? fragte Jacques Helloch, der auch von den Unthaten des Raubgesindels gehört hatte.

– Ganz recht, antwortete Herr Miguel, schon seit etwa zwei Jahren.

– Und wer war das?

– Ein Neger namens Sarapia, den sich die Bande zum Anführer gewählt hatte und an dessen Stelle später ein entwichner Sträfling getreten ist.

– Und die Quivas aber, fragte Jacques weiter, die auf dem rechten Ufer zurückblieben?...

– Die sind nicht weniger zu fürchten, antwortete Herr Miguel. Die meisten der Boote, denen wir von Cariben aus begegnet sind, gehören ihnen,[135] und wir werden gut thun, so lange wir durch diese Gegend fahren, wo das jeder Schandthat fähige, noch sehr zahlreiche Raubgesindel haust, stets auf unsrer Hut zu sein.«

Daß diese Warnung berechtigt war, bewiesen die Ueberfälle, deren Opfer erst unlängst verschiedene Händler aus San-Fernando geworden waren. Der Präsident von Venezuela und der Congreß planten auch, wie man sagte, eine Expedition zur Vernichtung dieser Banden am Alto-Orinoco. Erst aus Columbia vertrieben, sollten die Quivas nun aus Venezuela verjagt werden, und wenn sie dabei nicht bis auf den letzten Mann ausgerottet wurden, würde dann Brasilien zum Schauplatz ihrer verbrecherischen Thätigkeit werden. Grade weil ihnen jene Expedition drohte, überfielen die Quivas viele Reisende mit desto grimmigerer Wuth, vorzüglich seitdem sie als Anführer einen aus Cayenne entflohenen Sträfling hatten. Die Insassen der drei Piroguen mußten also im Laufe der Fahrt hier jeden Augenblick ein wachsames Auge auf ihre Umgebung haben.

»Wir sind ja ziemlich zahlreich, wenigstens unter Einrechnung der Besatzmannschaft, auf die wir doch wohl zählen können, erklärte Jacques Helloch, und an Waffen und Munition fehlt es uns auch nicht. Diese Nacht, lieber Jean, werden Sie ruhig in Ihrem Deckhause schlafen, wir werden schon über Sie wachen...

– Das ist doch wohl meine Sache, warf der Sergeant Martial trocken ein.

– Nein, das geht uns Alle an, mein wackrer Sergeant, erwiderte Jacques Helloch, und es ist wichtig, daß Ihr Neffe nicht des in seinem Alter so nöthigen Schlafes beraubt werde.

– Ich danke Ihnen, Herr Helloch, erwiderte der junge Mann lächelnd, es ist aber doch wohl richtiger, daß wir Alle abwechselnd Wache halten.

– Jeder eine bestimmte Zeit lang,« setzte der Sergeant Martial hinzu.

Was ihn selbst freilich anging, unterließ er es, wenn die Stunde für den jungen Mann herangekommen war, natürlich, diesen aus dem Schlafe zu wecken, um allein draußen Wache zu stehen.

Dieser Verabredung entsprechend, wurde die Wache von acht bis elf Uhr den beiden Franzosen anvertraut; von elf bis zwei Uhr morgens sollte Herr Miguel mit seinen Collegen sie ablösen, dann fiel es Jean von Kermor und dem Sergant Martial zu, bis Tagesanbruch an deren Stelle zu treten.[136]

Die Passagiere der »Gallinetta« und der »Maripare« streckten sich also auf ihren Estrillas aus, und andrerseits überließen sich die Mannschaften einer nach den vorausgegangenen Anstrengungen wohlverdienten Ruhe.


 »Ich sehe nichts. Und doch...« (S. 139.)
»Ich sehe nichts. Und doch...« (S. 139.)

Jacques Helloch und Germain Paterne bezogen ihren Posten auf dem Hintertheile der Pirogue. Von da aus konnten sie den Strom nach auf- und nach abwärts überblicken und auch die Mündung des Meta beobachten. Vom Ufer selbst her war nichts zu fürchten, denn längs desselben dehnte sich ein ganz unpassierbares Sumpfland aus.[137]

Nebeneinander sitzend, plauderten die beiden Freunde von dem und jenem. Der eine rauchte von den Cigarren, mit denen er sich reichlich versehen hatte, denn Tabak bildet bei allen Uferbewohnern ein stets verwerthbares Tauschmittel. Der Wind hatte sich fast ganz gelegt, nur dann und wann strich ein Lufthauch über die beiden Männer hin. Wenige Grade über dem Horizont funkelte das Südliche Kreuz am Himmel. Bei der allgemein herrschenden Stille mußte das geringste Geräusch, das Durchschneiden des Wassers durch ein Boot, der vorsichtigste Ruderschlag schon von weitem her vernehmbar sein, und es genügte, das Uferland zu beobachten, um jeder irgendwie verdächtigen Annäherung entgegentreten zu können.

Dieser Aufgabe widmeten sich also die beiden jungen Leute, während sie die Zeit vertraulich verplauderten.

Offenbar flößte Jean von Kermor dem hübschen Jacques Helloch ein lebhaftes Interesse ein. Nicht ohne ängstliche Befürchtung sah er den jungen Mann seine gefährliche Reise unternehmen. So hoch er dessen edelmüthigen Beweggrund auch schätzte, erschrak er doch vor den Gefahren, denen jener sich bei diesem Wagniß aussetzte, wenn er weit, weit – er wußte nicht, wie weit – hinauszog.

Schon wiederholt hatte er sich mit Germain Paterne über die Familie des Oberst von Kermor unterhalten, und dieser bemühte sich, seine Erinnerungen an diese, von der er vor fünfzehn Jahren manchmal reden gehört hatte, aufzufrischen.

»Weißt Du, Germain, sagte am heutigen Abend Jacques Helloch, ich kann es mir gar nicht recht vorstellen, daß dieses Kind – denn es ist ja noch ein Kind – in die Gebiete des obern Orinoco vordringen will! Und unter wessen Führung? Unter der des wackren Alten, der gewiß das beste Herz in sich trägt, der mir aber doch nicht der passende Führer seines Neffen zu sein scheint, wenn Beiden größere Schwierigkeiten begegnen sollten.

– Ja, ist er überhaupt sein Onkel? unterbrach ihn Germain Paterne. Mir will's nicht ganz so scheinen.

– Ob der Sergeant Martial nun Jean von Kermor's Onkel ist oder nicht, fuhr Jacques Helloch fort, würde ja wenig bedeuten, wenn er nur noch ein Mann in den Jahren vollster Kraft und an solche gefährliche Fahrten gewöhnt wäre. Ich frage mich immer, wie er hat zustimmen können...

– Zustimmen, ja, das ist das richtige Wort, Jacques, fiel Germain Paterne ein, indem er die Asche aus seiner Pfeife klopfte. Ja wohl, zustimmen,[138] denn es liegt auf der Hand, daß der junge Mann den Gedanken an diese Reise angeregt und daß er seinen Onkel dazu verführt hat. Doch nein, der Brummbär ist sein Onkel gar nicht, denn ich glaube mich zu erinnern, daß der Oberst von Kermor, als er aus Nantes verschwand, gar kein Kind hatte.

– Als er Nantes wohin verließ?

– Darüber hat man nie etwas gehört.

– Außer daß sein Sohn uns von dem letzten, in San-Fernando geschriebenen Briefe gesprochen hat. Wenn sie freilich auf eine so unzuverlässige Andeutung hin abgereist sind...

– Nun, sie hoffen ja in San-Fernando weitere Nachrichten erhalten zu können, der Oberst hat sich daselbst vor zwölf bis dreizehn Jahren doch bestimmt einmal aufgehalten.

– Das ist es eben, was mir Sorge macht, Germain. Erhält der junge Mann in San-Fernando weitere Mittheilungen, so wird er wahrscheinlich noch weiter... sehr weit... entweder nach Columbien oder durch die Flußgebiete des Atabapo oder des Guaviare, vielleicht auch bis nach den Quellen des Orinoco hinausgehen wollen. Ein solches Wagniß müßte doch zu einem sichern Untergange führen.«

Da unterbrach Germain Paterne seinen Genossen und sagte halblaut:

»Hörst Du nichts, Jacques?«

Dieser erhob sich, ging lautlos nach dem Vordertheil der Pirogue und lauschte, während er die Wasserfläche vom jenseitigen Ufer bis zur Mündung des Meta überblickte.

»Ich sehe nichts, sagte er zu Germain, der ihm gefolgt war. Und doch... ja, setzte er nach nochmaligem scharfen Aufpassen hinzu, mir scheint ein Geräusch vom Wasser her zu kommen.

– Sollten wir nicht die Schiffsleute wecken?

– Warte noch!... Das scheint mir gar nicht das Geräusch von einem sich nähernden Boote zu sein. Vielleicht sind es nur die Fluthen des Meta und des Orinoco, die an ihrer Vereinigungsstelle einen gurgelnden Ton erzeugen.

– Achtung! Sieh da... da draußen!« fügte Germain Paterne hinzu.

Er wies dabei nach einigen schwarzen Punkten hin, die sich wenige Schritte flußabwärts von den Falcas bewegten.

Jacques Helloch ergriff das Gewehr, das am Deckhaus lehnte, und beugte sich über den Bordrand hinaus.[139]

»Ein Boot ist es nicht, sagte er, und doch, mir scheint, ich sehe...«

Er legte schon die Waffe an, als Germain Paterne ihn zurückhielt.

»Schieße nicht!... Schieße nicht! raunte er ihm zu. Hier ist von keinen auf Raub ausziehenden Quivas die Rede!... Das sind nur ehrliche Amphibien, die an der Wasseroberfläche Luft schnappen wollen.

– Amphibien?

– Ja, drei oder vier von den Lamantins und Toninos, die im Orinoco so häufig vorkommen!«

Germain Paterne täuschte sich hiermit nicht. Es handelte sich hier nur um einige Pärchen von Lamantins (Wasserkühen) und Toninos (Wasserschweinen), die sich in den größeren und kleineren Flüssen Venezuelas aufhalten.

Die völlig harmlosen Amphibien näherten sich langsam den Piroguen, verschwanden aber, wahrscheinlich erschreckt, als sie fast heran waren.

Die beiden jungen Leute nahmen ihren Platz auf dem Hintertheile wieder ein, und dann ging das kurze Zeit unterbrochene Gespräch wieder weiter, nachdem Germain Paterne seine Pfeife nochmals in Brand gesetzt hatte.

»Du sagtest eben, begann Jacques Helloch, daß der Oberst von Kermor, wenn Du Dich recht erinnerst, keine weitere Familie gehabt habe.

– Das glaub' ich versichern zu können... Doch halt, da kommt mir etwas in den Sinn. Es schwebte einmal ein Proceß, der von einem Verwandten seiner Gattin angestrengt war, ein Proceß, den der Oberst beim Appellationsgericht in Rennes gewann, nachdem er ihn in unterer Instanz in Nantes verloren hatte. Ja, ja, dessen erinnre ich mich jetzt. Vier bis fünf Jahre später war Frau von Kermor, eine Kreolin von Martinique, auf der Rückkehr von den französischen Colonien bei einem Schiffbruche umgekommen... und zwar mit ihrer einzigen Tochter. Das war ein harter Schlag für den Oberst. Nach langer Krankheit, nach dem Verluste Aller, die seinem Herzen am theuersten waren – seiner Gattin und seines Kindes – und nun ohne weitere Familie, nahm er, wie ich Dir schon sagte, seinen Abschied. Kurze Zeit darauf verbreitete sich das Gerücht, daß er Frankreich verlassen habe. Niemals war dann etwas davon laut geworden, nach welchem Lande er sich gewendet haben mochte, bis der an einen seiner Freunde gerichtete Brief aus San-Fernando eintraf. Ja, so war es; ich wundre mich, daß ich mich nicht eher darauf besonnen habe. Wenn wir den Sergeanten Martial und den jungen Kermor darüber fragten, würden sie das jedenfalls bestätigen.[140]

– Die wollen wir nicht darum befragen, antwortete Jacques Helloch, das sind Privatangelegenheiten, und es wäre von uns indiscret, sich da hineinmischen zu wollen.

– Du magst recht haben, Jacques, Du wirst aber zugeben, daß ich auch recht hatte mit der Behauptung, daß der Sergeant Martial der Onkel Jean von Kermor's nicht sein könne, da der Oberst von Kermor nach dem Ableben seiner Frau keine näheren Verwandten hatte.«

Mit gesenktem Kopfe und gekreuzten Armen dachte Jacques Helloch über das nach, was sein Genosse ihm mitgetheilt hatte. Dieser konnte damit gar keinem Irrthum verfallen sein. Er wohnte ja in Rennes, als der Proceß des Oberst von Kermor am dortigen Appellationsgerichte verhandelt wurde, und die im Vorhergehenden erwähnten Thatsachen waren im Laufe des Processes an den Tag gekommen.

Da kam ihm ein Gedanke, der wohl unsern freundlichen Lesern auch schon aufgestiegen sein mochte.

»Wenn der Sergeant Martial kein Verwandter ist, sagte er, so kann Jean auch nicht der Sohn des Oberst von Kermor sein, da dieser nur eine Tochter hatte, die noch ganz klein bei dem Schiffbruche mit umgekommen war, der ihrer Mutter das Leben kostete.

– Das liegt auf der Hand, erklärte Germain Paterne, es ist unmöglich, daß der junge Mann der Sohn des Oberst wäre...

– Und doch behauptet er das,« setzte Jacques Helloch hinzu.

Hier lag offenbar ein dunkler, ja ein geheimnißvoller Punkt vor. Konnte man annehmen, daß der junge Mann selbst das Opfer einer Täuschung wäre – einer Täuschung, die ihn in so ein gefahrvolles Unternehmen gestürzt hätte?... Nein, das gewiß nicht. Der Sergeant Martial und sein angeblicher Neffe mußten sich, bezüglich des Oberst von Kermor und der Bande, die Jean mit diesem verknüpften, auf Grundlagen stützen, die mit dem, was Germain Paterne wußte, in Widerspruch standen.

Das Interesse Jacques Helloch's nahm übrigens noch mehr zu, je mehr er sich hier einer unaufgeklärten Sache gegenüber sah.

Die beiden Freunde unterhielten sich über dieses Thema bis zu dem Augenblicke wo die Herren Miguel und Felipe, die den hartköpfigen Vertreter des Guaviare schlafen ließen, zur Uebernahme des Wachpostens erschienen.[141]

»Sie haben nichts Verdächtiges bemerkt? fragte Herr Miguel, der auf dem Hintertheil der »Maripare« stand.

– Nicht das Geringste, Herr Miguel, antwortete Jacques Helloch. Strom und Ufer sind vollkommen ruhig...

– Und voraussichtlich wird Ihre Wache ebensowenig gestört werden, wie die unsre, fügte Germain Paterne hinzu.

– Dann also, gute Nacht, meine Herren!« erwiderte Herr Felipe, indem er ihnen von Bord zu Bord die Hände drückte.

Wenn Herr Miguel und sein College die wenigen Stunden, die sie jetzt vor sich hatten, gleichfalls verplauderten, so bezog sich ihr Gespräch doch gewiß nicht auf denselben Gegenstand, wie das der beiden Franzosen. Herr Felipe benutzte jedenfalls die Nichtanwesenheit des Herrn Varinas, um die Bedeutung der Argumente, die dieser für seine Anschauungen betonte, in ihrer Leerheit zu zeigen, und Herr Miguel hörte ihm jedenfalls mit gewohnter Gutmüthigkeit zu.

Kurz, es ereignete sich auch nichts Besonderes bis zur Zeit, wo sie um zwei Uhr nach dem Deckhause der »Maripare« zurückkehrten, als der Sergeant Martial zum Antritt seiner Wache erschienen war.

Das Gewehr an der Seite, machte sich dieser einen Platz auf dem Hintertheil der Pirogue zurecht und begann über mancherlei nachzudenken. Niemals war er bis jetzt von so großer Unruhe erfüllt gewesen – nicht um seiner selbst, sondern um des Kindes willen, das da im Deckhause schlummerte. Er vergegenwärtigte sich noch einmal alle Einzelheiten dieser von Jean unternommenen Reise, bei der er dessen Wunsche hatte nachgeben müssen, die Abreise von Europa, die Ueberfahrt über den Atlantischen Ocean, die verschiedenen Zufälle, die sich ereigneten, seit sie Ciudad-Bolivar verlassen hatten... Er überdachte, wohin sie jetzt gingen und wie weit ihre Nachforschungen sie noch führen könnten, welche Nachrichten sie vielleicht in San-Fernando erhielten, an welchem weltfernen Orte der Oberst von Kermor sich befinden möge, um ein Leben abzuschließen, das so glückverheißend begonnen hatte und durch so schreckliche Schicksalsschläge zerstört worden war. Welchen Gefahren würde das einzige Wesen, das ihm auf Erden noch gehörte, ausgesetzt sein? Bisher war die Sache auch gar nicht nach dem Wunsche des Sergeanten Martial gegangen, der immer erwartet hatte, daß sie auf der Reise allein bleiben und mit keinem Fremden in nähere Berührung kommen würden. Jetzt waren zuerst die »Maripare« und die »Gallinetta« zusammengefahren. Die Passagiere der ersteren waren mit seinem angeblichen[142] Neffen in näheren Verkehr getreten, wie das ja unter Leuten, die unter denselben Verhältnissen reisen, kaum zu umgehen ist. Zweitens, und das konnte noch ernstere Folgen und Gründe haben, die nur ihm bekannt waren, hatte ihnen das Mißgeschick auch noch die beiden Franzosen in den Weg geführt. Wie hätte er da alle sich entwickelnden näheren Beziehungen zwischen Landsleuten verhindern, ihnen das lebhafte Interesse für die von Jean verfolgte Absicht nehmen und ihre Dienste ablehnen sollen? Obendrein waren es ja Bretonen wie sie selbst. Wahrlich, der Zufall ist merkwürdig indiscret und mischt sich oft in Dinge ein, die ihn gar nichts angehen.

Da ließ sich von Osten her ein leichtes rhythmisches Geräusch vernehmen, das allmählich deutlich hörbar wurde.

Der in Gedanken versunkene Sergeant Martial bemerkte anfänglich gar nichts, ebensowenig sah er viel kleine Boote, die in der Strömung des Meta am rechten Ufer dahinglitten. Von Pagaien angetrieben, konnten sie sich auch stromaufwärts den Falcas nähern.

Von etwa zwanzig Quivas bemannt, waren die Curiares nur noch zweihundert Meter von den Piroguen entfernt, und wenn deren Passagiere im Schlafe überfallen wurden, konnten sie niedergemacht werden, ohne überhaupt Zeit zur Vertheidigung zu finden, da der Sergeant Martial in seiner Zerstreutheit nichts hörte, nichts sah.

Plötzlich, als die Falcas und die Curiares nur noch durch einen Zwischenraum von höchstens sechzig Fuß von einander getrennt waren, krachte ein Schuß.

Gleich darauf vernahm man einen Aufschrei vom Bord des nächsten Bootes.

Jacques Helloch war es gewesen, der Feuer gegeben hatte, und sofort blitzte auch ein Schuß aus dem Gewehre Germain Paterne's.

Die beiden jungen Männer waren – es war gegen fünf Uhr und der Tag begann zu grauen – wieder erwacht, als das Geräusch von Pagaien an ihr Ohr schlug. Nach dem Hintertheil der »Moriche« schlüpfend, erkannten sie den ihnen drohenden Angriff und hatten ihre Gewehre auf die Curiares abgefeuert.

Auf den Knall der Schüsse hin waren die Passagiere und die Mannschaften sofort aufgesprungen.

Die Herren Miguel, Felipe und Varinas stürzten mit dem Gewehre in der Hand aus dem Deckhause der »Maripare«.[143]

Jean tauchte zur Seite des Sergeanten Martial auf, der jetzt ebenfalls auf die Boote schoß und verzweifelt rief:

»Ueber das Unglück... das Unglück... mich überraschen zu lassen!«

Die Quivas blieben zunächst die Antwort nicht schuldig, und gegen zwanzig Pfeile schwirrten über die Piroguen hin. Einige bohrten sich in das Dach der Deckhäuser ein, Personen wurden aber nicht davon getroffen.

Herr Miguel und die Uebrigen gaben eine zweite Salve ab, und die ihr Ziel besser als die Pfeile erreichenden Kugeln richteten unter den Quivas nicht geringes Unheil an.

»Gehen Sie ins Haus zurück, Jean, zurück ins Deckhaus! rief da Jacques Helloch, der es für zwecklos fand, daß der junge Mann sich diesem Angriffe aussetzte.

Da flog eine weitere Anzahl Pfeile heran, wovon einer den Sergeanten Martial an der Schulter verletzte.

»Gut gemacht!... Habt Eure Sache gut gemacht, rief er... ein Soldat... und während seiner Wache... es geschieht mir ganz recht!«

Jetzt krachte eine dritte Salve aus Gewehren und Revolvern gegen die Curiares, die den Piroguen gegenüber vorbeiglitten.

Den Quivas, denen es nicht gelungen war, die Passagiere und die Mannschaften zu überrumpeln, blieb nichts anders übrig, als eilig zu entfliehen. Mehrere von ihnen waren tödlich getroffen, und andre hatten wenigstens schwere Verwundungen erhalten.

Der Ueberfall war fehlgeschlagen und die Curiares verschwanden flußabwärts auf dem Orinoco.

Quelle:
Jules Verne: Der stolze Orinoko. Bekannte und unbekannte Welten. Abenteuerliche Reisen von Julius Verne, Band LXXIII–LXXIV, Wien, Pest, Leipzig 1899, S. 131-144.
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