Zehntes Capitel.
Die Furt von Frascaes.

[347] Um fünf Uhr wurde es im Lager wieder munter.

Der erste, der sich erhob, war Jean. Er ging schon am Ufer des Rios auf und ab, als der Sergeant Martial, Germain Paterne und der junge Indianer, in Decken eingehüllt und das Gesicht mit dem Hute bedeckt, noch ruhig schliefen.

Der Bootsmann, der seinen Posten am Uferrande hatte, machte Jacques Helloch und Valdez, auf die er eben zuging, Mittheilung von dem, was er in der Zeit seines Wachdienstes wahrgenommen hatte, und bestätigte dabei übrigens die Aussage des Schiffers Valdez. Auch er glaubte in dem Manne, der am andern Ufer des Rio Torrida umhergeschlichen war, mit Bestimmtheit Jorres erkannt zu haben.

Zunächst empfahl Jacques Helloch beiden Männern, von ihren Wahrnehmungen nichts verlauten zu lassen, da es ihm mindestens nutzlos erschien, die Gefahren der durch diese Begegnung verschlimmerten Sachlage vorher zu verkünden. Seiner Ansicht nach würde es genügen, daß diese den Uebrigen bekannt würde, wenn es sich erst nöthig machte, geeignete Maßregeln zur Sicherung der Reisegesellschaft zu treffen.

Nach reiflicher Erwägung des Für und Wider wurde beschlossen, daß die Truppe den Marsch nach der Mission von Santa-Juana fortsetzen sollte.[347]

Wenn Alfaniz nämlich sich in der Nachbarschaft umhertrieb, wenn auf Jacques Helloch und seine Gefährten ein Angriff geplant war, so würde ein solcher ja wahrscheinlich ebenso erfolgen, wenn sie vorwärts gingen, als wenn sie sich zurückwendeten.

Bei einer Umkehr nach dem Orinoco wären sie freilich durch den Rio Torrida gedeckt gewesen, da dieser nur stromaufwärts eine Ueberschreitung gestattete. Auf der andern Seite würde jedoch auch die Quivas nichts hindern, bis zum Lagerplatz am Pic Maunoir hinunterzuziehen, und es war zu befürchten, daß man sich der Rotte auch mit Hilfe der Piroguenmannschaften nicht werde erwehren können.

Dagegen bot es einige Vortheile auf Santa-Juana zuzuwandern. Zunächst blieb man dabei ja auch unter dem Schutze des Rios – vorausgesetzt, daß dieser nicht irgendwo überschreitbar war, und danach konnte man bei Gomo anfragen. Ferner näherte man sich damit dem jetzigen Ziele, ja man erreichte es vielleicht, und in der Mission von Santa-Juana war dann nichts mehr zu fürchten. Diese hatte eine Bevölkerung von mehreren Hundert Guaharibos, jener Indianer, aus denen die Aufopferung eines Missionärs erst Menschen gemacht hatte. Santa-Juana bot jedenfalls eine gegen alle Unternehmungen des verruchten Alfaniz völlig gesicherte Zuflucht.

Es galt also, die Mission schnellstens und um jeden Preis zu erreichen und sich demnach anzustrengen, um unter Verdoppelung der Marschetappen noch vor der nächsten Nacht dahin zu gelangen. Fünfundzwanzig bis dreißig Kilometer mußten doch in einem Tage zurückgelegt werden können.

Jacques Helloch begab sich nach dem Lagerplatze, um den sofortigen Aufbruch vorzubereiten.

»Die da unten schlafen noch alle, Herr Helloch, sagte das junge Mädchen, das jetzt auf ihn zutrat.

– Und Sie, Fräulein Jeanne, sind die erste, die wach ist! antwortete Jacques Helloch. Ich werde aber die Andern sogleich wecken, damit wir bald wieder aufbrechen können.

– Sie haben nichts Verdächtiges bemerkt?

– Nein... nichts... gar nichts... doch lassen Sie uns weiter wandern. Ich habe ausgerechnet, daß wir, bei Verzichtleistung auf längere Ruhepausen, wenn nicht heute Abend, so doch noch in der Nacht in Santa-Juana eintreffen können.[348]

– Ach, Herr Helloch, wie drängt es mich, erst in der Mission zu sein!

– Wo ist Gomo? fragte Jacques Helloch, ihre Worte nicht weiter beachtend.

– Dort unten... nahe dem Eingang zur Höhle. Er schläft so friedlich, der arme Junge.

– Ich muß aber mit ihm sprechen; ich brauche einige Auskünfte, ehe wir fortgehen.

– Wollen Sie es mir überlassen, sie einzuholen?« erbot sich Jeanne von Kermor.

Fast gleichzeitig setzte sie aber hinzu:

»Sie scheinen diesen Morgen recht besorgt zu sein, Herr Helloch. Ist irgend etwas Schlimmes vorgefallen?

– Nein... ich versichere Ihnen... Fräulein Jeanne... nein!«

Das junge Mädchen wollte sich schon mit dieser Antwort nicht zufrieden geben, sie sagte sich aber, daß das Jacques wohl peinlich berühren könnte, so ging sie also nur zu Gomo und weckte ihn vorsichtig auf.

Der Sergeant Martial streckte eben ein paarmal die Arme, stieß einige laute Hms hervor und sprang dann schnell auf die Füße.

Bei Germain Paterne ging das nicht so ohne Umstände ab. In seine Decke eingewickelt, den Kopf auf die Botanisiertrommel – an Stelle eines Kissens – gelehnt, schlief er wie ein Murmelthier, das bekanntlich in dem Rufe steht, der Meisterschläfer der ganzen Schöpfung zu sein.

Inzwischen ließ Valdez die Säcke wieder zubinden, nachdem er ihnen die vom Abend vorher für den heutigen Morgenimbiß zurückgestellten Reste entnommen hatte. Als der junge Indianer munter geworden war, ging er mit Jean sogleich zu Jacques Helloch, der mit vor sich aufgeschlagener Karte neben einem flachen Felsblock stand. Die Karte zeigte die Gebiete zwischen der Sierra Parima und dem Gebirgsstock des Roraima, durch die sich der Rio hinwand.

Gomo konnte lesen und schreiben und war daher im Stande, über die betreffende Gegend genaue Auskunft zu geben.

»Du hast doch wohl gelegentlich Karten gesehen, die ein Stück Erde mit Land und Meer, mit Bergen und Flüssen darstellen? fragte ihn Jacques Helloch.

– Ei freilich! erwiderte er. In der Schule in Santa-Juana haben wir solche gar häufig gesehen.[349]

– Nun, so sieh Dir einmal diese hier recht aufmerksam an. Der große Strom, der darauf einen Halbkreis bildet, ist der Orinoco, den Du ja kennst.

– Den ich nicht nur kenne, sondern auch liebe!

– Ja, Du bist ein braves Kind... Du liebst Deinen schönen Strom!... Siehst Du auch hier, nahe seinem Ende, diesen mächtigen Berg?... Daraus kommen seine Quellen hervor.

– Die Sierra Parima, Herr Helloch, ja, das weiß ich... dort sind die Raudals, die ich mit meinem Vater oft genug hinauf und hinab gefahren bin.

– Richtig... zum Beispiel das Raudal von Salvaju.

– Und dann... hier ragt ein Pic empor...

– Der Pic Lesseps...

– Täusche Dich aber nicht; so weit sind wir mit unsern Piroguen nicht hinausgekommen.

– O nein... so weit nicht.

– Warum stellen Sie an Gomo alle diese Fragen, Herr Helloch? fragte jetzt Jeanne.

– Ich möchte über den Verlauf des Rio Torrida aufgeklärt sein, und vielleicht kann mir in dieser Beziehung Gomo die nöthige Auskunft geben....«

Das junge Mädchen warf einen fragenden Blick auf Jacques Helloch, der davor den Kopf senkte, jedoch sogleich in seiner Rede fortfuhr.

»Nun, Gomo, sieh, hier ist die Stelle, wo wir unsre Piroguen zurückgelassen haben... hier, das ist der Wald, worin Deines Vaters Hütte stand... und hier ist die Mündung des Rio Torrida...

– Da... da... sagte der junge Indianer, indem er die Fingerspitze auf die Karte setzte.

– Ganz recht... genau da, Gomo. Doch jetzt pass' auf; ich werde dem Laufe des Rio in der Richtung nach Santa-Juana folgen, und Du machst mich aufmerksam, wenn ich dabei einen Fehler begehe.«

Jacques Helloch ließ nun, schräg nach Nordosten zu und indem er dem Fuße der Sierra Parima gegen fünfzig Kilometer weit nachging, den Finger über die Landkarte gleiten. Darauf zeichnete er mit Bleistift ein Kreuz ein und sagte:

»Hier muß die Mission doch liegen?...

– Ja wohl... eben da.

– Und der Rio Torrida fließt von dieser Stelle aus herunter?[350]

– Ja... ganz wie es hier angegeben ist.

– Kommt er nicht eigentlich von weiter oben her?

– Gewiß, von weiter oben; wir sind zuweilen bis da hinauf gekommen.

– Santa-Juana liegt demnach an seinem linken Ufer?

– Wie Sie sagen.

– Dann werden wir also den Rio noch überschreiten müssen, da wir uns jetzt auf dessen rechten Ufer befinden.

– Das wird nöthig sein... es geht aber ganz leicht.

– Wie denn?

– Ja... etwas weiter stromauf ist eine Uebergangsstelle mit großen Steinen im Flußbett, über die man bei niedrigem Wasser bequem gehen kann... eine Furt, die die Furt von Frascaes genannt wird.

– Du kennst die Stelle?

– Ja, Herr Helloch; und ehe die Sonne im Mittag steht, werden wir sie erreicht haben.«

Die Antworten des jungen Indianers lauteten bezüglich der Uebergangsstelle so bestimmt, weil er selbst wiederholt ebenda den Fluß überschritten hatte.

Seine Aufschlüsse waren freilich dazu angethan, Jacques Helloch recht ernsthaft zu beunruhigen. Gestattete es die Furt von Frascaes seiner Gesellschaft, über den Fluß nach dem linken Ufer zu gelangen, so konnten auch die Quivas nach dem rechten Ufer herüberkommen. Jacques Helloch und seine Gefährten sollten also nicht bis zur Höhe der Mission den natürlichen Schutz durch den Rio genießen.

Die Verhältnisse verschlimmerten sich hierdurch nicht wenig. Dennoch war das kein Grund zur Umkehr, da die Möglichkeit eines Ueberfalles damit auch nicht abgewendet gewesen wäre. Erst in Santa-Juana befand sich die kleine Truppe in Sicherheit... in Santa-Juana mußte sie vor Ablauf von vierundzwanzig Stunden ankommen.

»Und Du meinst, fragte Jacques Helloch zum Schluß, daß wir die Furt von Frascaes schon gegen Mittag erreichen könnten?

– Gewiß... wenn wir sofort aufbrechen!«

Die Strecke, die das Lager von der Furt trennte, mochte etwa ein Dutzend Kilometer betragen, und da einmal beschlossen war, einen beschleunigten Schritt in der Hoffnung einzuschlagen, noch diese Nacht am Ziele zu sein, konnte es nicht schwer sein, die Furt vor der ersten kurzen Rast zu überschreiten.[351]

Jetzt hieß es also: Unverzüglich vorwärts! Alles war bereit; die Säcke auf den Schultern der beiden Bootsleute, die Decken zusammengerollt auf dem


 »Da... da..« sagte der junge Indianer. (S. 350.)
»Da... da..« sagte der junge Indianer. (S. 350.)

Rücken der Reisenden, die Botanisiertrommel Germain Paterne's am Riemen und die Waffen schußfertig.

»Sie denken, Herr Helloch, fragte der Sergeant Martial, daß es möglich sein wird, in zehn bis zwölf Stunden nach Santa-Juana zu gelangen?

– Das glaub' ich, wenn Sie die Beine, die nachher ausruhen können jetzt ordentlich rühren.


Valdez wurde unter einer Gruppe laut kreischender Quivas sichtbar. (S. 362.)
Valdez wurde unter einer Gruppe laut kreischender Quivas sichtbar. (S. 362.)

– O, an mir soll's nicht fehlen, Herr Helloch. Doch wird er es im Stande sein... er... Jean?

– Ihr Neffe, Sergeant Martial? fiel Germain Paterne ein. Ach, ich bitte Sie, der überholt uns im Wettlaufe! Man sieht es ja, daß er eine gute Schule genossen hat! Sie haben ihm Soldatenbeine gemacht, und er hat einen Turnerschritt!«

Bisher wußte Gomo noch nicht, welches Band einer – angeblichen – Verwandtschaft den Sohn des Oberst von Kermor mit dem Sergeanten Martial verknüpfte. Jetzt sah er den letztere scharf an.

»Sie sind sein Onkel?

– Nun ja... so ein wenig, Kleiner!

– Also der Bruder seines Vaters?

– Sein leibhaftiger Bruder, und daher kommt es auch, daß Jean mein Neffe ist, begreifst Du das?«

Der Knabe neigte den Kopf, als Zeichen, daß er ihn verstanden habe.

Das Wetter war recht trübe. Tief unten zogen, von einem Nordostwinde getrieben, regendrohende Wolken über den Himmel. Unter dem grauen Schleier verschwand der Gipfel der Sierra Parima vollständig und auch nach Süden hin war die Spitze des Pic Maunoir durch die Bäume nicht mehr zu sehen.

Jacques Helloch warf einen unruhigen Blick nach der Seite des Horizontes, von der der Wind herkam. Nach den ersten Strahlen beim Aufgang der Sonne hatte sich der Himmel schnell mit sich ansammelnden Dunstmassen überzogen, die beim Aufsteigen nur noch dichter wurden. Kam es jetzt zu einem jener heftigen Regengüsse, die so häufig die südlichen Savannen überfluthen, so mußte das Fortkommen der kleinen Gesellschaft verlangsamt werden und es wurde dann schwierig, Santa-Juana vor dem nächsten Tage zu erreichen.

Die kleine Truppe folgte nun wieder dem Pfade zwischen dem Rio und dem Rande des undurchdringlichen Waldes, wobei die gestrige Reihenfolge – mit dem Schiffer Valdez und Jacques Helloch an der Spitze – eingehalten wurde. Beide hatten zum letzten Male das gegenüberliegende Ufer betrachtet. Es war gänzlich verlassen, verlassen auch die Baumdickichte, die sich nach links hin ausdehnten. Kein lebendes Wesen war zu sehen, außer der lauten Welt der Vögel, deren Gesang die aufsteigende Sonne – unter Begleitung der gräßlichen Heulaffen – begrüßte. Alle klammerten sich an die Hoffnung, gegen Mitternacht die Mission zu erreichen, was freilich nur durch einen beschleunigten Marsch[355] – der höchstens zu Mittag von einer kurzen Rast unterbrochen wurde – möglich war. Es hieß also tüchtig ausschreiten, und jeder that das auch ohne Murren. Bei dem von Dünsten verschleierten Himmel erreichte die Wärme keine belästigend hohen Grade, und das war ein Glück, da das Ufer von keinem Baum beschattet wurde. Von Zeit zu Zeit drehte sich Jacques Helloch, den eine innere Unruhe verzehrte, einmal um und sagte:

»Wir gehen doch nicht zu schnell für Sie, lieber Jean?

– O nein, Herr Helloch, nein, erhielt er dann zur Antwort. Aengstigen Sie sich nicht um mich und auch nicht um meinen Freund Gomo, der die Füße eines Hirsches zu haben scheint.

– Herr Jean, erklärte dazu Gomo, wenn es nöthig wäre, könnte ich noch vor heut' Abend in Santa-Juana sein.

– Alle Wetter... was Du für ein Schnellläufer bist!« rief Germain Paterne, der keine solche Schnelligkeit entwickeln konnte und zuweilen hinter den Andern zurückblieb.

Jacques Helloch nahm darauf freilich keine besondre Rücksicht, sondern rief und trieb ihn fortwährend an:

»Vorwärts, Germain, Du kommst ins Hintertreffen!«

Dann erwiderte der andre:

»O, eine Stunde mehr oder weniger, das macht uns doch nichts aus!

– Weißt Du das so bestimmt?«

Da das Germain Paterne aber nicht wußte, mußte er wohl oder übel gehorchen und that denn das auch nach Kräften.

Einen Augenblick lang hatte sich Jacques Helloch mit der letzten Antwort des jungen Indianers beschäftigt: »vor dem Abend – hatte Gomo behauptet – könnte ich noch in Santa-Juana sein«.

Gomo verpflichtete sich also, binnen sechs bis sieben Stunden die Mission von Santa-Juana zu erreichen. War das nicht ein Umstand, aus dem Vortheil zu ziehen wäre?...

Unterwegs machte Jacques Helloch auch Valdez Mittheilung von dieser Antwort.

»Ja, in sechs bis sieben Stunden, sagte er, könnte der Pater Esperante unterrichtet sein, daß unsre kleine Gesellschaft auf dem Wege nach Santa-Juana ist. Er würde gewiß nicht zögern, uns Verstärkung entgegen zu schicken. Vielleicht käme er gar selbst...[356]

– Höchst wahrscheinlich, meinte Valdez; doch wenn wir dieses Kind gehen lassen, berauben wir uns des einzigen Führers, und den, glaub' ich, können wir nicht entbehren, da er allein das Land hier kennt.

– Sie haben Recht, Valdez, Gomo ist uns nothwendig, und vorzüglich, wenn wir an die Furt von Frascaes kommen.

– Da werden wir gegen Mittag sein; haben wir dann die Furt hinter uns, so werden wir ja sehen...

– Ja wohl, da wird sich's ja zeigen, Valdez. Vielleicht droht uns Gefahr gerade an jener Uebergangsstelle.«

Wer hätte sagen können, ob Jacques Helloch und seine Gefährten nicht schon, bevor sie diese erreich ten, von Gefahren bedroht würden? Nachdem Jorres das Lager am rechten Ufer des Rio Torrida ausgespäht hatte, konnte er da nicht mit der Alfaniz'schen Bande am linken Ufer des Flusses hinausgezogen sein? Da die Quivas einen Vorsprung von mehreren Stunden hatten, war es ja möglich, daß sie die Furt von Frascaes bereits überschritten hatten. Jetzt zogen sie vielleicht am rechten Ufer des Flusses hinunter, um die kleine Truppe zu überfallen. Eine solche Annahme war ja nicht auszuschließen. Als sich jedoch Valdez um neun Uhr einige Schritte weiter vorgewagt hatte, konnte er bei seiner Rückkehr zu den Uebrigen versichern, daß der Weg frei zu sein scheine. Auch am jenseitigen Ufer verrieth nichts die Anwesenheit der Quivas.

Jacques Helloch wollte nun an der jetzt erreichten Stelle Halt machen, nachdem er Gomo gefragt hatte:

»Wie weit sind wir wohl noch von der Furt entfernt?

– Etwa zwei Wegstunden, antwortete der junge Indianer, der Entfernungen nicht anders als nach der Zeit, in der sie zurückgelegt werden konnten, zu schätzen gewohnt war.

– So wollen wir ein wenig ruhen, rief Jacques Helloch, und schnell etwas von unserm Mundvorrath frühstücken. Ein Feuer anzuzünden ist ja nicht nöthig.«

In der That wäre man damit Gefahr gelaufen, seine Gegenwart zu verrathen... eine Rücksicht, deren Grund Jacques Helloch für sich behielt.

»Nur schnell, liebe Freunde, schnell, wiederholte er, nur eine Viertelstunde Rast!«

Das junge Mädchen durchschaute ihn recht gut. Jacques Helloch war von einer Unruhe gepeinigt, deren Ursache sie allerdings nicht kannte. Wohl hatte[357] sie davon reden hören, daß in der Gegend jetzt Quivas hausen sollten, auch wußte sie ja, daß Jorres verschwunden war; sie konnte aber nicht ahnen, daß der Spanier, wenn er an Bord der »Gallinetta« den Orinoco mit ihnen hinauffuhr, dies nur gethan hatte, um zu Alfaniz zu stoßen, ebensowenig daß zwischen dem aus Cayenne entwichenen Sträfling und ihm von langer Zeit her nähere Beziehungen bestanden. Mehr als einmal war sie nahe daran, zu sagen:

»Was bedrückt Sie denn eigentlich, Herr Helloch?«

Sie unterließ jedoch eine solche Frage, da sie sich auf die Intelligenz Jacques Helloch's, auf seinen Muth und seine Ergebenheit ebenso verließ, wie es auch gewiß sein Wunsch war, recht bald ans Ziel zu gelangen. Die kalte Mahlzeit wurde schnell beendet. Germain Paterne, der sie gern verlängert gesehen hätte, machte gute Miene zum bösen Spiel – es blieb ihm ja kein andrer Ausweg übrig. Ein Viertel auf zehn Uhr wurden die Säcke wieder geschlossen und aufgenommen, und nochmals ging es in der frühern Ordnung weiter.

Wenn der Wald sich am rechten Ufer des Rio Torrida ohne Unterbrechung fortsetzte, so bot das linke Ufer jetzt einen davon sehr abweichenden Anblick. Die Bäume standen dort nur noch in einzelnen über die Ilanos verstreuten Gruppen zusammen, und zwischen ihnen sproßte üppiges Gras, womit die Abhänge der Sierra überhaupt bis zum Gipfel bedeckt waren.

Das jenseitige Ufer hatte sich dagegen so gesenkt, daß es fast im gleichen Niveau mit dem Rio verlief. Hier war es also möglich, eine große Strecke der von keinem Baumvorhang verhüllten Savanne zu überblicken. Während man die Sierra anfänglich im Nordosten gehabt hatte, lag diese seit dem gestrigen Abend fast im Süden.

Jacques Helloch und Valdez behielten das andre Ufer unausgesetzt scharf im Auge, ohne deshalb das zu vernachlässigen, auf dem sie selbst hinzogen.

Noch immer war nichts Verdächtiges zu sehen.

Vielleicht hatten sich die Quivas an der Furt von Frascaes in den Hinterhalt gelegt?...

Gegen ein Uhr mittags wies Gomo nach einer wenige hundert Schritt entfernten Biegung des Rio hin, der sich da mehr nach Osten wandte und unter nackten Felsmassen verschwand.

»Dort ist es, sagte er.

– Dort?« wiederholte Jacques Helloch, der den Uebrigen ein Zeichen gab, stehen zu bleiben.[358]

Er selbst ging etwas weiter vorwärts, um den Lauf des Rio Torrida übersehen zu können, und überzeugte sich, daß sein Bett an dieser Stelle von Steinen und Sandflächen halb angefüllt war, zwischen denen sich nur dünne, leicht zu überschreitende Wasserfäden hinzogen.

»Wollen Sie, daß ich vorausgehe und die Furt an beiden Ufern besichtige? fragte Valdez.

– Ja, thun Sie das, Valdez, doch wagen Sie sich aus Vorsicht nicht bis zum andern Ufer hinüber und kommen sogleich zurück, wenn Sie den Weg frei gefunden haben.«

Valdez ging sofort und war schon nach wenigen Minuten bei der Biegung des Torrida verschwunden.

Jacques Helloch, Jean, der Sergeant Martial, Gomo und die Träger blieben in dicht geschlossener Gruppe nahe dem Ufer stehen. Germain Paterne hatte sich niedergesetzt.

So sehr er sich sonst zu beherrschen verstand, konnte Jacques Helloch seine trüben Ahnungen jetzt doch nicht verbergen.

Da fragte Gomo:

»Warum gehen wir nicht weiter?

– Ja, warum? setzte Jean hinzu. Und warum ist Valdez jetzt vorausgegangen?«

Jacques Helloch gab keine Antwort. Er entfernte sich selbst von der Gruppe und ging einige Schritte nach dem Rio zu, um das andre Ufer genauer sehen zu können.

Fünf Minuten verstrichen... solche Minuten, die einem wie ebensoviele Stunden erscheinen.


 »Dort ist es,« sagte der junge Indianer. (S. 358.)
»Dort ist es,« sagte der junge Indianer. (S. 358.)

Jeanne war zu Jacques Helloch gegangen.

»Warum kommt denn Valdez nicht zurück? fragte sie, indem sie in seinen Augen zu lesen versuchte.

– Er kann ja nicht mehr lange ausbleiben,« begnügte sich Jacques Helloch zu antworten.

Fünf Minuten, noch weitere fünf Minuten vergingen... niemand sprach ein Wort.

Valdez hätte nun zum Hin- und Rückwege gewiß Zeit genug gehabt, und doch erschien er nicht wieder.

Man hatte keinen Hilferuf vernommen, überhaupt nichts, was einen hätte erschrecken können.[359]

Jacques Helloch gelang es, die Andern sich noch einmal fünf Minuten gedulden zu lassen. Gewiß bot es ja nicht mehr Gefahr, bis zur Furt von Frascaes zu gehen, als hier auf der Stelle zu verweilen oder ganz wieder umzukehren. Sollte die kleine Gesellschaft angegriffen werden, so war das stromaufwärts ebenso wie stromabwärts zu befürchten.

»Weiter, weiter!« sagte endlich Jacques Helloch.

Er setzte sich an die Spitze und seine Gefährten folgten ihm, ohne noch eine Frage an ihn zu richten. So gingen sie gegen dreihundert Schritt weit[360] am steilen Ufer hin und gelangten damit an die Biegung des Rio Torrida wo sie nach der Furt von Frascaes hinuntersteigen sollten.

Fünf Schritte vor den Uebrigen ließ sich der junge Indianer hinabgleiten und betrat schon die ersten, vom Wasser benetzten Steine.


 »Pater Esperante!...« rief der junge Indianer. (S. 373.)
»Pater Esperante!...« rief der junge Indianer. (S. 373.)

Da erhob sich plötzlich ein entsetzliches Geschrei auf dem linken Ufer, nach dem Jacques Helloch und seine Gefährten eben hinübergehen wollten.

Etwa hundert Quivas liefen von allen Seiten herbei und stürzten sich, die Waffen schwingend und drohende Rufe ausstoßend, auf die Furt zu.[361]

Jacques Helloch fand gar nicht die Zeit, sich durch Gewehrschüsse zu vertheidigen, und was hätte auch seine Flinte, sowie die Germain Paterne's und des Sergeanten Martial, was hätten die Revolver der Bootsleute gegen hundert bewaffnete Feinde, die die Furt besetzt hielten und sie sperrten, auch auszurichten vermocht?

Urplötzlich von dem Raubgesindel umringt, gab es für Jacques Helloch und seine Gefährten gar keine Möglichkeit, diesen Angriff abzuwehren.

Im nämlichen Augenblick wurde Valdez unter einer Gruppe laut kreischender Quivas sichtbar.

»Valdez! rief ihm Jacques Helloch zu.

– Die Schurken haben mich in einer Vertiefung des Bodens gefangen, antwortete der Führer der »Gallinetta«.

– Mit wem haben wir's eigentlich zu thun? fragte Germain Paterne.

– Mit der Rotte der Quivas, erwiderte Valdez.

– Und mit ihrem Anführer!« setzte eine drohende Stimme hinzu.

Dicht am Ufer stand jetzt ein Mann und neben ihm drei Individuen, die offenbar keinem Indianerstamme angehörten.

»Jorres! entfuhr es Jacques Helloch's Lippen.

– Nennt mich bei meinem richtigen Namen... Alfaniz!

– Alfaniz!« wiederholte der Sergeant Martial.

Vor Schreck erstarrt, richteten Jacques Helloch und Martial die Blicke unwillkürlich auf die Tochter des Oberst von Kermor.

– – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –

Jorres war also Alfaniz, der mit noch drei Sträflingen, seinen jetzigen Spießgesellen, aus dem Bagno von Cayenne entsprungen war.

Seitdem er sich an Stelle ihres Häuptlings Meta Serrapia, der in einem Scharmützel mit der staatlichen Miliz gefallen war, an die Spitze der Quivas gesetzt hatte, zog der Spanier – seit etwa einem Jahre – mordend und plündernd durch die weite Savanne.

Fünf Monate vorher hatten die Quivas, wie früher erwähnt, beschlossen, nach den Gebieten im Westen des Orinoco zurückzukehren, von wo sie durch columbische Truppen vertrieben worden waren. Ehe sie jedoch das Bergland des Roraima verließen, wollte ihr neuer Führer noch einmal diese (die linke) Seite des Stromes absuchen. Er verließ zeitweilig die Bande, ging längs der Ilanos bis nach San-Fernando de Atabapo hinunter und kam dabei auch durch den[362] Rancho von Carida, wo Herr Manuel Assomption mit vollem Rechte behauptete, ihn schon damals gesehen zu haben. In San-Fernando wartete er grade auf eine Gelegenheit, nach den Quellen des Orinoco zurückzukehren, als die Piroguen »Gallinetta« und »Moriche« sich zur Abfahrt nach der Mission von Santa-Juana rüsteten.

Alfaniz – der gewöhnlich den Namen Jorres führte – bot unter dem Vorwande, sich ebenfalls nach der Mission begeben zu wollen, dem Schiffer der »Gallinetta«, der seine Mannschaft vervollständigen mußte, seine Dienste an, und wurde, wie wir wissen, angenommen – angenommen zum Unheil für die, die sich nach dem Oberlaufe des Stromes hinauswagen wollten.

Sobald sich Alfaniz dann mit den Quivas wieder vereinigt hatte, wollte er endlich der Rache, die er dem Oberst von Kermor geschworen hatte, Genüge leisten.

Er hatte ja gehört, daß der mit dem Sergeanten Martial auf der »Gallinetta« reisende junge Mann im Begriff stand, seinen Vater zu suchen, dessen Aussagen vor dem Criminalgerichtshofe der Untern Loire seine Verurtheilung zu lebenslanger Zwangsarbeit und seine Verschickung nach dem Bagno von Cayenne herbeigeführt hatten.

Jetzt oder niemals bot sich die unerwartete Gelegenheit, den jungen Mann und mit ihm vielleicht auch den Sergeanten Martial abzufangen, wenn es möglich war, sie auf dem Landwege nach der Mission zu überraschen – die Gelegenheit, an Stelle des Vaters wenigstens an dem Sohne Rache zu nehmen.

Das Weitere ist bekannt. Nachdem Alfaniz in der Nacht, die er am Sitio von Yaname auf dem Lande zubrachte, einen Genossen getroffen hatte, war er nach der Ankunft der Piroguen bei dem spätern Lager am Pic Maunoir entflohen.

Nach Ermordung des Vaters Gomos, weil dieser ihm nicht als Führer dienen wollte, war er dann am Rio Torrida hinauf und über die Furt von Frascaes gegangen und hatte die Bande der Quivas dort im Walde gefunden.

Jetzt, wo Jacques Helloch und dessen Gefährten in seiner Gewalt waren, gedachte sich der Elende auch der Piroguen an ihrem Halteplatz auf dem Orinoco zu bemächtigen.

Der Sohn oder vielmehr die Tochter des Oberst von Kermor war nun in seiner Hand.[363]

Quelle:
Jules Verne: Der stolze Orinoko. Bekannte und unbekannte Welten. Abenteuerliche Reisen von Julius Verne, Band LXXIII–LXXIV, Wien, Pest, Leipzig 1899, S. 347-353,355-364.
Lizenz:

Buchempfehlung

Hoffmann von Fallersleben, August Heinrich

Deutsche Lieder aus der Schweiz

Deutsche Lieder aus der Schweiz

»In der jetzigen Zeit, nicht der Völkerwanderung nach Außen, sondern der Völkerregungen nach Innen, wo Welttheile einander bewegen und ein Land um das andre zum Vaterlande reift, wird auch der Dichter mit fortgezogen und wenigstens das Herz will mit schlagen helfen. Wahrlich! man kann nicht anders, und ich achte keinen Mann, der sich jetzo blos der Kunst zuwendet, ohne die Kunst selbst gegen die Zeit zu kehren.« schreibt Jean Paul in dem der Ausgabe vorangestellten Motto. Eines der rund einhundert Lieder, die Hoffmann von Fallersleben 1843 anonym herausgibt, wird zur deutschen Nationalhymne werden.

90 Seiten, 5.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Romantische Geschichten II. Zehn Erzählungen

Romantische Geschichten II. Zehn Erzählungen

Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Michael Holzinger hat für den zweiten Band eine weitere Sammlung von zehn romantischen Meistererzählungen zusammengestellt.

428 Seiten, 16.80 Euro

Ansehen bei Amazon