Eis

[260] Eis, gefrorenes Wasser, kommt in der Natur in den mannigfachsten Modifikationen vor. Indessen ist nach neueren Untersuchungen allen diesen verschiedenen Formen gemeinsam, daß jene Prismen, deren Querschnitt ein regelmäßiges Sechseck darstellt und die zuerst Kepler [1] als die Grundform der Schneeflocken erkannte, stets die Struktur des Eises bestimmen.

Für das Gletschereis, das sich durch seine Plastizität (Nachgiebigkeit gegen Druck bei entsprechender Sprödigkeit gegen Zug) sehr von dem an der Oberfläche von Gewässern entstehenden Eise unterscheidet, hat Emden [2] und für die Eisblumen an Fenstern hat Prinz [3] den Nachweis dieses Verhaltens geführt. Das sogenannte Grundeis scheint nur in geringem Maße wirklich auf dem Boden der Flüsse und Bäche sich zu bilden und zumeist nichts andres als jenes Treibeis zu sein [4], das unter gewissen Umständen, als Eisstoß, Stauungen und Ueberschwemmungen bewirkt [5]. Daß dem gefrierenden Wasser, ehe es zur Eisbildung kommt, eine die der stärksten Sprengmittel erreichende Ausdehnungsfähigkeit zuzusprechen ist, rührt von der Eigenschaft des Süßwassers her, bei + 4°C. sein Dichtemaximum zu erreichen; Meerwasser verhält sich wie jede andre Flüssigkeit. Als Baumaterial hat man das Eis wiederholt schon anzuwenden versucht [6]. Ueber die allgemeinen physikalischen Eigenschaften des festgewordenen Wassers orientiert, soweit ältere Forschung in Betracht kommt, ein Artikel von Horner [7], während Heß [8] den neuesten Standpunkt der einschlägigen Fragen kennzeichnet.

Eismeere nennt man die beiden großen Polarmeere deshalb, weil in ihnen stets schwimmendes Eis jeder Art vorgefunden wird, wobei jedoch arktisches und antarktisches Eis erhebliche morphographische Unterschiede erkennen lassen [9]. Man hat drei Arten schwimmenden Eises auseinander zu halten [10]: Hinausgeflößtes Süßwassereis in Gestalt dünner Tafeln; gefrorenes und beim Gefrierungsakte des Salzgehaltes beraubtes Seewassereis, aus dem die Eisfelder und das durch Pressung entstandene Packeis (Schraubeneis, Hummocks) sich zusammensetzen; endlich abgelöstes Gletschereis, identisch mit den oft pittoresk geformten und durch die Meeresströmungen oft in recht niedrige Breiten geführten Eisbergen. – Eislöcher oder Eiskeilen sind Geröllbildungen an schattigen Orten, in denen durch den Luftzug eine so intensive Verdunstungskälte erzeugt werden kann, daß sich Eisbildung zeigt. Anders verhält es sich mit den Eishöhlen oder Eisgrotten im engeren Sinne, unterirdischen Hohlräumen, deren Wände stellenweise mit dünner Eisrinde, häufig aber auch mit bizarren Zacken (Eisstalaktiten und Eisstalagniten) ausgekleidet sind. Höhleneis ist an der eigentümlichen Alveolarstruktur (Wabenbildung) erkennbar [11]. B. Schwalbe [12] nahm an, daß sich das durch die Felsritzen in das Innere der Höhlen einsickernde Lagerwasser derart überkühlt, um beim Austreten sofort in den festen Aggregatzustand überzugehen. Die Regel aber dürfte nach den Erfahrungen von Fugger und Crammer die sein [18], daß kühle Luft von außen in den meist sackartig nach unten sich erweiternden Hohlraum einsinkt und hier im Stagnieren unter den Gefrierpunkt erkaltet.


Literatur: [1] Kepler, Strena seu de nive sexangula, Frankfurt a. M. 1611. – [2] Emden, Ueber das Gletscherkorn, St. Gallen und München 1890. – [3] Prinz, Fleurs de glace, Brüssel 1895. – [4] Günther, Handbuch der Geophysik, Stuttgart 1899, Bd. 2, S. 542 ff. – [5] Penck, Morphologie der Erdoberfläche, Stuttgart 1894, Bd. 1, S. 267 ff. – [6] Krafft, Wahrhafftige und umständliche Beschreibung des im Jahre 1740 in St. Petersburg aufgerichteten merkwürdigen Hauses, St. Petersburg 1741. – [7] Gehlers Physikalisches Wörterbuch, neue Auflage, Leipzig 1827, Bd. 3, S. 99 ff. – [8] Heß, H., Die Gletscher, Braunschweig 1904. – [9] Weyprecht, Die Metamorphosen[260] des Polareises, Wien, Pest und Leipzig 1879; Fricker, Die Entstehung und Verbreitung des antarktischen Treibeises, Leipzig 1898. – [10] v. Boguslawski, Handbuch der Ozeanographie, Stuttgart 1883, Bd. 1, S. 358 ff. – [11] Lohmann, Ueber Höhleneis unter besonderer Berücksichtigung einiger Eishöhlen des Erzgebirges, Jena 1895. – [12] Schwalbe, B., Ueber Eishöhlen und Eislöcher, nebst einigen Bemerkungen über Ventarolen und niedrige Bodentemperaturen, Berlin 1886. – [13] Fugger, E., Eishöhlen und Windlöcher, Salzburg 1891–93; Crammer, H., Eishöhlen- und Windlöcherstudien, Wien 1899.

Günther.

Quelle:
Lueger, Otto: Lexikon der gesamten Technik und ihrer Hilfswissenschaften, Bd. 3 Stuttgart, Leipzig 1906., S. 260-261.
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