Kristallisationsgeschwindigkeit

[711] Kristallisationsgeschwindigkeit, die Geschwindigkeit, mit der ein Kristall wächst.

Aus der Tatsache, daß der Flächenreichtum der Kristalle von der Schnelligkeit der Kristallbildung abhängt, folgt, daß die verschiedenen Flächen nicht alle gleich schnell wachsen. Diese verschiedenen einzelnen Geschwindigkeiten sind bisher noch nicht gemessen, dagegen liegen eingehende Untersuchungen vor über die sogenannte »lineare Kristallisationsgeschwindigkeit«, d.h. die Geschwindigkeit, mit der die Kristallbildung in einer z.B. in einer Glasröhre befindlichen Flüssigkeit fortschreitet; hier wird also die größte der obengenannten verschiedenen Geschwindigkeiten gemessen. Nach den ersten Versuchen von D. Gernez und B. Moore hat besonders Tammann eingehende Studien hierüber angestellt. Hiernach steigt die lineare Kristallisationsgeschwindigkeit mit wachsender Unterkühlung zunächst an, erreicht ein Maximum, bleibt innerhalb eines größeren oder kleineren Intervalles konstant und sinkt bei sehr starker Unterkühlung wieder. Sinkt sie bis praktisch zu Null herab, so wird die Flüssigkeit glasig. Prinzipiell könnte man hiernach jede Substanz im glasig-amorphen Zustande erhalten, wenn man nur schnell und tief genug abkühlte; praktisch hat das jedoch seine Grenzen, doch konnte Tammann von 153 untersuchten, sehr verschiedenartigen Stoffen 59, also 38%, in den glasigen Zustand versetzen. Die maximale Kristallisationsgeschwindigkeit ist für verschiedene Stoffe sehr verschieden, sie beträgt z.B. für Phosphor 60000, für Azobenzol 600, Benzophenon 55, Salol 3 mm pro Minute. Die merkwürdige Abhängigkeit der Geschwindigkeit von der Temperatur ist nach Tammann folgendermaßen zu erklären. An der Grenze von Kristall und Flüssigkeit herrscht die Temperatur des Gefrierpunkts, die dieser Temperatur entsprechende Geschwindigkeit ist die maximale, die daher innerhalb weiterer Grenzen von der Unterkühlung unabhängig ist. Die Abnahme der Geschwindigkeit bei sehr schwacher Unterkühlung soll daher rühren, daß die Geschwindigkeit einmal durch die bei schwacher Unterkühlung sich bemerkbar machenden Verunreinigungen verkleinert wird, anderseits daher, daß die Anzahl der Kristallkeime noch sehr klein ist. Der Abfall der Geschwindigkeit bei sehr starker Unterkühlung wird dagegen dadurch herbeigeführt, daß hier die Schmelzwärme nicht ausreicht, um die Grenzfläche auf die Gefriertemperatur zu bringen. Die Kristallisationsgeschwindigkeit erscheint also durch die erwähnten Umstände gestört und von äußeren Umständen abhängig; die wahre, hiervon befreite Geschwindigkeit würde ebenso, wie alle andern Umwandlungsgeschwindigkeiten, etwa in der Form einer Exponentialfunktion mit sinkender Temperatur abnehmen. Kleine Verunreinigungen beeinflussen die Geschwindigkeit sehr stark. Da die Kristallisation der umgekehrte Vorgang wie die Auflösung ist, so wird auch hier wie dort die Diffusion eine maßgebende Rolle spielen.


Literatur: Tammann, G., Kristallisieren und Schmelzen. Leipzig 1903.

F. Krüger.

Quelle:
Lueger, Otto: Lexikon der gesamten Technik und ihrer Hilfswissenschaften, Bd. 5 Stuttgart, Leipzig 1907., S. 711.
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