Nitroglyzerin

[637] Nitroglyzerin, auch Trinitroglyzerin und Sprengöl, richtiger aber Glyzerindinitrat genannt, wurde zuerst im Jahre 1847 von Sobrero durch Einwirkenlassen von höchstkonzentrierter Salpetersäure bezw. Nitrinsäure auf Glyzerin erhalten, aber erst zwei Dezennien später von Alfred Nobel in die Sprengtechnik eingeführt. Das zu seiner Herstellung im Großbetrieb bisher gebräuchliche Verfahren[637] ist in der neuesten Zeit von Nathan, Thomson und Rintoul wesentlich verbessert worden, und es findet sich eine von G. Lunge herrührende genaue Beschreibung der neuen Arbeitsweise nebst Abbildung der Apparatur in [1].

Das Glyzerintrinitrat, dessen Zusammensetzung durch die Formel C3H5(ONO2)3 ausgedrückt wird, stellt im reinen Zustand ein farbloses, in Wasser unlösliches Oel von 1,60 spez. Gew. dar, welches bei einer Temperatur von +12°, bezw. +2° erstarrt. Das Auftauen größerer Mengen geht nur sehr allmählich vonstatten, und es ist zu beachten, daß die in der Verflüssigung begriffene Kristallmasse weit empfindlicher gegen Stoß oder Schlag ist als die festen Kristalle oder als das flüssige Produkt. Verdünnte Säuren und wässerige Alkalien wirken auf das Glyzerintrinitrat bei gewöhnlicher Temperatur nicht ein, wogegen es von alkoholischer Kali- oder Natronlösung sowie von Reduktionsmitteln energisch angegriffen wird. In kleineren Mengen an der Luft entzündet, brennt es sehr lebhaft, jedoch ohne zu explodieren, ab; bei raschem Erhitzen auf 180° sowie wenn es von einem Stoß oder Schlag getroffen wird, insbesondere aber wenn es eine Molekularerschütterung erleidet, zerfällt es beinahe momentan durch die ganze Masse hindurch unter ausschließlicher Bildung von Kohlensäure, Wasserdampf, Stick- und Sauerstoffgas im Sinn der Gleichung 2C3H5(ONO2)3 = 6CO2 + 3N2 + 5H2O + O. Mit diesem Vorgang ist eine beträchtliche Wärmeentwicklung und das Auftreten eines Gasdrucks, welcher bis zu 18000 Atmosphären betragen kann, verknüpft.

Wegen seiner flüssigen Beschaffenheit und seiner großen Gefährlichkeit eignet sich das Nitroglyzerin im unvermischten Zustand nicht zur sprengtechnischen Verwendung und ist es auch vom Eisenbahntransport ausgeschlossen. Ueber die Art und Weise, nach welcher es sich in gefahrlos zu handhabende und doch kräftig wirkende Sprengpräparate umwandeln läßt, s. Sprengstoffe und Geschoßtreibmittel.

Die Produktion an Nitroglyzerin, das in fast allen Ländern der Erde in mehr oder weniger großem Maßstab fabriziert wird, ist nicht genau bekannt; sie beträgt jedoch mehrere Millionen Kilogramm pro Jahr. Ein allerdings nur minimaler Teil derselben soll mit Zucker u.s.w. zu Tabletten geformt als Heilmittel gegen Neuralgie u.s.w. Verwendung finden.

Neben dem Trinitroglyzerin spielt seit kurzem auch das sogenannte Dinitroglyzerin oder richtiger Glyzerindinitrat (C3H5OH(ONO2)2) eine Rolle in der Technik, weil es, ohne dem Trinitroglyzerin erheblich an Sprengkraft nachzustehen, diesem gegenüber eine Reihe von Vorzügen besitzt, unter welchen insbesondere seine geringere Empfindlichkeit gegen Stoß und Schlag, seine Ungefrierbarkeit selbst in arktischen Regionen sowie sein großes Lösungsvermögen für Kollodiumwolle zu nennen sind. Nach den bis jetzt vorliegenden Erfahrungen ist man zu der Annahme berechtigt, daß das Dinitrat mit der Zeit das gefährlichere Trinitrat in vielen Fällen verdrängen wird. Das Glyzerindinitrat läßt sich sowohl durch Einwirkung von Salpetersäure bestimmter Konzentration auf Glyzerin (Mikolajczak) als auch nach dem Verfahren des D.R.P. Nr. 175751 durch partielle Hydrolyse des Trinitrats mittels mäßigstarker Schwefelsäure gewinnen und stellt im reinen Zustand ein im Gegensatz zum Trinitrat in Wasser leicht lösliches Oel dar.

Außer dem Tri- und Dinitrat kommen in untergeordneten Mengen auch Nitrate von Polyglyzerinen sowie Mono- und Dinitrochlorhydrine (des Glyzerins) als Mittel zur Herabsetzung des Gefrierpunkts des gewöhnlichen Nitroglyzerins zur Verwendung, und diese Präparate sind dem da und dort zum gleichen Zweck benutzten Orthonitrotoluol u.s.w. entschieden vorzuziehen.


Literatur: [1] Zeitschr. für das gesamte Schieß- u. Sprengstoffwesen, München; Guttmann, O., Schieß- und Sprengmittel, Braunschweig 1900; Daniel, Dictionnaire des poudres et explosives, Paris 1902.

Häußermann.

Quelle:
Lueger, Otto: Lexikon der gesamten Technik und ihrer Hilfswissenschaften, Bd. 6 Stuttgart, Leipzig 1908., S. 637-638.
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