3. Kapitel.

Die Gewinnung des Feuers und der Sonne.

[91] Zu den rätselhaften Dingen, die den menschlichen Geist von je her beschäftigt haben, gehört das Feuer. Ein so seltsames, ewig bewegliches, bald sichtbares, bald unsichtbares, heute wohltätiges und morgen verderbliches Doppelwesen – woher mag es gekommen sein? Wer brachte es der Menschheit? Mehr als eine Antwort ließ sich erdenken. Wer das unterirdische Feuer der Vulkane kannte, der gelangte – wie ein späterer Band zeigen wird – zu dem Glauben, daß ein furchtloser Kulturheros den Weg in das Erdinnere gewagt und von dort einen Feuerbrand in diese Welt emporgetragen habe. Wer durch Reiben zweier Hölzer oder durch Schlagen von Steinen Feuer erzeugt hatte, fand eine geheimnisvolle Deutung, wie dieses Feuer in das Holz oder den Stein gelangt sei. (Vgl. vorläufig Bd. 1, 142 ff. 147.) Wer zu der wärmenden, alleuchtenden Sonne hinaufsah, der erblickte in ihr den Hauptsitz des Feuers. Von hier aus mußte es zur Erde herabgekommen sein. Himmlisches und irdisches Feuer schienen einander so ähnlich und verwandt, daß sie in manchen Sprachen nur einen gemeinsamen Namen haben. Als Träger dieses himmlischen Feuers konnten für den einfachen Naturmenschen nur die beschwingten Vermittler zwischen Himmel und Erde, die Vögel, in Betracht kommen. Eine solche Vorstellung ist weit älter als die eines Prometheus. Wie viele Güter verdankte doch die Menschheit den Tieren! Waffen und Gerät, Kleidung und Schmuck und was sonst die Not, der Nutzen und die Freude am Genuß ihnen abgewann. Warum nicht auch das Feuer? Aber außer den Vögeln ließen sich ebensogut schnelle Tiere, wie der Hirsch, oder schlaue, wie der sagenberühmte Präriewolf, als Feuerholer denken, sobald nur ein anderer Feuerort als die Sonne angenommen wurde.

Wie das Feuer, so ist auch die Sonne in vielen Sagen als anfänglich nicht vorhanden gedacht, auch sie muß erst geholt und am Himmel aufgehängt werden. Das entspricht der einfachen Beobachtung, daß sie tagtäglich aus dem Verstecke der Nacht gleichsam befreit zu den Menschen kommt. Man folgerte daraus, daß es einst eine Zeit gab, wo sie ewig im Verstecke ruhte, im bezwingenden Dunkel eines Behälters, in dem sie fest verschlossen war. Und aus der Frage, wie sie daraus hervorgebracht worden sei, ergab sich eine ganze Anzahl naturdeutender Fabeleien. Hier und da hören wir auch die Auffassung, daß die befreite Sonne jeden Abend wieder in den Behälter zurückgelegt wird, aus dem sie genommen war.

Wir haben es in diesem Bande nur mit solchen Sagen zu tun, in denen Tiere das Feuer oder die Sonne erlangen.

Quelle:
Dähnhardt, Oskar: Natursagen. Eine Samlung naturdeutender Sagen, Märchen, Fabeln und Legenden, 4 Bände, Leipzig/Berlin, 1907-1912, S. 91-92.
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