C. Die westasiatisch-europäische Gruppe.

a) Fuchs und Krebs.

[78] 47. Syrisches Märchen in einer neuaramäischen Handschrift.


[E1] [Fuchs und Krebs beschließen gemeinschaftlich zu pflügen. Der Fuchs befiehlt dem Krebs:] »Nimm du den Krümmel und das Joch.« Da fragte ihn der Krebs: »Was wirst du denn tragen?« – »Ich werde,« antwortete der Fuchs, »den Jochstift tragen und den Stift und den Stift vom Stift.« Das ist aber alles ein und dasselbe. So ließ der Fuchs durch seine Verschlagenheit die Dinge als viele erscheinen. Der Krebs war mit dieser Abmachung einverstanden, und es verstrich die Zeit bis zur Zeit der Tenne. Da droschen sie ihr Getreide und worfelten es. Das Stroh kam auf die eine Seite und das Getreide auf die andere. [E2] Da sagte der Fuchs zum Krebs: »Auf welche Weise willst du, d aß wir teilen sollen?« – »Wie du willst,« antwortete der Krebs. – [A2 entstellt] »Dann wollen wir,« meinte der Fuchs, »das Getreide auf die eine Seite tun und das Stroh auf die andere, dann auf die Seite der Tenne treten und zum Getreide und Stroh hinlaufen. [A3] Das, zu dem ein jeder gelangt, gehört ihm.« – »Du hast gut gesprochen,« sagte der Krebs. Der Fuchs sah den Krebs an und dachte sich: Der ist blind; bevor er sich rührt, bin ich bereits am Getreidehaufen angekommen. Dann sprach er: »Laßt uns laufen!« [G] Der Krebs hängt sich unbemerkt an seinen Schwanz. Als nun der Fuchs noch fern (?!) vom Getreide war, [B3] warf sich der Krebs auf den Haufen und rief, [E4] [wie wenn er mit sich spräche:]* »Der fünfzehnte Scheffel ist dein, da nimm auch den sechzehnten.« Der Fuchs ging beschämt mit dem Stroh nach Hause; der Krebs aber nahm das Getreide.1


  • Literatur: Lidzbarski, Die neuaramäischen Handschriften der Königl. Bibliothek zu Berlin 2, 91. Die mit Sternchen bezeichnete Stelle ist verderbt und wohl so, wie oben, zu lesen; vgl. den Schluß von Nr. 26, 28, 30.

48. Armenische Überlieferung.


a) Text bei Vartan, Nr. 8 (13. Jahrh.).


Im wesentlichen gleich dem folgenden; siehe die französ. übers. bei [J. Saint-Martin] Choix de fables de Vartan. Paris 1825, S. 15.


b) Text bei Olympianos, Nr. 22.


[E1] Der Fuchs und der Krebs wurden Brüder und machten eine Aussaat und ernteten, und wie sie gedroschen, errichteten sie Haufen. [A2 entstellt] Es sagt der Fuchs: »Wir wollen auf diese Hügel gehen, und [A3] wer schneller hinuntersteigt (bei Vartan genauer: wer am schnellsten in der Tenne anlangt, oder: sich setzt), der nimmt das Korn.« Als sie gingen, sagt der Krebs: »Tue mir einen Gefallen, und wenn du laufen willst, schlage den Schwanz vor mir nieder, damit ich[78] es weiß und hinter dir hergehe.« Es schlug der Fuchs den Schwanz nieder und lief; [G] und der Krebs klammerte sich in den Schwanz des Fuchses; und wie der Fuchs zu dem Haufen ankam und sich hinterwärts umkehrte, wo der Krebs sei, da fiel der Krebs an den Boden auf den Haufen [E4] und sagte: »Im Namen Gottes, das sind mir drei Modii und ein halber.« [B3] Es verwunderte sich der Fuchs und sagte: »O du Böser, wann kamst du hierher?«


  • Literatur: Wilhelm Roths Leben und Erstlingsschriften S. 76.

49. Aus Lesbos.


[E] Fuchs und Krebs (crabe, also eigentlich Taschenkrebs) haben Getreide, das sie zusammen geerntet haben, gemeinsam gedroschen und das Korn inmitten der Scheuer aufgehäuft, um es zu teilen. [A] Der Fuchs, der die ganze Ernte allein haben möchte, schlägt einen Wettlauf vor: der Sieger soll das Korn erhalten. Der Krebs ist einverstanden, doch ehe er nicht »Vorwärts!« gerufen habe, soll der Fuchs nicht losrennen. [G] Er hängt sich an dessen Schwanz und gibt das Zeichen. [B3] Am Ziel dreht sich der Fuchs nach ihm um, und der Krebs ruft: »Hier bin ich!«


  • Literatur: G. Georgeakis et L. Pineau, Le Folklore de Lesbos, p. 95.

50. Serbisches Märchen aus Bosnien.


[A1] Der Fuchs spottet des rückwärts schreitenden Krebses. [A2] Der Krebs bietet den Wettlauf an und [G] kneift sich in den Schwanz des Fuchses fest. [B3] Am Ziel wendet sich der Fuchs um, der Krebs macht sich los »und steht vor dem Fuchs«. [B4] Wiederholung des Laufes »einige zwanzigmal«, bis der Fuchs tot hinfällt.

[B5] Hierauf zerrt ihn der Krebs mit der Krebsin in den Bach, den Kindern zum Fräße, und frohlockt:


Gescheidter ein pfiffiges Köpfchen, als ein flinkes Füßchen.


  • Literatur: Krauß, Am Urquell 3, 214.

51a. Aus Italien.


Antonio Cornazano (geb. um 1430 in Piacenza) erzählt das Märchen in den Proverbii in facetie (1518), Nr. 8:


[A] Der Fuchs höhnt den trägen Krebs, der am Wasserrande »mehr zurück als vorwärts« spazieren geht, und [A2 entstellt!] schlägt einen Wettlauf vor. Der Krebs gibt ihm eine ganze Körperlänge vor und sagt: »Laufe er nicht früher ab, als bis ich es sage«. [G] Dann hängt er sich an den Schwanz des Gegners und ruft: »Los!« Am Ziel wendet sich der Fuchs nach ihm um. [B3] Er läßt sich fallen und ruft: »Ich bin vor dir dagewesen; denn wie du siehst, bin ich nun hinter dir, ganz beim Ziele.« Der Fuchs bekennt die Wette für verloren und meint: »Du kannst ja ein ganz guter Läufer sein, aber du siehst nicht danach aus.« [Zur Erklärung dieser in Italien sprichwörtlich gebrauchten Wendung erzählt Cornazano die Geschichte.]


  • Literatur: Die Sprichwortnovellen des Placentiners Antonio Cornazano. Verdeutscht von Albert Wesselski, 1906, S. 75.

51b. Aus Pistoja.


[A1] Der Wolf will den Krebs verspotten und [A2 entstellt] schlägt ihm einen Wettlauf nach einem Hügel vor: »Mich soll der Teufel holen, wenn du mich einkriegst!« Der Krebs fühlte den Spott und erwiderte schlagfertig, daß er bereit sei.

[79] »Ich geb' dir einen Vorsprung und bin doch vor dir am Ziel.« Zähneknirschend antwortet der Wolf: »Wenn ich nicht wüßte, daß du immer in Wasser und Sümpfe gehst, würde ich dich verspotten wie einen Trunkenbold.« »Nein, nein« nahm der Krebs das Wort, »halten wir uns nicht auf bei eitlen Dingen. Willst du mit mir laufen? Ja oder nein?!« – »Nun gut,« rief der Wolf, »wohin wollen wir laufen?« – »Dorthin!« sagte der Krebs. »Doch erst, wenn ich dich in die Schwanzspitze gezwickt habe; das ist das Zeichen für dich, dann rasch fort. Also los!« Der Wolf stellte sich bereit, [G] und der Krebs zwickte ihn in den Schwanz, und dann ging's los! Durch den Wald wie der Blitz, wie wenn ein Polizistenschwarm hinter ihm her wäre. Keuchend kam der Wolf auf dem Scheitel des Hügels an, eine Spanne lang hing ihm die Zunge zum Halse heraus. Und schleunigst wandte er sich, um zu sehen, wo der Krebs geblieben wäre. Aber er sah niemanden und rief: »Krebs, du verrückter Kerl! Zeig' dich, wo bist du? Wenn ich umkehre und dich treffe, ich will dich malträ tieren ....« [B3] Spricht der Krebs mit ganz sanfter Stimme: »Ich bin hier, weiter als du! Was schreist du denn so? Ich habe die Wette gewonnen!« Rief der Wolf: »Du hast gewonnen, und ich bin der Ochse, daß ich dich den Vertrag machen ließ. Auf Wiedersehen ein andermal!« – und der Wolf lief fort. Der Krebs aber brach in Gelächter aus.


  • Literatur: Nerucci, Cincelle da bambini (1881), S. 8. (Die Übersetzung verdanke ich meinem Freunde Dr. Fritz Jäckel.) Vgl. Marc-Monnier, Contes pop. en Italie p. 223–225 (mir zur Zeit nicht zugänglich).

52. Aus Deutschland.


a) Gedicht aus dem 13. Jahrhundert.


[A1] Der Fuchs sieht den Krebs im Grase liegen und spottet seines langsamen Ganges: »Wann wollt ihr über die Wiese kommen? Ihr könnt besser rückwärts als vorwärts gehen.« Der Krebs antwortet stolz, er könne besser als die Götter laufen, und [A2] bietet ihm einen Wettlauf von einer Meile an, von Lune bis Toskan. Der Fuchs willigt ein, und es wird ein Pfand gesetzt. Der Krebs will etwas vorausgeben und hinter dem Fuchs laufen. Dieser kehrt ihm also das Hinterteil zu, [G] und der Krebs packt seinen Gegner, ohne daß dieser es merkt, mit der Schere an den Schwanz. Der Fuchs läuft, was er kann, und als er am Ziel angelangt ist, kehrt er sich um und ruft: »Wo ist nun der Krebs?« [B3] Dieser, der vor ihm steht, antwortet: »Da bin ich, wie seid ihr so langsam gelau fen?« Damit hat der Fuchs die Wette verloren.


  • Literatur: Das Gedicht ist herausgegeben von Maßmann, Haupts Zeitschr. 1, 398 ff.; obige Inhaltsangabe wie bei Grimm, KHM. 3, 256.

b) Aus der Mark.


[A] Fuchs und Krebs wetten in der Nähe von Frankfurt an der Oder [nähere Darstellung fehlt]; der Fuchs, der seiner Sache gewiß ist, geht langsam voraus, [G] der Krebs hängt sich an den Schwanz; dicht am Ziele kneift er so, daß der Fuchs wütend um sich schlägt und den Krebs ans Ziel schleudert. [B3] Da rief er vor Freuden: »Krebsjuchhe!« Und als nachmals an dieser Stelle ein Dorf gebaut wurde, nannte man es zum Andenken an die List des Krebses: Krebsjuche, woraus später der jetzige Name Krebsjauche entstanden ist.


  • Literatur: Kuhn, Märkische Sagen und Märchen 1843, S. 243.

c) Aus Pommern.


Der Fuchs rühmt sich, wie gut er zu Fuße sei. Der Krebs erwidert, er könne auch gut laufen. [A1] Der Fuchs höhnt: »Aber bloß zurück!« [A2] »Oho! Glöwst[80] du woll, Voß, dat ik di bi all dine Fixigkeit ok vorwärts vörbilope war?« Der Krebs bietet einen Wettlauf bis zum nächsten Meilensteine an; der Fuchs läuft, was er laufen kann, und dreht sich am Ziel nach dem Krebse um. [GB3] Dieser ruft: »Büst du ok all dar, Voß? Ick wacht all ne ganze Wil up di.« Der Lauf wird ein paarmal mit gleichem Aus gang wiederholt, [A3] der Fuchs bezahlt den Preis der Wette: zwei Quart Schnaps und ein Pfund Schnupftabak. Nachdem beide vom Schnaps redselig geworden sind, erzählt der Krebs, sowie sie in der Nähe von Wasser angekommen sind, seine List; der Fuchs wird böse und will ihm das Genick umdrehen, aber der Krebs springt ins Wasser.


  • Literatur: Blätter für pommersche Volkskunde 3, 65 = Brunk, Volkskundliches aus Garzigar (1901), S. 6.
    Eine Variante aus Garzigar erzählt, daß der Igel sich an den Schwanz des Fuchses gehängt habe. »Un so kunn dei Voß sich halwe dot lope: dei Schwinegel wer immer ver im.« (Bl. f. pomm. Vk. 9, 38.) Ein hübsches Beispiel von Sagenmischung.

53. Aus Dänemark.


[A] Einst wetteten Fuchs und Krebs, wer am geschwindesten laufen könne. »Du Ärmster!« sprach der Fuchs, »du wirst zurückbleiben müssen.« »Versuchen wir's nur!« sprach der Krebs. [G] Eben als sie davonliefen, ergriff der Krebs den Schwanz des Fuchses und hielt sich fest. Am Ziele angelangt, kehrte der Fuchs sich um und blickte nach dem Krebse aus. »Ich bin hier!« sagte er. [B3] »Ich auch!« sprach der Krebs, der Fuchsschwanz hatte ihn über das Ziel geworfen.


  • Literatur: O. Nicolaissen, Fra Nordlands Fortid, Kristiania 1889, S. 52.

54. Aus Finnland.


a) Aus Kiwimaa.


[A1] Am Ufer eines Flusses spottete der Fuchs über das Rückwärtsgehen des Krebses. Als sich der Fuchs umwandte, um in den Wald zurückzukehren, [B3] eilte der Krebs in einen Busch. Der Fuchs: »Wo bist du, Krebsschlingel?« Der Krebs: »Wie, du bist erst jetzt hergekommen? Ich habe schon lange auf dich gewartet!«


b) Aus Kaari.


Sie laufen eine russische Werst (Meile) entlang. Der Krebs: »Hier bin ich schon!«


c) Auch in Loppi aufgefunden. (Text fehlt.)


  • Literatur: K. Krohn, Suomalaisia Kanaansatuja 1, 388.

55. Aus Litauen.


[A1] Der Fuchs verspottet den langsamen Krebs. [A2] Dieser bietet den Wettlauf an und [G] hängt sich dem Fuchs unvermerkt in den Schwanz. Am Ziel dreht sich der Fuchs nach ihm um, und [B3] der Krebs sagt: »Wo warst du denn so lange? Ich habe hier schon lange auf dich gewartet.« Der Fuchs erklärt sich für besiegt.


  • Literatur: Veckenstedt, Die Mythen, Sagen und Legenden der Zamaiten (Litauer) 2, 174.

56. Aus Rußland (Gouvernement Tambov).


Fuchs und Krebs standen zusammen und sprachen miteinander. [A2 entstellt.] Der Fuchs sprach zum Krebs: »Komm, ich will mit dir um die Wette laufen.«

[81] Der Krebs antwortete: »Schön, Fuchs, so komm!« So setzten sie zum Wettlauf an. [G] Gerade als der Fuchs loslief, hängte sich ihm der Krebs an den Schwanz. Als der Fuchs am Ziel angekommen war, ließ der Krebs noch nicht los; der Fuchs wandte sich, um nachzusehen, und drehte dabei den Schwanz herum; [B3] der Krebs machte sich los und sprach: »Ich warte hier ja schon lange auf dich.«


  • Literatur: Afanasieff 1, 54; auch bei Gubernatis, Die Tiere in der idg. Myth. 613; englisch bei Ad. Gerber, Great Russian Animal Tales (1891), Nr. 22.

57. Zigeunermärchen aus Ungarn.


[A1] Ein Fuchs verspottet einen Krebs am Ufer eines Baches. [A2] Der Krebs schlägt einen Wettlauf zum nächsten Bach vor. [A3] Gewinnt der Fuchs, so will er den Krebs fressen, gewinnt der Krebs, so will der Fuchs ihm ein Jahr lang täglich ein Stück Fleisch bringen. Der Krebs sagt: »Gut, und ich gebe dir noch drei Schritt vor,« [G] dabei beißt er sich in den Fuchsschwanz. Als der Fuchs sich am Ziel umblickt, [B3] springt er ab und ruft, er sei schon eine Viertelstunde da. Der Fuchs mußte nun dem Krebs Fleisch bringen.


  • Literatur: v. Wlislocki, Volksdichtgn. d. siebenbürg, u. südungar. Zigeuner, S. 411.

b) Fachs und Schnecke.

58. Deutsches Volksmärchen aus Siebenbürgen.


[A] Der Fuchs spottet der Schnecke und fordert sie zum Wettlauf heraus. Die Schnecke nimmt das mit gelassenem Selbstbewußtsein an (»Warum nicht? Mit dir kann ich es immer aufnehmen«) und gibt eine Fuchslänge vor. [G] Sie klebt sich an den Schwanz des Gegners. Am Ziele, einem Flußufer, wird sie durch die rasche Wendung des nach ihr ausblickenden Fuchses auf das jenseitige Ufer geschnellt. [B3] »Ich bin schon seit einer Viertelstunde hier und ging aus Langeweile noch über den Fluß.« Der Fuchs zieht beschämt ab.


  • Literatur: Haltrich, Deutsche Volksmärchen aus Siebenbürgen Nr. 112.

59. Aus der Schweiz.


([A] Der Fuchs erblickt eine Schnecke und trägt ihr »flugs« (Näheres fehlt) eine Wette an, wer von beiden schneller nach St. Gallen laufen könne.) »Topp!« sagte die Schnecke und machte sich ohne Verzug auf den Weg – zwar ein wenig langsam, denn das Haus auf dem Bücken nahm sie gewohnheitshalber auch mit. Der Fuchs hingegen lagerte sich sofort gemächlich, um erst am kühlen Abend abzuziehen, und so schlummerte er ein. [G] Diesen Anlaß benützte die Schnecke und verkroch sich in seinen dicken Zottelschwanz. Abends macht sich der Fuchs auf, vor dem Tore von St. Gallen wendet er sich stolz um und ruft: »Schneck, kommst bald?« [B3] »Ich bin schon da,« antwortet sie, nachdem sie sich losgemacht, und schleicht unterm Tore durch. Da mußte der übermütige Fuchs die Wette verloren geben.


  • Literatur: Sutermeister, Kinder- und Hausmärchen aus der Schweiz 1869, S. 113.

60. Aus Frankreich.


a) Hautes-Vosges.


Wie Nr. 58; nur schlägt hier die Schnecke den Wettlauf vor; die Vorgabe fehlt; der Wettlauf findet statt von einem Ende einer Brücke zum andern. Die Schnecke ruft aus: »Je suis arrivée avant toi.«


  • Literatur: Sauvé, Folklore des Hautes-Vosges 319.

[82] b) Côte d'Or.


Der Wolf läuft nach Dijon und begegnet der Schnecke. »Wohin so schnell?« fragt sie. – »Nach Dijon! Und du?« – »Ich gehe auch dahin.« [A1] »Die Lämmer werden Hörn er haben wie die Böcke, wenn du da bist.« – [A2] »Meinst du? Ich werde vor dir da sein.« – [A3] Sie wetten um ein Frühstück. Die Schnecke gibt ihm fünf Schritt Vorsprung, um sich ihm, während er sie abschreitet, [G] bequem auf den Schwanz setzen zu können. Als der Wolf nach Dijon kommt, ist das St. Nikolaus-Tor geschlossen. Während er anklopft, kriecht die Schnecke unter dem Tore durch, klettert die Mauer hinauf [B3] und ruft von oben: »Ei, da bist du ja! Ich warte schon lange auf dich, um zu frühstücken.«


  • Literatur: Clément Jannin, Sobriquets de la Côte d'Or 1, 55.
    Auch: La Tradition 20, 273; Sébillot, Folklore de France 3, 338.

61. Aus Belgien (Lüttich).


[A1] Der Fuchs behauptet, daß er besser laufen könne als jedes andere Tier. [A2] Die Schnecke nimmt ihn beim Wort, und sie verabreden, bis nach Lüttich zu laufen. Der Fuchs lacht sie siegesbewußt aus. [G] Sie aber hängt sich ihm an den Schwanz. [B2] Halbwegs dreht er sich um und fragt: »Geht's noch? Hast du schon genug?« Sie antwortet leise, als ob sie weit weg wäre: »Nicht doch, lauf nur zu.« Der Fuchs lacht und setzt gemächlich den Weg fort. Als er an das St. Leonhards-Tor klopft, läßt sich die Schnecke herabfallen und schlüpft unter dem Tore hinein. [B3] Als dieses geöffnet wird, streckt sie ihm ihre Hörner entgegen. Der Fuchs geht beschämt davon.


  • Literatur: Wallonia 6, 48.

62. Zu den vorigen Sagen, in denen das geschlossene Tor wichtig ist, gehört folgende Variante aus dem Maasland (Südholland):


[A] Frosch und Schnecke wetten, wer zuerst in die Stadt komme. Der Frosch denkt natürlich zu gewinnen und [A1] verhöhnt die Langsamkeit der Gegnerin. Als er vor die Stadt kommt, ist das Tor geschlossen, und er muß bis zum folgenden Morgen warten, ehe es geöffnet wird. Unterdes kommt auch die Schnecke heran. [B3] Für sie ist das Tor kein Hindernis; sie kriecht einfach hinüber und gewinnt so die Wette.


  • Literatur: Genter Zeitschrift Volkskunde 15, 75. Ein interessantes Beispiel, wie die Sage auch nach dem Verlust des Hauptmotivs – Hängen am Gegner – fortbestehen kann. Ist übrigens ›vorsch‹ aus ›voss‹ entstellt?

Erweiterung durch die Wette, wer den Sonnenaufgang zuerst erblickt. (Über dieses Motiv handelt Bd. 3, S. 146).


63. Aus Tirol (Gossensaß).


Fuchs und Schnecke wetteten miteinander, wer zuerst und vor Sonnenaufgang auf einem Joch sein würde. Der Fuchs lief, ohne sich umzusehen, schleunigst voran, doch die Schnecke hatte sich ihm schon unbemerkt auf den Schwanz gesetzt. Als der Fuchs oben ankam, schlug er den Schwanz hinauf und rief: »Tag ist es!« und »Da bin ich!« sagte über ihm, auf seinem Schwänze, die Schnecke.


  • Literatur: Zeitschr. d. Vereins f. Vk. 10, 58.

c) Der Fachs and ein anderer Gegner.

64. Wendisches Märchen.


Der Fuchs kommt zu einem Teich und will trinken. Ein Frosch quakt ihn an, und der Fuchs droht: »Geh' weg, oder ich verschlinge dich.« »Nicht so hochmutig,«[83] erwidert der Frosch, »ich bin hurtiger als du.« Der Fuchs lacht ihn aus und spricht: »Wir wollen in die Stadt laufen, da wird es sich zeigen.« Der Fuchs kehrt sich um, und der Frosch springt in seinen Schwanz. Reinhart fängt nun an zu laufen. Als er nahe beim Tor ist, dreht er sich um und will sehen, ob der Frosch nachkomme: in dem Augenblick springt dieser von dem Schwanz herab und in das Tor hinein. Als der Fuchs sich wieder umgekehrt hat und in das Tor kommt, sitzt der Frosch schon am Ziel und ruft ihm zu: »Bist du endlich da? ich bin schon auf dem Heimweg und dachte, du würdest gar nicht kommen.«


  • Literatur: Leop. Haupt und Schmaler, VL. d. Wenden 2, 160. Vgl. oben Nr. 57–60.

65. Märchen der Aino.


Es sagte der Tiger zum Fuchs: »Laß uns Wettlaufen vom obersten Ende der Welt bis zum untersten (von einem Ende der Welt zum anderen), und wer gewinnt, soll Herr der Welt sein.« Der Fuchs willigte ein, und der Tiger sprang fort; er merkte aber nicht, daß der Fuchs sich an seinen Schwanz geklammert hatte, um so mit fortgezogen zu werden. [G] Gerade, als der Tiger beinahe am anderen Ende angelangt war, drehte er sich schnell um, um den Fuchs zu verspotten, den er noch weit zurück glaubte. Aber seine Bewegung warf den Fuchs an das Ziel, so daß er dem erstaunten Tiger zurufen konnte: »Hier bin ich! Wo bleibst du so lange?« [B2] Darum gibt es jetzt keine Tiger mehr im Ainoland.


  • Literatur: Folklore Journal 6, 18. – Chamberlain, Aino-Folktales p. 18.
    [Ebd. flgd. Wette, die zu Bd. 3, S. 141 und 217, gehört: Es sagte der Tiger zum Fuchs: »Es heißt, du sollst der Schlaueste der Tiere sein. So laß uns denn wetten: wer von uns am lautesten brüllen kann, dem soll die Herrschaft der Welt gehören.« Der Fuchs willigte ein, und sie stellten sich nebeneinander auf. Da nun aber der Tiger zuerst brüllen sollte, so stellte er sich aufrecht und bemerkte nicht, wie der Fuchs ein Loch mit seinen Pfoten scharrte, um den Kopf darin zu verbergen, damit seine Ohren nicht durch des Tigers Brüllen taub würden. Der Tiger hob ein Gebrüll an, daß er meinte, man würde es von einem Ende der Welt zum anderen hören, und sicherlich hätte es den Fuchs taub gemacht (wenn er es gehört hätte). Als der Tiger fertig gebrüllt hatte, sprang der Fuchs aus dem Loch, in das er seine Ohren gesteckt hatte, und sagte: »Ich habe dich ja kaum gehört. Du kannst sicher noch lauter brüllen. Versuch es nur noch einmal.« Der Tiger wurde sehr zornig, denn er hatte erwartet, daß der Fuchs tot zu Boden fallen würde. Aber er wollte noch einen zweiten, fürchterlichen Versuch machen. Der Fuchs verbarg wieder den Kopf im Loch, und der Tiger brüllte, bis er dabei barst. Darum gibt es jetzt keine Tiger mehr im Ainoland, und darum sind auch die Füchse bis heute so schlau und beredt.]

66. Weißrussisches Märchen.


(Der erste Teil gehört zwar nicht hierher; da aber das Märchen den meisten Forschern unzugänglich ist, lasse ich es in einem von Herrn v. Löwis freundlichst angefertigten Auszuge hier folgen):


[Der Herr will seinen alten Gaul verstoßen, doch läßt er ihm vorher auf seine Bitten und zur Belohnung treuer Dienste Hufeisen annageln, dann jagt er das Pferd in den Sumpf. Der Löwe begegnet dem Pferde, und da es ihn nicht grüßt, macht er ihm Vorwürfe. Das Pferd entschuldigt sich, es sei hungrig gewesen, habe Gras gefressen und den hohen König nicht kommen sehen. Dieser will seine Kraft zeigen und preßt in der Hand einen Stein, sodaß »Wasser wie aus einem Loche« fließt.] »Das ist nichts,« meinte das Pferd; »denn es ist bekannt, daß Regen und Schnee auf den Stein fallen, ... aber Feuer hervorbringen, das ist ein Kunststück.« [Der Löwe ist beschämt und verspricht, dem Pferde das Leben zu schenken, wenn[84] es ihm gelänge, aus dem Stein Feuer hervorzuholen. Das Pferd haut mit den Hufen, daß die Funken stieben. Der Löwe vermutet es nachmachen zu können, schlägt lange mit den Tatzen auf den Stein – aber verge bens. Er erkennt die Stärke des Pferdes an und gesteht ihm die Königswürde auch über sich selbst zu. – Der Löwe geht weiter, trifft den Wolf und erzählt sein Erlebnis. Der Wolf lacht, rühmt sich, er könne mit dem Pferde leicht fertig werden, und will es gleich beweisen. Da er aber dem Löwen nicht gut nachkommt, trägt ihn dieser auf einen Hügel, von dem man das Pferd sehen kann. Wie sich der Löwe zum Wolf wendet, sieht er, daß dieser tot da liegt, denn er hat ihn beim Tragen erdrosselt.] »Sagte ich es dir nicht, Dummkopf,« meinte der Löwe, »daß es mit dir bald aus sein würde, wenn du das Pferd erblicktest?« – [Er geht weiter, tritt sich einen Dorn in den Fuß und klagt, er habe die ganze Welt durchwandert, nirgends seinen Fuß beschädigt, aber in diesem verfluchten Lande verfolge ihn das Unglück.] Dann sieht er sich um – und welch' ein Wunder! – der Dorn fliegt [läuft?]. Da sprach er: »Nun, Kleiner, wollen wir einen Wettlauf machen. Wenn ich dich einhole, töte ich dich; laufen wir aber gleichzeitig durchs Ziel, laß ich dich leben.« Sogleich maßen sie aus, wie weit gelaufen werden sollte, und stellten sich auf. Da klammerte sich der Dorn an den Schwanz des Löwen, dieser aber lief, was er konnte, und eins, zwei, drei! war er am Ziel. Er sieht sich um, wo der Dorn geblieben sein mag, da läßt sich dieser hinter ihm vernehmen: »Schau dich nicht um, edelster König, ich warte schon lange auf dich.«

Da verfluchte der Löwe diese Gegend und wanderte nach Frankreich aus, jetzt gibt es in Frankreich Löwen, hier jedoch keine (!).


  • Literatur: M. Federowski, Lud białorusski I, 1, S. 31 f, Moskau 1902.

Fußnoten

1 Zu der List des Fuchses, den Krebs mit dem Jochstift usw. zu übertölpeln, vgl. die ähnliche Geschichte bei Kristensen, Folkeminder 8, 375. Da es bestimmt werden sollte, wie lange die Tiere trächtig gehen sollten, fragte die Füchsin listig die Stute, ob sie lieber das kurze, kurze Jahr oder den langen, langen Monat trächtig gehen wollte. Sie war leichtgläubig genug, das kurze Jahr zu wählen mit Abzug des einen Monats, in dem die Füchsin trächtig geht.

Quelle:
Dähnhardt-Natursagen-4, S. 78-85.
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