6.

[18] Es war einmal eine Frau, die bekam keinen Sohn; da bat sie Gott, er möge ihr einen Sohn schenken, dann würde sie unter die Leute einen Topf Honig und einen Topf Butter verteilen. Darauf wurde sie schwanger und gebar einen Sohn, und dieser wuchs heran, aber sie verteilte nichts. Nun war da eine alte Frau, die sah den Jungen auf der Straße; da sagte sie zu ihm: »Sage deiner Mutter, sie solle das, was sie gelobt habe, einlösen, sonst versetze ich dir einen Schlag mit der Hand, daß ich dein Leben verkürze.« Bis zum Abend aber hatte der Junge es vergessen. Als die Alte ihn wiederum antraf, fragte sie gleich: »Hast du es deiner Mutter gesagt, mein Sohn?« »Nein, ich habe es nicht gesagt.« »So sage es ihr heute Abend.« Aber er vergaß es wieder. Wiederum traf sie ihn auf der Straße und fragte: »Hast du es ihr gesagt?« »Ich habe es vergessen,« erwiderte er. Da nahm sie zwei Steinchen von der Straße, steckte sie ihm in seinen Gürtel und sagte: »Steck diese beiden Steinchen in den Gürtel; am Abend, wenn du schlafen gehst, wirst du den Gürtel lösen, dann fallen die Steinchen, und du wirst dich erinnern, daß du es deiner Mutter sagen sollst.« Als es nun Abend geworden war und der Junge sich schlafen legen wollte, löste er seinen Gürtel, und die Steinchen fielen heraus. Da sagte seine Mutter: »Was ist dir da gefallen, mein Sohn?« »Ach Mutter,« sagte er, »es ist eine alte Frau, die begegnet mir seit drei Tagen auf der Straße, die sagte zu mir: ›Sage deiner Mutter, sie solle das, was sie für dich gelobt hat, einlösen, sonst schlage ich dich mit der Hand, so daß ich dein Leben verkürze.‹ Und wenn ich am Abend nach Hause komme, so vergesse ich, es dir zu sagen. Heute hat sie mir diese Steinchen gegeben, damit ich[18] am Abend daran denken sollte, es dir zu sagen.« »Ja freilich, mein Sohn,« erwiderte sie, »ich habe es vergessen, daß ich deinetwegen etwas gelobt habe.« Darauf ließ sie einen Mann kommen und sagte zu ihm: »Rufe vor den Leuten aus, sie sollen morgen kommen, ich werde Honig und Butter unter sie verteilen.« Da rief der Mann aus: »Leute dieses Dorfes, heute Morgen will die Familie N.N. Honig und Butter verteilen, und jeder Mann soll ein Gefäß mitbringen und sich etwas holen kommen.« Als die Alte das hörte, sagte sie: »Weh mir, ich glaube, es sollen Reiter kommen.« Sie verstand nicht, daß die Angehörigen des Knaben ihr Gelübde einlösen wollten; sie meinte, es sollten Reiter in das Dorf kommen. Da verschloß sie schnell die Türe und setzte sich drinnen hin, damit keine Reiter zu ihr hineinkämen. Sie fürchtete sich und verbarg sich drinnen, während jene Honig und Butter unter die Leute verteilten. Da kam die Nachbarin der Alten und klopfte an ihre Türe. »Ich bitte dich, liebe Nachbarin,« rief die Alte, »öffne die Türe nicht, damit kein Reiter zu mir hereinkomme.« »Es sind ja gar keine Reiter da,« erwiderte jene. »Aber was bedeutet jenes Geschrei?« »Die Angehörigen des Jungen lösen ihr Gelübde und verteilen Honig und Butter unter die Leute.« »Jiiii,« schrie die Alte, »bin ich doch nun diejenige, welche ihm gesagt hat, er solle seiner Mutter sagen, sie möchte ihr Gelübde einlösen; nun haben sie es eingelöst, und ich war nicht dabei.« »Geh doch hin,« versetzte die Nachbarin, »vielleicht geben sie dir noch etwas.« Da nahm sie [zwei] Schüsseln und ging zu den Angehörigen des Jungen hin und sagte zu seiner Mutter: »Nur ich bin die, die deinem Sohn gesagt hat, ihr sollt das Gelübde für ihn einlösen, und nun habt ihr es eingelöst und ihr habt mir nichts gegeben.« »Weshalb bist du denn nicht gekommen?« fragte sie. Die Alte erwiderte: »Ist nicht noch etwas da, was du mir geben könntest?« »Komm, ich will dir die Gefäße auskratzen.« Darauf kratzte sie aus den Gefäßen, in welchen die Butter und der Honig war, und tat ihr in die eine Schüssel Honig und in die andere Butter.

Als die Alte sich nach Hause begab, spielte der Junge gerade auf der Straße und warf mit einem Stein. Dieser traf die Hand der Alten, die Schüsseln fielen ihr aus derselben, und Butter und Honig liefen heraus. Da fluchte sie: »Was soll ich von Gott über dich herabrufen? Er möge dich ins Unglück bringen durch die stumme Prinzessin.« Da kam der Junge nach Haus und war verdrießlich und ärgerlich. Die Mutter fragte ihn: »Was hast du, mein Sohn, mein Liebster, mein Liebling, mein Augenlicht?« »Mache mir Reisevorrat zurecht,« erwiderte er, »ich will an diesem Orte nicht mehr bleiben.« Sie aber sagte: »Mein Sohn, ich habe deinetwegen Gelübde gelobt und habe von Gott gebeten, bis er dich mir schenkte; jetzt willst du weggehen und mich verlassen? Wer hat dich erzürnt, und wer hat dir etwas gesagt, daß du so ärgerlich bist?« »Die Alte, welche sich von dem, womit du dein Gelübde einlöstest,[19] geholt hatte. Ich spielte auf der Straße und warf mit einem Stein, der traf ihre Hand, und die Schüsseln fielen, und das, was in ihnen war, lief heraus. Da sagte sie zu mir: ›Ich mag nichts anderes von Gott über dich herabrufen, als daß er dich ins Unglück bringen möchte durch die stumme Prinzessin.‹ Nun will ich zu der stummen Prinzessin hingehen.« »Was willst du denn bei ihr tun, mein Sohn?« fragte die Mutter, »ich will um sie freien.« »Mein Sohn, das Land ist weit, und du kennst ihr Wesen1 nicht.« »Es geht nicht anders, als daß ich zu ihr gehe.« Da machte sie ihm Reise Vorrat zurecht, er stieg zu Pferde, nahm den Proviant an sich und brach auf.

Bald fand er eine Quelle und über derselben einen Baum. Er band das Pferd an den Baum, nahm seinen Proviant heraus und fing an zu frühstücken; als er damit fertig war, legte er sich an das Wasser. Auf dem Baum war ein Papagei, der sagte zu seinen Jungen: »Dieser Mann, dessen Eltern keinen außer ihm haben, geht zu der stummen Prinzessin, deren Vater baut einen Turm von Köpfen, das sind alles Menschenköpfe. Jedoch er wird einen von Euch, meine Kinder, nehmen. Wenn er wach ist, wird er gutes Glück haben, wenn er aber schläft, wird er unglücklich sein.« So sprach dieser Vogel zu seinen Jungen; der junge Mann aber schlief nicht, sondern war wach. Er sprang nun auf, stieg auf den Baum und nahm einen von den Vögeln. Dann bestieg er sein Pferd und ritt weiter. Nach einer Reise von zwei Tagen gelangte er in die Stadt, in welcher die war, zu der er ging. Zunächst besah er sich die Stadt; da kam er an einen Ort, wo er einen Turm erblickte, und dieser Turm war gebaut von Menschenköpfen. Er trat an einen Mann heran und fragte ihn: »Ach, bitte, warum ist dieser Turm aus Menschenköpfen erbaut?« Der Mann antwortete ihm: »Du bist ein Fremder, was hast du mit dieser Frage zu tun? Das ist eine Sache, die dich nichts angeht; besieh dir die Stadt und ziehe deines Weges.« »Aber, bitte,« versetzte er, »sage es mir doch!« »Wenn ich es dir auch sage, was wird es dir nützen?« »So nimm diese zwei Goldstücke und sage es mir.« Damit gab er ihm zwei Goldstücke, und der Mann fragte ihn: »Wie heißest du?« »Ich heiße Aladdin.« »Also, Aladdin, der Sultan hat eine Tochter, und die Leute kommen, um sie zu freien; dann macht der Sultan ihnen die Bedingung: wenn sie spricht, so gibt er sie ihnen, und wenn sie nicht spricht, so schlägt er ihnen den Kopf ab. Sobald einer kommt, macht er ihm diese Bedingung: wenn sie spricht, so gibt er2 sie dir, wenn sie nicht spricht, so schlägt er3 dir den Kopf ab. Und alle diese Leute haben nichts gegen sie ausrichten können, und das Mädchen hat nicht gesprochen.« So erzählte der Mann dem Jüngling; darauf sagte dieser: »Ich bitte, ich kenne niemand in dieser Stadt, willst du mich nicht in dein Haus aufnehmen?« »Gewiß,« erwiderte er, »willkommen, mein Sohn.« Am[20] Abend nahm er ihn also mit nach Haus, und er blieb drei Tage bei ihm. Darauf sagte der Jüngling eines Tages zu ihm: »Ich wünsche, daß du zum Sultan gehst und bei ihm für mich um seine Tochter anhältst.« Jener erwiderte: »Laß dich warnen, Aladdin; wenn ich für dich werbe und sie spricht nicht, so schlägt ihr Vater dir den Kopf ab.« »Vielleicht spricht sie,« versetzte er. »Bei all' denen, deren Köpfe auf diesem Turm aufgebaut sind, hat sie nicht gesprochen; wie sollte sie bei dir sprechen? Ich fürchte für dich, daß er dir den Kopf abschlagen wird. Komm, ich will für dich anhalten um die Tochter des Ministers, oder wenn du willst, um die Tochter des Richters; einerlei, nur sprich mir nicht von der, deren Vater die Köpfe abschlägt.« »Nein,« sagte er, »um keine andere als um die sollst du werben.« Darauf gingen sie zusammen zum Sultan, und sein Wirt sagte: »Herr, dieser Jüngling ist fremd und kommt zu dir, du möchtest deine Tochter mit ihm verloben.« »Weißt du denn nicht,« fragte der Sultan, »daß wenn einer kommt, um sie zu freien, und sie nicht spricht, ich ihm den Kopf abschlagen lasse?« »Vielleicht spricht sie,« versetzte der Jüngling. »Noch bei keinem aus dieser Stadt hat sie gesprochen, wird sie bei diesem Fremdling sprechen?« »Ich will es versuchen,« sagte er.

Als es nun Abend geworden war, kam der Jüngling mit seinem Wirte an den Hof, und sie setzten sich zur Abendunterhaltung hin. Da sagten einige: »Wer wird uns eine Geschichte erzählen?« Andere erwiderten: »Dieser, der aus der Gegend von Damaskus ist, wird uns die Geschichten jener Gegend erzählen.« »Nein,« sagte er, »es ziemt sich, daß ihr erzählt.« »Nein, erzähle du!« Er hatte ein Kissen vor sich liegen, und den Vogel, welchen er von dem Baume geholt hatte, hatte er bei sich. Er nahm den Vogel aus seiner Busentasche und verbarg ihn unter dem Kissen; darauf sagte er: »Dieses Kissen wird eine Geschichte erzählen.« Da fing der Vogel unter dem Kissen an zu sprechen: »Ach Aladdin, ach schade wegen deiner Schönheit und der Gelübde, die deine Mutter gelobt hat; du gehst zu dieser Kahlköpfigen, zu dieser Diebin, der stummen Prinzessin, um sie zu freien. Sie aber ist kahlköpfig und [keine] zwei Pfennige wert.« Als das Kissen so über sie geredet hatte, entblößte sie ihren Kopf und sagte: »Kommt und seht, ob ich kahlköpfig bin! Weh dir, Kissen, was habe ich denn gestohlen?« Eiligst liefen sie zum Sultan und verkündeten die frohe Botschaft, daß seine Tochter gesprochen habe. Als der Vogel ausgeredet hatte, streckte der Jüngling seine Hand unter das Kissen, nahm ihn an sich und verbarg ihn wieder in seinem Busen. Darauf stand er mit seinem Wirte auf, und sie begaben sich wieder in das Haus desselben. Am andern Morgen ging das Mädchen zu dem Kissen, nahm es in die Höhe und verbrannte es im Feuer. Der Sultan aber sagte zu jenen: »Ich glaube nicht, daß sie gesprochen hat, wenn sie nicht auch heute Abend spricht.« Am Abend ging der junge Mann wieder mit seinem Wirte zu jenen, und es hieß wieder:[21] »Wer soll heute Abend eine Geschichte erzählen?« Sie sagten: »Es ist keiner da, der erzählen kann.« Da sagte der junge Mann: »Die Tischmatte wird eine Geschichte erzählen.« Er setzte den Vogel unter die Tischmatte, und diese fing an zu sprechen und sagte: »Ach Aladdin, du kommst aus der Gegend von Damaskus in diese Gegend zu der stummen Prinzessin, um sie zu freien. Dieses Mädchen hier heißt die stumme Prinzessin; ihr Mund ist stinkend und ihr Geruch tötet, wenn nur jemand sich ihr nähert; ihr Atem ist stinkend. Du mit dem stinkenden Atem, die du abschlagen läßt die Köpfe, dein Vater baut einen Turm aus Köpfen vieler Männer, und du bist nur eine einzige mit stinkendem Munde.« Da antwortete das Mädchen, welches die stumme Prinzessin hieß: »Kommt, die ihr da sitzet zur Abendunterhaltung, riechet den Geruch meines Mundes, ob ich einen übelriechenden Atem habe!« So sprach sie, und der Sultan hörte es. »Glaubst du nun, daß deine Tochter gesprochen hat?« fragte er. »Ich glaube es,« erwiderte er. Am folgenden Morgen ließ er den Geistlichen holen und Aladdin dem Mädchen antrauen und verheiratete ihn mit ihr.

Zwei Jahre lang lebten sie zusammen, da sagte er: »[O Herr,] ich habe Sehnsucht nach meiner Heimat und nach meiner Familie, und ich will hingehen; meine Mutter hat keinen andern außer mir.« »Ja, mein Sohn, was willst du haben?« Er antwortete: »Ich will Pferdeknechte haben, um zu meinen Angehörigen zu reisen.« Da kamen die Pferdeknechte, und er lud Geld und Gold und Gewänder auf und brach auf. Als er bei seinen Angehörigen eintraf, sagte seine Mutter: »Mein Sohn, wo bist du in dieser langen Zeit, die du in der Fremde warst, gewesen?« »Ach Mutter,« sagte er, »in Stambul; und ich habe die Tochter des Sultans geheiratet.« Da veranstaltete die Mutter ihm ein großes Fest, lud die Leute dazu ein, bereitete ihnen Essen und ließ sie acht Tage lang schmausen, und so saßen sie da.

Mit Lust und Vergnügen erfreue Gott das Leben der Zuhörer.4

1

wörtlich: ihre [seine, des Landes] Luft.

2

[gebe ich].

3

[schlage ich].

4

[arabischer Vers].

Quelle:
Bergsträsser, G[otthelf] (Hg.): Neuaramäische Märchen und andere Texte aus Malula. Leipzig: F.A. Brockhaus, 1915, S. 18-22.
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