16.

[53] Es war einmal eine Frau, die hatte zwei Söhne, deren Vater starb, als sie noch klein waren; ihre Mutter erzog sie. Als die Knaben noch größer geworden waren, suchte sie sie zu verheiraten; für den einen hielt sie um ein Mädchen an und verheiratete ihn mit ihr; sie führte ihm die Braut zu und ließ sie bei sich wohnen. Hierauf sprach sie zu ihr: »Schwiegertochter! was gebrochen ist, darfst du nicht essen, und was ganz ist, darfst du nicht brechen; aber iß nur, bis du satt bist!« Nun wagte sie nicht mehr, das Brot zu brechen und zu essen, sondern den ganzen Tag über aß sie nichts, weil sie vor ihrer Schwiegermutter nicht wagte zu essen. Die Frau starb daher beinahe vor Hunger. Nun hatte sie einen Schwager; auch für diesen, den Bruder ihres Mannes, hielt jene an, und er wurde verlobt und verheiratet. Da ging die Schwiegermutter und sagte zu der andern gerade so, wie sie zu der früheren (Schwiegertochter) gesagt hatte: »Was ganz ist, darfst du nicht zerbrechen, und was zerbrochen ist, darfst du nicht essen; aber iß nur, bis du satt bist.« Da sprach (die zweite) zu ihrer Schwägerin: »Was hat deine Schwiegermutter zu dir gesagt?« »Dasselbe, was sie zu dir gesagt hat,« antwortete diese. »Aber was issest du denn?« fragte jene. »Ich esse nichts,« erwiderte sie, »ich lebe eben ohne Essen.« Da sagte jene: »Ich will jetzt auf die Dachterrasse[53] hinaufgehen; wenn ich dann rufe, so schicke mir dann deine Schwiegermutter!« Darauf stieg sie auf die Terrasse hinauf und rief ihrer Schwägerin zu: »Sage deiner Schwiegermutter, sie solle zu mir kommen!« Da ging diese hinauf, jene aber holte einen Stock herbei und prügelte damit ihre Schwiegermutter fast zu Tode; dann lud sie sie auf den Rücken und bereitete ihr ein Lager mit einem Kissen; dann legte sie sie in das Bett, deckte sie mit einer Steppdecke zu und setzte sich hinter ihr hin. Als es Abend wurde, kamen die Söhne der Alten von ihrer Arbeit nach Hause und fanden sie zu Bette liegend; da fragten sie: »Fatime, was hat die Mutter, daß sie sich gelegt hat?« Sie antwortete ihnen: »Sie ist krank.« Da fragten sie sie: »Was fehlt dir, Mutter, daß du krank bist?« Sie konnte ihnen jedoch nichts erwidern, sondern wies bloß auf ihre Schwiegertochter, daß sie sie nämlich geschlagen habe. Da holten jene einen Arzt, um sie von ihm behandeln zu lassen; die Schwiegertochter aber bestach den Arzt und sagte zu ihm: »Ich will dir fünfhundert Piaster schenken, wenn du machst, daß meine Schwiegermutter stirbt.« Dieser gab ihr eine Arznei, wovon die Schwiegermutter starb, und man brachte sie auf den Friedhof und begrub sie – dies sei euch noch lange erspart! Hierauf gingen sie daran, die Habe, welche die Frau, ihre Mutter, besessen hatte, zu teilen. Als sie sie geteilt hatten, kam der Arzt, den die Schwiegertochter bestochen hatte, daß er die Schwiegermutter umbringe, und sagte zu ihr: »Gib mir nun die fünfhundert Piaster, die du mir versprochen hast für den Fall, daß ich deine Schwiegermutter sterben mache.« Diese aber begann zu schreien und laut zu rufen: »Wann habe ich dir gesagt, du sollest sie sterben machen? Er hat meine Schwiegermutter umgebracht! Nun kommst du und willst fünfhundert Piaster haben! O Muslime, o Christen! er hat meine Schwiegermutter umgebracht und kommt und will fünfhundert Piaster haben! Sofort will ich dich zum Oberamt, zur Regierung, führen und den Leuten dort sagen: ›Dieser Arzt hat meiner Schwiegermutter Gift gegeben und sie umgebracht; nun kommt er, ich solle ihm fünfhundert Piaster geben; er hat sie umgebracht und will nun noch Bezahlung dafür!‹« Jener aber erwiderte: »Ich bitte dich, so lieb dir dein Leben ist; ich verlange nichts mehr; du sollst mir weder fünfhundert Piaster noch irgend etwas geben.« »Nein,« sagte sie, »es geht nicht anders; ich will beim Statthalter gegen dich Klage erheben.« Da erwiderte jener: »Gnade! Ich will dir Gold geben, so viel du immer wünschest; aber erhebe keine Klage gegen mich und liefere mich nicht an die Regierungsbeamten aus!« Jene sagte: »Ich verlange von dir tausend Dukaten.« Da gab er ihr tausend Dukaten, damit sie schweige. Und du sprich nicht davon1, daß er der Schwiegermutter Gift gegeben und sie umgebracht hat2. Nun ist die Geschichte aus.

1

[nicht davon spreche].

2

[hatte].

Quelle:
Bergsträsser, G[otthelf] (Hg.): Neuaramäische Märchen und andere Texte aus Malula. Leipzig: F.A. Brockhaus, 1915, S. 53-54.
Lizenz:
Kategorien: