[79] Es war einmal jemand, in dessen Hause gab es kein Mehl mehr; da sagte die Frau zum Manne: »Geh doch nach Jabrud1 und lasse mahlen.« Er antwortete: »Auf, o Mutter des Hanna2« – er hatte nämlich einen Sohn, der hieß Hanna –, »siebe mir Weizen und fülle den Sack.« Da holte die Frau das Kornsieb und siebte Weizen; dann füllte sie ihn in einen Sack und sprach zu ihrem Manne: »Mache dich nun auf den Weg, um mahlen zu lassen!« Da ging er in den Stall, holte den Esel und lud ihm den Weizen auf; dann machte er sich auf den Weg nach Jabrud, um dort mahlen zu lassen. Er gelangte zur Mühle und bat die Leute: »Mahlt mir doch diesen Weizen!« Sie erwiderten: »Es ist unmöglich, daß wir heute für dich mahlen.« »Wann denn?« fragte er. »Übermorgen,« erwiderten sie. »So will ich bis übermorgen warten,« sagte er. Er verweilte nun zwei Tage dort; darnach mahlten sie ihm den Weizen; er füllte das Mehl in den Sack, lud diesen seiner Eselin auf den Rücken und machte sich auf den Weg. Als er zu dem Kloster gelangte, war die Eselin müde und nicht imstande, die Last auf ihrem Rücken von dort hierher hinunterzutragen. Da sagte er: »Wart, ich will dort auf die Höhe des Absturzes treten, dieses Mehl ausschütten und ihm befehlen: ›O Mehl, verfüge dich in den Behälter der Mutter des Hanna!‹« Er ging auf die Höhe;[79] als er an den Rand des Felsabsturzes, der oben am Dorfe liegt, gelangte, löste er die Schnur des Sackes und schüttete das Mehl über den Felsabsturz hinab, indem er rief: »O Mehl, verfüge dich in den Behälter der Mutter des Hanna!« Dann lud er den geleerten Sack der Eselin auf und sprach zu dieser: »O Eselin! laufe du auf dem östlichen Wege hinab, ich will auf dem westlichen hinablaufen; wenn du mir zuvorkommst, so sollst du der Mutter befehlen, dir gebackene Eier zu bereiten, und du sollst sie essen, ohne mir davon mitzuteilen; wenn ich aber vor dir anlange, so werde ich der Mutter befehlen, mir gebackene Eier zu bereiten, und ich werde sie essen, ohne dir davon mitzuteilen.« Hierauf ließ er die Eselin los, und sie ging auf dem östlichen Wege hinab; er selbst aber begab sich zum westlichen Wege und lief eilig hinab. Kaum zu Hause angelangt rief er seiner Frau zu: »Mutter!« »Was gibts?« fragte sie. »Ist die Eselin schon gekommen?« »O nein!« erwiderte sie. Er sagte: »So hole Feuer und mache mir gebackene Eier; ich will sie essen; denn ich bin vor der Eselin angelangt.« »Wo ist denn das Mehl?« fragte sie. Er antwortete: »Das habe ich über den Felsabsturz ausgeschüttet und ihm befohlen, sich in den Behälter der Mutter Hannas zu verfügen.« »Aber es ist nichts im Behälter,« warf sie ein. Er erwiderte; »Es ist noch nicht angelangt; ich bin also dem Mehle sowohl als der Eselin zuvorgekommen; bereite mir nur die Eier!« Hierauf bereitete sie die Eier; er aß sie mit Brot und wurde mit seinem Frühstück fertig. Dann sagte er: »Hast du gesehen, Mutter, wie geschickt und schlau ich bin; ich bin der Eselin sowohl als dem Mehle zuvorgekommen und bin gekommen, die Eier aufzuessen.« Hierauf wurde es Abend, die Eselin kam aber nicht; es wurde Morgen, und die Eselin kam nicht; da sagte sie: »Die Eselin wird doch nicht verloren gegangen sein, Vater!« Er erwiderte: »Die Eselin grollt darüber, daß ich schneller als sie gelaufen bin und die Eier gegessen habe; ich will gehen und sie zu besänftigen suchen.« Er ging auf dem östlichen Weg, um sie zu besänftigen; als er bis zum Segensgärtchen3 gelangte, traf er einen Raben; dem rief er zu: »O du mit der langen Lanze, hast du irgendwo unsere Eselin gesehen?« Die Eselin aber hatten Wölfe gefunden und sie zerrissen; der Rabe hatte die Eingeweide geholt und war damit emporgeflogen; so glaubte der Mann, der Rabe trage eine Lanze. Er ging weiter bis hinter das Segensgärtchen; da traf er zwei Wölfe, im Begriff, die Eselin zu fressen; da begann er (vor Freude) zu tanzen und zu singen: »Unsere Eselin hat ein männliches und ein weibliches Füllen geworfen!« Als er jedoch näher kam, nahmen die Wölfe Reißaus; und wie er nun hingelangte, fand er, daß die Wölfe sie zerrissen hatten. Hierauf kam er zu seiner Frau zurück; die fragte: »Wo ist die Eselin, Vater?« Er erwiderte: »Sie hat sich in ihrem Groll aus dem[80] Staube gemacht; da haben Wölfe sie zerrissen und aufgefressen.« »Und das Mehl?« fragte jene. »Ist es denn noch nicht im Behälter angelangt?« fragte er. »Nein,« erwiderte sie. Er sagte: »Ich habe ihm doch, als ich es ausschüttete, befohlen, sich in den Behälter zu verfügen.« So hatte der Wind denn das Mehl weggetragen, das er über den Felsabsturz hin ausgeschüttet hatte; die Eselin hatten die Wölfe gefressen, und er war gesprungen, um die Eier zu essen. Und nun ist's aus.
1 | Zu Jabrud vgl. Bädeker, Pal. und Syr.7 S. 325. |
2 | Wir haben im Folgenden die schleppende Ausdrucksweise der Kunja, »die Mutter der Hanna«, »der Vater der Hanna«, mit welcher im Original Frau und Mann meist bezeichnet sind, in der Übersetzung absichtlich aufgegeben und bisweilig bloß »Mutter« und »Vater« gesetzt. |
3 | [Garten der Berikṯa; vgl. o.S. 46]. |