Chikâr's Abreise von Ägypten und Rückkehr nach Assyrien und Ninive.

[34] Als der König und seine Grossen sahen, dass sie überwunden waren, und dass ich, Chikâr, ihnen alle ihre Rätsel gelöst hatte, da gab mir Pharao Geld, (und) den Tribut von Ägypten und seinen Provinzen für die Dauer von drei Jahren. Er gab mir auch die neunhundert Zentner Gold, von welchen[34] in dem Briefe geschrieben stand, dass sie sich sie von meinem Herrn leihen wollten, und sie gaben mir auch viele Geschenke für mich und meinen Herrn und beehrten mich und das ganze mich begleitende Heer mit Gewändern. Da küsste ich Pharao die Hand und machte mich auf den Rückweg zu meinem Herrn.

Als dieser die Nachricht von meiner Rückkunft vernahm, zog er mir entgegen und freute sich über mich. Er liess mich zu seiner Rechten auf seinem Thron Platz nehmen und sagte zu mir: »Wünsche alles, was du willst, und ich will es dir geben.« Da sagte ich zu ihm: »Alle Wohlthaten, die du mir erweisen willst1, erweise2 Nabusmîk, denn nächst Gott hat er mir dieses Leben geschenkt.« Nun begann der König mich nach allem zu fragen, was ich vor Pharao gethan hatte; ich begann ihm zu erzählen, und er hörte mir zu und staunte. Dann nahm ich das Geld und den Tribut und die Geschenke und die Gewänder und das Gold heraus, das ich ihm brachte. Da freute er sich und sprach zu mir: »Sage mir, was ich dir davon geben soll.« Darauf erwiderte ich ihm: »Ich wünsche nur dein Wohlergehen; von diesem hier brauche ich nichts. Aber höre auf mich3 und gieb mir meinen Schwestersohn Nadan, auf dass ich nach Belieben über ihn verfüge, und du sein Blut nicht von mir zurückforderst.«

Da befahl4 und gebot er, dass sie mir den Nadan gaben; den nahm ich, ging nach Hause und band und fesselte ihn mit einer eisernen Kette5 und begann, ihn hart, bitter und heftig zu peitschen. Tausend Stockschläge gab[35] ich ihm zwischen die Schultern, tausend auf den Rücken, tausend auf die Füsse und tausend auf das Herz. Dann warf ich ihn in den Abtritt, damit er den Gestank röche. Der Ausgang war an der Thür der Wohnung. Und ich gab ihm Brod und Wasser nur wenig an Gewicht und stellte ihn unter die Aufsicht des Burschen Nabuchâl. Und ich sagte zu dem Burschen: »Schreibe jedes Wort auf, das ich dem thörichten Nadan sagen will, den ich hochgeehrt habe, der dies aber nicht zu schätzen wusste, sondern mich töten und aus dem Leben beseitigen wollte.« Und so oft ich ein- und ausging, schmähte ich ihn. Dann begann ich, Chikâr, ihm zu sagen: »Mein Sohn! es heisst in den Sprichwörtern, dass man den, der nicht mit den Ohren hört, mit dem Halse zum Hören bringt.« Dann sagte er zu mir: »Weswegen bist du auf mich aufgebracht?« Ich antwortete ihm: »Weil ich dich hochgehalten und erzogen und auf den Königsthron gesetzt habe6, und du mich dann von meiner Stellung herabstiessest und meinen Tod wünschtest. Aber Gott hatte Mitleid mit mir und rettete mich.«

*Mein Sohn! Du benahmst dich gegen mich wie ein Mann, der einen Stein nahm und gen Himmel warf, um Gott zu steinigen. Wenn der Stein auch den Himmel nicht erreichte, so versündigte er sich doch gegen Gott.

Mein Sohn! Du handeltest gegen mich wie jemand, der seinen Freund vor Kälte zittern sieht und einen Eimer kalten Wassers nimmt und über ihn ausgiesst.

Mein Sohn! Hättest du mich getötet, dann hättest du an meine Stelle treten, mich beerben und mein Nachfolger sein können.

Mein Sohn! Wisse, dass, wenn der Schweif des Wildschweines und des Schweines auch sieben Ellen lang sein sollte, es doch nicht an die Stelle des Rosses treten oder[36] dessen Thätigkeit verrichten könnte; sollten auch seine Haare wie Linnen und Seide sein.

Mein Sohn! Ich sagte mir immer, dass du an meinen Platz und an meine Stelle treten, meinen Platz und mein Haus einnehmen und verwalten und meinen Besitz, mein Wissen und meine Weisheit erben würdest. Du jedoch nahmst meine Lehre nicht an und lerntest mein Wissen und meine Kenntnisse nicht.

Mein Sohn! Du benähmest dich gegen mich wie ein Vogelstock, der auf einem Misthaufen aufgestellt wurde; da kam ein Vöglein und neigte sich zu dem aufgerichteten Vogelstocke und sprach zu ihm: »Was thust du hier?« »Ich bete zu Gott«, antwortete der Vogelstock. »Was ist das für ein Holz, das du da hältst?« fragte das Vöglein. »Das ist mein Stab«, antwortete der Vogelstock, »auf den ich mich beim Beten stütze.« »Und was hast du da im Munde?« »Das ist Brod und Speise, die ich allen Hungrigen und Armen gebe, die zu mir kommen und mich besuchen.« »Dann will ich jetzt herankommen und essen, denn ich bin hungrig.« »Komm heran«, sagte der Vogelstock. Da kam das Vöglein heran und näherte sich um zu essen, und sofort packte der Vogelstock das ahnungslose Vöglein am Halse. »Wenn das dein Brod für den Hungrigen ist«, sagte das Vöglein, »dann wird Gott deine Armenspenden und Wohlthaten nicht annehmen; und wenn das dein Fasten und Gebet ist, dann wird Gott dir nichts Gutes gewähren7


Mein Sohn8! Du wurdest wie ein Scorpion, der, wenn er seinen Schwanz auf Kupfer schlägt, es durchlöchert.


Mein Sohn! Du handeltest gegen mich wie das gefangene Rebhuhn, das sich nicht mehr vor dem Vogelsteller retten kann und nun mit seiner lieblichen Stimme viele Rebhühner um sich sammelt, damit sie, wie es selbst, gefangen werden.[37]

Mein Sohn! Du benahmest dich gegen mich wie der Hund, der fror und in das Haus eines Töpfers hineinging, um sich zu wärmen. Als er aber herankam *und sich wärmte9, fing er an die Leute des Hauses anzubellen; da trieben sie ihn heraus, damit er sie nicht beisse.


Mein Sohn! Du benahmest dich wie das Schwein, das mit vornehmen Leuten in ein Bad trat und, als es dann herausging, eine stinkende Mistgrube10 erblickte, hinunterging und sich in ihr wälzte.

Mein Sohn! Du benahmest dich wie der Bock, der selbst zum Schlachten geht und seine Gefährten mitführt, und dabei sich selbst nicht retten kann.

Mein Sohn! Eine Hand, die sich nicht abmüht, arbeitet und fleissig und gewandt ist, haue von der Achselhöhle an ab.

Mein Sohn! Du benahmest dich wie der Baum, den die Leute zugleich mit seinen Zweigen fällten. Der sagte zu ihnen: »Hättet ihr nicht das in der Hand11 von mir, ihr könntet mich nicht fällen.«


»Mein Sohn! Ich stellte dich dem Könige vor, liess dich zu grossen Ehren gelangen, und du hast deinem Wohlthäter mit Bösem vergolten. Wie würdest du es erst dem vergelten und heimzahlen, der dir Böses anthäte!

Mein Sohn! Du handeltest gegen mich wie die Katze, zu der man sagte: ›Lass das Stehlen, und der König wird dir Zaumgebisse(P) von Gold und Ketten von Silber und[38] Perlen machen lassen und dir zu essen und zu trinken geben, bis du satt wirst.‹ Doch sie antwortete: ›Ich werde von der Kunst, die mein Vater und meine Mutter mich lehrten, niemals lassen‹.


Mein Sohn! Du wurdest wie ein Müder der mitten im Flusse auf einem Dornenholze ritt, da erblickte ihn ein Wolf und sprach: ›Böses auf Bösem, und was böser ist als sie, führt sie beide hin.‹


Mein Sohn! Köstliche, gute Speisen habe ich dir gegeben, und du hast mir nicht einmal mit Brod den Hunger gestillt, sondern du liessest mich in die Erde und in eine Grube setzen und stelltest eine List an, um mich umzubringen.

Mein Sohn! Ich habe dich erzogen und deine Gestalt wie eine Zeder grossgezogen, du aber fesseltest12 und beugtest mich, und brachtest mich lebendig in ein Grab. Dabei glaubte ich, mir [in dir] eine feste, hohe Burg erbaut zu haben, durch die ich vor meinen Feinden geschützt sein würde.

Mein Sohn! Ich habe dir alles Gute vermacht, und du vergaltest mir mit allem Bösen. Darum will ich deine Augen ausgraben, deine Zunge ausschneiden und mit dem Schwerte dir den Kopf abhauen, dir alles Böse vergelten und alle Schlechtigkeiten heimzahlen.«

Da antwortete Nadan und sprach: »Fern sei es, dass von dir Böses und Schlechtes ausgehe, sondern verfahre mit mir gemäss deiner Güte und Barmherzigkeit und verzeihe mir, was ich gegen dich verbrochen habe. Denn auch Gott verzeiht die Vergehen der Sündigen, wenn sie bussfertig sind. Nimm mich an, dass ich deine Pferde warte, die Schweine deines Hauses hüte und den Mist deines Hauses ausfege.«[39]

Darauf sagte Chikâr:


Mein Sohn13! Du bist wie der Baum, der am Wasser stand und keine Früchte trug. Als sein Besitzer ihn deshalb fällen wollte, sagte er: ›Versetze mich an einen andern Ort, und wenn ich dann keine Früchte trage, fälle mich.‹ Doch sein Besitzer erwiderte ihm: ›Du stehst am Wasser und trägst keine Früchte, wie willst du sie an einem andern Orte tragen!‹

Mein Sohn! Das Alter des Adlers ist besser als die Jugend des Raben.


Mein Sohn! Man brachte den Wolf in die Schule, dass er lerne. Da sagte der Lehrer zu ihm: ›Sag A‹, doch der Wolf erwiderte und sagte: ›Hammel.‹ Da sagte der Lehrer zu ihm: ›Sage B‹, da sagte der Wolf: ›Ziege‹; er sprach was in seinen Gedanken war.

Mein Sohn! Man sagte zum Wolfe: ›Entferne dich aus der Nähe *und dem Wege14 der Schafe, damit ihr Staub nicht auf dich komme!‹ Da sagte er: ›Ich werde mich nicht entfernen, denn ihr Staub thut meinen Augen wohl15‹.


Mein Sohn! Man setzte den Kopf des Esels auf den Tisch. Da fiel er hinunter und begann, sich auf der Erde zu wälzen. Da sagte .....16: ›Lasset ihn sich wälzen, denn seine Natur wird sich nicht ändern.‹


Mein Sohn! Du dürftest das Sprichwort behalten haben, das da sagt: Den du gezeugt hast, nenne Sohn, und den du erzogen hast, nenne *deinen Sclaven17.


Mein Sohn! Wer Gutes thut, dem geschieht Gutes, und wer Schlechtes thut, dem geschieht Schlechtes, denn Gott vergilt dem Menschen gemäss seinem Handeln.
[40]

Mein Sohn, etwas Schöneres und Besseres als dieses richtige Urteil giebt es nicht: Nimm deinen Schwestersohn, beschmutze ihn mit Erde und stosse ihn von einer Wand zur andern.


Mein Sohn! Was soll ich dir noch mehr als diese Worte sagen? Gott kennt ja das Verborgene und weiss das Geheime und Versteckte; darum wird er zwischen mir und dir richten und dir vergelten und heimzahlen, was du verdienst.


Als Nadan diese Worte hörte, im selben Augenblicke wurde er aufgeblasen und wurde wie ein Schlauch18, und es schwollen alle seine Glieder und Knochen, er riss an der Seite und platzte. So endete er und starb.

So trat ein, wie es im Buche der Sprüche heisst, dass Böses den trifft, der Böses thut, dass der, der seinem Nächsten eine Grube gräbt, selbst in sie hineinfällt19 und dass derjenige, der seinem Nächsten eine Falle aufstellt, sich selbst darin fängt.

1

Im Ṭôrânitexte: »von denen ich will, dass du sie mir erweisest«.

2

Im Ṭôrânitexte infolge eines Missverständnisses: »ich werde erweisen«.

3

ѕsm, das JES. dann mit, ešmo, übersetzt hat, ist wohl nur ein Schreibfehler anstatt ѕsma'.

4

Siehe oben S. 27 Anm. 2.

5

Im Ṭôrânitexte der Plural.

6

Wohl in dem Sinne wie oben p. 35 l. 9.

7

Alle diese Vergleiche fehlen bei SALḤ.

8

P. 19 l. 3.

9

Fehlt in der Ṭôrâniversion.

10

Im Texte steht ğûrat siâḳ; doch dürfte statt siâḳ – siân zu lesen sein. Im syrischen Texte steht siâna, und siân scheint nach PNSM., Thes. col. 2567 ll. 24, 27 auch im christlich-arabischen Jargon gebräuchlich gewesen zu sein oder zu sein.

11

Ich weiss nicht, was mit »das in der Hand« gemeint ist; etwa der Axtstiel? Beim Syrer sagt der Baum: »Hättest du mir nicht weggenommen und geraubt (was?), du könntest mir dein lebelang nichts anhaben« (f. 54 a unten).

12

Nach SALḤ.; 'fn im arabischen und neuaramäischen Texte giebt keinen guten Sinn.

13

P. 20 l. 3.

14

Fehlt im arab. Texte.

15

Bei SALḤ. ist die Stellung dieses und des vorhergehenden Gleichnisses mit einander vertauscht.

16

Hier dürfte eine kleine Lücke im Texte sein.

17

Im Ṭôrânitexte: »Sclave«.

18

In den Texten stehen zwei Synonyma für »Schlauch«.

19

Spr. 26, 27.

Quelle:
Lidzbarski, Mark (Hg.): Geschichten und Lieder aus den neuaramäischen Handschriften. Weimar: Verlag von Emil Felber, 1896, S. 34-41.
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