XV
Dschochi.

[248] Eine zusammenhängende Form der im Orient sehr verbreiteten Djecha- oder Djuchageschichten, die auch über ganz Europa verbreitet sind. Besonders nahe verwandt ist unsere Geschichte dem GRIMM'schen Märchen »Das Bürle« (KHM No. 61) und den ihm nahestehenden alten Einhirn- oder Unibosschwänken, deren Anfang wir oben in Stück X als besondere Geschichte fanden. Diese Schwankgruppe ist mehrfach behandelt worden; vgl. GRIMM III p. 107 ff., GÖDEKE in Germ. I p. 359 f.. R. KÖHLER in Germ. XVII p. 322 ff. und XVIII p. 152 ff., OrOc. II p. 486 ff. und in JbromengL. V p. 12 f., LIEBRECHT in ZromPh. III p. 123 und ArchfLitg. X p. 114 ff., LESKBR., LitVlM. p. 574 f., PRSOC, ṬAbd. I p. XXV, BASSET bei MOULIÉRAS, Les Fourberies de Si Djeh'a (passim), LIDZB. in ZDMG. XLVIII p. 669 f. und HARTMANN in ZVVk. V p. 59 f.


Es war einmal ein Mann, den nannten die Leute Dschochi. Eines Tages veranstaltete er ein Mahl für die Dorfbewohner; er sagte sich nämlich: damit sie ihn nicht mehr Dschochi nennen. Es kamen auch alle Dorfbewohner und setzten sich hin und assen und tranken gut. Aber ein jeder, der sich erhob, sagte: »Gott segne das Haus des Dschochi.« Da sagte er: »Mein Mahl habt ihr aufgefressen, und ihr nennt mich noch immer Dschochi!« Er hatte nun die zwei Felle von den Ochsen, die er zum Gastmahle geschlachtet hatte, die nahm er, legte sie auf seine Eselin und begab sich nach Mossul. Unterwegs überraschte ihn der Sonnenuntergang, und er musste in der Wüste zurückbleiben. Nach einer Weile kam eine Karawane von Kaufleuten und lagerte ihm gegenüber. Da nahm er seine Pfeife und begann zu pfeifen. Das hörte der Kaufmann und sagte zu den Eseltreibern: »Gehet hin, sehet, was für ein Mann das ist.« Als sie hinkamen, sahen sie dort einen Mann sitzen, bei dem eine Eselin war, und unter dessen Kopf eine Satteltasche und zwei Ochsenfelle lagen. Sie[249] gingen dann zu ihrem Herrn und sagten, es sässe dort ein Mann, der hätte eine Satteltasche, eine Eselin und zwei. Ochsenfelle. »Gehet«, sagte jener, »rufet ihn, dass er herkomme und uns auf der Pfeife etwas vorpfeife und uns unterhalte.« Die Knechte gingen hin und sagten es ihm. Aber er sagte: »Ich komme nicht, ich fürchte, dass ihr mir noch meine Satteltasche stehlet; sie ist voll Geld.« Da gingen sie zu ihrem Herrn und sagten ihm: »Er sagt so.« Dieser sagte dann: »Gehet, saget ihm, dass er komme; wenn seine Satteltasche [verloren-] gehen sollte, dann werde ich ihm dafür eine [andere] Satteltasche mit Geld füllen.« Sie gingen hin, packten ihn mit Gewalt und schleppten ihn hin. Er setzte sich hin, begann ihnen auf der Pfeife vorzupfeifen [und pfiff], bis Mitternacht. Da schliefen alle ein, und darauf erhob er sich, schüttete seine Tasche aus – es war darin nur etwas Erde –, warf sie dann unter die Tiere und legte sich hin.

Am frühen Morgen standen die Eseltreiber auf, um den Tieren Futter vorzuwerfen, siehe, da war die Satteltasche des Mannes leer und lag vor die Füsse der Tiere hingeworfen. Sie gingen und erzählten dem Kaufmann: »So liegt die Sache. Wir fanden die Satteltasche jenes Mannes leer und vor die Füsse der Tiere hingeworfen.« – »Weh euch, wie ging das zu?« – »Wir wissen es nicht«, sagten sie, und einer schob es auf den andern. Der Mann war wach, sprach aber nicht, bis sich in der Karawane ein Lärm erhob. Da erst stellte er sich, als wache er auf, erhob sich und fragte, was es gäbe. »Väterchen«, antworteten sie ihm, »wir fanden deine Satteltasche leer und vor die Füsse der Tiere hingeworfen.« »Wie?« rief er, »wusste ich nicht, dass ihr mir die Satteltasche stehlen werdet! warum denn sonst sagte ich: ›Ich komme nicht, ich komme nicht!‹ Ihr aber brachtet mich mit Gewalt her!« Da schlug er sich auf den Schädel und begann zu weinen. Hernach machte er sich auf den Weg, um eine Klage anzustrengen. Der Kaufmann aber sagte: »Bringet[250] ihn zurück.« Da gingen sie hin und brachten ihn mit Gewalt zurück, und darauf füllte ihm der Kaufmann die Satteltasche mit Geld und gab sie ihm. Er nahm sie, legte sie auf den Rücken seiner Eselin, nahm auch die Felle und mit einem Juchhe! machte er sich auf den Heimweg.

Als er eine Strecke Weges zurückgelegt hatte, warf er die Pelle weg und begab sich dann nach Hause. Die Dorfleute sammelten sich um ihn, denn siehe da, Dschochi hat eine Satteltasche voll Geld mitgebracht. »Woher hast du das Geld?« fragten sie ihn. Er antwortete: »Ich brachte die Ochsenfelle nach Mossul und verkaufte ein jedes für dreitausend Piaster. Hätte ich meine Hand länger zurückgehalten,1 dann hätte ein jedes Fell fünftausend Piaster eingebracht.« Als die Dorfleute das hörten, erhoben sich alle, schlachteten sofort ihre Ochsen und Kühe und Maultiere und überhaupt all ihr Vieh und zogen ihnen die Felle ab. »Ihr dürfet sie aber nicht einsalzen«, sagte Dschochi zu ihnen, »denn wenn ihr sie einsalzet, bringen sie überhaupt nichts ein.« Da liessen sie ihre Felle uneingesalzen und machten sich auf den Weg nach Mossul. Bis sie aber nach Mossul kamen, verwesten ihre Felle. Da kamen die Juden und boten ihnen für ein Fell sieben Piaster, zehn Piaster, so in dieser Höhe. Sie überlegten, was sie thun sollten, schliesslich gaben sie ihre Felle für Wasser weg2 und zogen ab. Nun berieten sie sich und sagten: »Wir wollen hingehen und den Dschochi totschlagen.« Doch er erfuhr das und stieg auf das Dach. Und kaum sah er sie ankommen, als er aus dem Dorfe weglief. Sie kamen ins Dorf und fragten nach Dschochi. »Dschochi hat sich davongemacht«, antwortete man ihnen. Da brachen die Dorfleute auf und verfolgten ihn.

Als er forteilte, begegnete er einem Hirten und sprach zu ihm: »Gieb mir deine Kleider, und ich will dir die meinigen[251] geben.« Der Hirte zog seine Kleider aus und gab sie Dschochi, und Dschochi gab ihm seine Kleider. Da kamen die Dorfleute, packten den Hirten, schleppten ihn an den See3 und warfen ihn hinein. Sie jubelten über ihn, bis er ertrank, und dann machten sie sich auf den Heimweg, indem sie sagten: »Geh hin, Schakal, Sohn eines Schakals, du hast unsere Häuser ruiniert.« Und sie kamen nach Hause.

Am folgenden Tage zog er seine Schafe hinter sich her – er ging voran und eine Herde Schafe hinter ihm – und kam ins Dorf. Die Dorfleute gerieten in Erstaunen: »Da ist Dschochi! Gestern haben wir ihn in den See geworfen, und heute kommt er hier an, und eine Herde Schafe hinter ihm her!« Da sammelten sie sich um ihn und fragten ihn: »Woher hast du diese Schafe?« »O, hättet ihr mich doch weiter einwärts geworfen«, erwiderte er, »dann hätte ich lauter Hammel gebracht, nicht wie diese hier, sondern wie jene da. Ihr habt mich an einer seichten Stelle hineingeworfen, und daher konnte ich nur diese herausbringen.« Da eilten alle Dorfleute an den See und stürzten sich hinein, und ihre Frauen und Kinder stellten sich am Ufer auf, um das Vieh herauszuholen. Da begannen die Männer zu ersticken und machten ›baq, baq.‹ »Was sagen sie,« fragten ihre Angehörigen den Dschochi. »Sie fragen«, erwiderte er, »›Sollen wir Hammel mit Hörnern oder .... ohne Hörner bringen?‹« Da sagten sie: »Sage: ›Sowohl von diesen als von diesen.‹« Da warteten sie eine Spanne Zeit und zwei und drei und vier, und niemand von ihnen kam heraus. »Was machen sie da?« fragten sie Dschochi. »Ich weiss gar nicht«, erwiderte er, »manche Leute sind so habgierig; ein jeder möchte durchaus tausend Stück bringen. Kommt, lasst uns nach Hause gehen. Bei ihrer Habgier werden sie noch alle ertrinken.« Sie blieben aber noch bis Sonnenuntergang da, aber kein einziger von jenen kam heraus. »Habe ich euch nicht gesagt«, rief er[252] aus, »dass sie noch alle infolge ihrer Habgier ertrinken werden!« Da streuten die Frauen und die kleinen Kinder Asche auf ihr Haupt und kehrten nach Hause zurück. Dschochi setzte sich dann hin, ass und trank und machte sich einen guten Tag, während die Dorfleute alle ertranken und auch nicht ein einziger von ihnen sich rettete.

1

D.h. davon, das dargebotene Geld anzunehmen.

2

Randglosse in C: »billig«.

3

Im Texte steht eigentlich: »die See«.

Quelle:
Lidzbarski, Mark (Hg.): Geschichten und Lieder aus den neuaramäischen Handschriften. Weimar: Verlag von Emil Felber, 1896, S. 248-253.
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