Apologie des Sammlers.

[10] Diese Märchensammlung ward mit dem in der Widmung angedeuteten Zwecke angefangen. Als sich in ihr seltene Aufklärungen über indische Volkssagen zeigten, setzte man sie fort in der Hoffnung sie auf diese Weise vor der Gefahr mündlicher Ueberlieferungen zu retten.

Obgleich in der Form von einander abweichend, bewegen sich doch die einzelnen Märchen innerhalb eines engen Gedankenkreises. Scheint es doch, als hätten sie sich absichtlich auf das beschränkt, was dem Volke am nächsten stand. Es ist auffallend, daß sie in manchen kleinen Zügen den in Europa beliebten Erzählungen gleichen, und die Hauptkennzeichen aller echten Märchen haben sich auch bei ihnen unberührt erhalten. Stiefmütter sind immer grausam, Stiefschwestern ihre bereiten Werkzeuge, Riesen und Menschenfresser immer dumm, die jüngsten Töchter klüger als ihre älteren Schwestern, und der Schakal überwindet gewöhnlich, gleich seinem europäischen Vetter, dem Fuchse, jedwedes Hinderniß und liefert ein glänzendes moralisches Beispiel von dem Erfolge des Verstandes gegenüber der rohen Kraft, dem Siege des Geistes über den Stoff.

Bemerkenswerth ist, daß in den Märchen eines Landes,[10] in dem man unserer gewöhnlichen Voraussetzung nach die Frauen nur als Kupplerinnen oder Sklavinnen betrachtet, der weibliche Einfluß, obschon er meistens hinter Coulissen in Scene gesetzt wird, sehr mächtig erscheint und sich in der Regel als gut bewährt; daß ferner in einem Reiche, wo der Despotismus einen besonders starken Druck auf die Herzen des Volkes ausübt, die Unterthanenrechte so kühn vertreten werden, wie es in den Geschichten von »der kleinen Surja Bai« und »dem Siege der Wahrheit« die alte Milchfrau und der Malee dem Rajah gegenüber thun. Und wahrscheinlich erwarten wenige Leser bei den Hindus eine Erzählung, wie die von »der tapferen Seventen Bai«1 zu finden, oder bei einem Volke, dem man jeglichen Sinn für Humor, für Komik und jedes Verständniß für einen Scherz abspricht, Märchen anzutreffen, wie die vom »tapferen Töpfer« oder »dem Blinden, dem Tauben und dem Esel.«

In der Lebensbeschreibung der Erzählerin sind Anna de Souzas Erlebnisse, so viel es anging, mit ihren eigenen Worten wiedergegeben. Sie sprach ein ausdruckvolles, aber gebrochenes Englisch. Doch theilte sie mir ihre Geschichte nicht in einer fortlaufenden Erzählung mit. Vielmehr erfuhr ich dieselbe nach und nach durch manche Unterhaltung, die ich mit ihr während der achtzehn Monate, die sie bei uns verlebte, hatte.

Ich fragte sie oft, ob es keine Geschichten gäbe von Elephanten, die wunderbare Thaten ausgeübt hätten. Man sollte meinen, daß diese klugen und starken Thiere alle zu einem Märchenhelden erforderlichen Eigenschaften besitzen müßten. Aber seltsamer Weise kannte sie keine einzige, in der ein Elephant irgend eine Rolle spielte.[11]

Was die orientalischen Namen betrifft, so sind sie meistens geschrieben, wie Anna sie aussprach. Es war häufig unmöglich ihre eigentliche Orthographie wiederzugeben, und der genau buchstabirte Name giebt nicht immer einen Begriff von der volksthümlichen Aussprache. Dasselbe gilt von den Erklärungen und der Geographie. Wie ist es möglich das zu identificiren, was sie beschrieb? Ein Versuch ist freilich gemacht worden, doch bleibt Anna für die anderen Behauptungen die einzige Autorität. Sie wußte ganz bestimmt, daß »Seventen Bai« die »Marienblumen-Dame« bedeute, obgleich kein Botaniker die Pflanze unter diesem Namen anerkennen wollte. Auch war sie davon überzeugt, daß jeder Herr, der Reisen gemacht habe, wußte, wo »Agra Brum« liege, trotzdem sie nie dort gewesen war, und in einer gewöhnlichen Zeitung weder der Name dieser Provinz noch eine Beschreibung der Stadt Akbar vorkommt.

Man darf diese wenigen Märchen, die eine alte Frau ihren Enkeln erzählte, nur als Repräsentanten einer gewissen Art ansehen. »Jene Welt«, um ihre eigenen Worte zu gebrauchen, »ist vergangen, und diejenigen, die uns in diesem phantasielosen, kritischen Zeitalter von ihr Kunde geben können, verlieren sich auch schnell vor dem vorwärtstreibenden Gange der Civilisation, und doch muß es in dem Lande noch manche reiche, unerforschte Goldgrube geben! Will keiner hingehen, um nachzugraben?«

M.F.

Apologie des Sammlers
1

Ward diese Geschichte von der weiblichen Klugheit von einer alten Frau erfunden, die über die Verachtung, welche man ihrem Geschlechte angedeihen läßt, traurig war?

Quelle:
Frere, M[ary]: Märchen aus der indischen Vergangenheit. Hinduistische Erzählungen aus dem Süden von Indien, Jena: Hermann Costenoble, 1874, S. 10-12,15.
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