klassisch

[228] klassisch – Die Umwertung aller Werte hat seit einigen Jahren auch den preislichen Begriff »klassisch« ergriffen, nicht durch Nietzsche, der bei aller Ketzerei doch ein klassischer Philologe[228] blieb, bis ans bittere Ende, mehr als er es wußte, sondern durch Albert Einstein und dessen journalistische Gefolgschaft. Wir hören da die »klassische Mechanik« der Galilei und Newton sei gestürzt worden; es wird da also eine Lehre, die vor 200 Jahren revolutionär war, in einem Atem für klassisch und für überwunden erklärt. Das arme Wörtchen »klassisch« hatte schon vorher einen wunderlichen Bedeutungswandel durchgemacht. Im Sinne von »erstklassig«, also der höchsten Steuerklasse (und Wertschätzung) entsprechend, wurde es gelegentlich schon von Spätlateinern gebraucht; wenn aber dann im frühen Mittelalter von klassischen Schriftstellern die Rede war, so wirkte ganz gewiß schon die Vorstellung mit, daß solche Meister in den Schulklassen als Vorbilder eines guten oder klassischen Latein (Griechisch wurde noch nicht gelehrt) zu gelten hätten; die Verwendung für griechische Dichter und Philosophen wurde erst später üblich, als die allmähliche Renaissance die griechische als das Muster der römischen kennen und begreifen gelernt hatte. Und gar die Bezeichnung »klassisch« für italienische, französische, englische und deutsche Dichter oder Künstler konnte erst aufkommen, nachdem je und je die Wortkünstler der neuen Nationalsprachen das gleiche Ansehen verlangten und durchsetzten, dessen sich die römischen Vorbilder in den Schulen erfreuten. Es kam endlich so weit, daß man bei »klassisch« in Frankreich zunächst an Corneille und Racine dachte (etwa seit den Kämpfen Fontenelles), später in Deutschland an Goethe und Schiller, und daß man gezwungen war, die Beschäftigung mit griechischen und römischen Schriftstellern zur Unterscheidung mit dem neugebildeten Worte »altklassisch« zu benennen. Der Buchhandel veranstaltete Klassiker-Ausgaben und erfand sogar das seltsame Wortbild »Klassiker-Format«.

Das also hätte sich kein römischer Marineminister träumen lassen, daß der alte Marineausdruck »classicus« dereinst bei den barbarischen Briten, Franken und Alemannen, ja sogar beiden neuen Römern etwa soviel heißen würde wie: meisterlich, unübertrefflich, vollkommen nach Form und Inhalt. Ein Schreiber-Ausdruck, der längst überall auf Kunst und Wissenschaft angewandt[229] wird. Wir besaßen Bibliotheken klassischer Dichter, Sammlungen klassischer Maler, neuerdings auch schon Klassiker der Philosophie und der Naturwissenschaft. Stets bezeichnete »klassisch« das höchste Lob. Hat noch niemand bemerkt, daß das nun anders geworden ist? Und nicht erst seit heute oder gestern. Schon im 18. Jahrhundert begann der Kampf: ob die Neuen oder die Alten vorzüglicher wären, Racine so klassisch sei wie Seneca oder noch klassischer. Um das Ende des Jahrhunderts kam dann der eitle Mercier und schlug die neuen französischen Klassiker tot, den argen Voltaire gleich mit. In Deutschland währte es bedeutend länger, bevor der Naturalismus (auch Mercier und seine Freunde waren Naturalisten) die Klassiker von Weimar totschlug, vor allem den meistgehaßten: »Schillerchen«. Die Werturteile waren ins Wanken geraten. Was die geistlosesten Banausen gegenüber den ältern Klassikern ihres Volkes immer empfunden hatten, daß diese Dichter nämlich in Sprache und Gesinnung oft veraltet waren, Ladenhüter, pedantische Schulbücher (classis hatte zufällig auch die Bedeutung »Schulklasse« erhalten), das lehrten jetzt die »Revolutionäre der Literatur« als neue Weisheit. Zur Zeit der freien Bühne wurde wirklich »Schillerchen« gesagt.

Und jetzt nennen die um Einstein, etwas heuchlerisch den Hut in der Hand, die Lebensleistung eines Galilei und Newton die klassische Mechanik; ein verächtlicher Unterton ist hörbar: die veraltete, die abgetane Mechanik. »Klassisch« ist also auf die Bedeutung von »veraltet« hinuntergekommen. Ich fühle mich nicht berufen, an dieser Stelle Kritik zu üben an der Einsteinschen Relativitätslehre, möchte aber doch auf eine Besonderheit dieses Wortkampfes aufmerksam machen. Zum Wesen der Klassizität scheint mir ein hoher Grad von Einfachheit zu gehören, in der Kunst wie in der Wissenschaft. Wir empfinden z.B. heute noch die unüberbietbare Einfachheit in der Darstellung seiner Geometrie bei Euklides als klassisch. Etwas Ähnliches durfte Newton von sich rühmen, als er die Grundzüge seiner mathematischen Grundlehre entwarf. Bei dieser Einfachheit konnte man nicht stehen bleiben, seitdem die[230] theoretische Physik ein besonderer Zweig der Wissenschaft geworden ist und über die Definitionen aller Grundbegriffe gestritten wird. Wir wissen nicht mehr so genau und so sicher wie Newton, was Zeit ist, was Raum, was Bewegung, was Schwerkraft. Es versteht sich von selbst, daß die Planetenbewegung heute mit etwas andern Worten beschrieben werden müßte als vor 200 Jahren. Aber Newton hatte doch Ursache zu seinem stolzen Worte: Hypotheses non fingo1. Er gebrauchte nur die Sprache seiner Zeit, mitsamt den unbewußten Hypothesen, welche in den bereiten Begriffen verborgen waren. Wenn nun Einstein z.B. ein Krümmungsmaß des Raumes annimmt, sich also auf die Seite der unvorstellbaren nichteuklidischen Geometrie stellt, so müßte er von sich bekennen: Hypotheses fingo; oder doch: terminos fingo. Ohne solche Fiktionen geht es nun einmal nicht, weder in der klassischen noch in der romantischen (zu der ich Einstein rechnen möchte) Wissenschaft. Die Wahrheit ist: man hat an der Mechanik des Himmels, die Newton so einfach wie möglich beschrieben hatte, seit 200 Jahren einige Schönheitsfehler entdeckt und wohl auch verbessert; die Mechanik des Himmels ist unverändert geblieben.

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Der immer wieder nachzitierte Satz, in der verbreiteten Übersetzung von Wolfers (S. 511) durch »Hypothesen erdenke ich nicht« wiedergegeben, steht an einer sehr bedeutungsvollen Stelle, dort, wo der fromme Newton sein Bekenntnis zu einem konfessionslosen, agnostizistischen Gottglauben ausspricht. Wir wissen von dem Pantakratos Gott nicht mehr, als ein Blinder von den Farben weiß. Newton könne auch die Gravitation nicht erklären, könne die Erscheinungen der Schwere nicht aus einem Grunde ableiten; er erfinde keine neuen Hypothesen. In meiner Sprache könnte ich das so ausdrücken: Newton habe die Erscheinung der Schwere in der adjektivischen Welt vorgfunden das Ding »Schwere« aber in der substantivischen Welt gar nicht gesucht.

Quelle:
Mauthner, Fritz: Wörterbuch der Philosophie. Leipzig 21923, Band 2, S. 228-231.
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