Fiktion

[561] Fiktion (lat. Fictio), Erdichtung, etwas Erdichtetes, im Rechtswesen (fictio juris) die gesetzliche Vorschrift, daß etwas nicht Geschehenes oder Vorhandenes als geschehen oder vorhanden zu erachten sei. Das Wesen der F. besteht also darin, daß eine Rechtsfolge, die durch Rechtsvorschrift an einen bestimmten Tatbestand angeknüpft worden ist, auch bei Vorhandensein eines bestimmten andern Tatbestandes eintreten soll. Die Gesetzgebung bedient sich der F., um in möglichster Kürze diesen Befehl auszudrücken (besonders häufig begegnen wir der F. im römischen Recht). So werden z. B. in bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten diejenigen Tatsachen, welche von einer Partei behauptet und von der Gegenpartei nicht bestritten werden, als zugestanden angesehen; im deutschen Handelsgesetzbuch (§ 377) gilt die Regel, daß bei nicht rechtzeitig erfolgter Rüge die Ware als genehmigt gilt. Die F. ist verschieden von der rechtlichen Präsumtion (s.d.; praesumtio juris, Rechtsvermutung), d. h. der Rechtsvorschrift, daß eine Tatsache, von welcher Rechtsfolgen abhängen, unter gewissen Umständen als gewiß behandelt werden muß, obwohl sie nicht erwiesen ist. In diesen Fällen bleibt demjenigen, zu dessen Schaden die Tatsache gereicht, vorbehalten, den Beweis ihres Gegenteils zu liefern. Die neuern Gesetze, insbes. das Bürgerliche Gesetzbuch, sagen statt dessen, daß auf den Tatbestand b die für den Tatbestand a gegebenen Vorschriften entsprechende Anwendung finden. Auch das Bürgerliche Gesetzbuch kennt eine Reihe von Fiktionen, vgl. z. B. § 3, 84, 142 162,212 etc.

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 6. Leipzig 1906, S. 561.
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