Gräberfauna

[197] Gräberfauna, die Tierwelt, die sich unter der Erde von menschlichen und tierischen Leichen nährt. Die Tatsache, daß die Leichen eine Speise der Würmer werden, ist seit den Tagen des Hiob ein Gemeinplatz der frommen Beredsamkeit, gleichwohl wußte man bisher wenig von den Insektenarten, die sich bis zu den in der Erde bestatteten Toten hinabbegeben. Nach dem Vorgang von Orfila und Reinhardt hat Megnin auf dem Friedhof von Ivry bei Paris 2–3 Jahre alte Gräber untersucht und zahlreiche Insektenlarven, Puppen und selbst aus gebildete Insekten gefunden, aber verhältnismäßig wenige Arten. Es besteht eine bestimmte Reihenfolge und Ablösungsordnung in ihrem Auftreten, so daß sich daraus die seit der Beerdigung der Leiche verflossene Zeit ziemlich sicher ergibt. Nur in Leichen, die weniger als zwei Jahre in der Erde gelegen hatten, fanden sich noch Zweiflüglerlarven von solchen Arten (Calliphora vomitoria und Cyrtoneura stabulans), deren Eier schon auf die unbeerdigten Leichen abgelegt worden waren. In zwei Fahre alten Leichen waren ihnen die Maden einer nicht genauer bestimmten Blumenfliege (Anthomyia) bereits gefolgt. Nur die Maden von Phora aterrima, einer ganz kleinen Mücke mit eirunden Flügeln, waren noch an der Arbeit und kaum bis zum Puppenzustand gelangt. Sie stellen wahrscheinlich jene »Wolken belebten Staubes« dar, die Orfila und andre Beobachter bei Ausgrabungen öfter den Gräbern entsteigen sahen. Manche der zweijährigen Leichen waren von Myriaden der Puppen dieser Mücken bedeckt. Gleichzeitig fanden sich die Larven einer kleinern Aaskäferart (Rhizophagus parallelicollis). Wie die Insekten zu den ca. 2 m tief begrabenen Leichen gelangen, ließ sich daraus erkennen, daß Fliegenlarven nur in Leichen vorkamen, die im Sommer beerdigt worden waren, es gelangten also die Eier auf die noch unbeerdigten Körper. Von den Larven der Phora-Mücke und des Käfers, die sich auch bei den Winterleichen eingestellt hatten, muß man annehmen, daß sie, durch ihren Geruchssinn geleitet, in die Erde eindringen und zu den Gräbern gelangen. Übrigens besuchen die Larven der Phora-Mücken mit Vorliebe die magern Leichen, die Käferlarven die setten. In der Tat findet man den Käfer meist nur im Rasen der Friedhöfe, und man hielt ihn, wie der Name besagt, weil er aus der Erde hervorkommt, für einen Wurzelfresser. Vielleicht kommt er auch nur aus der Erde empor, um sich zu begatten. Außer den genannten regelmäßigen Grabbewohnern fanden sich noch zwei Thysanuren: Achorutes armatus und Templetonia nitida, und ein Tausendfuß (Julus-Art), die vielleicht nur Gelegenheitsgäste darstellen. Reinhardt in Dresden fand noch eine Fliege: Homalomyia scalaris, einen Käfer: Trichonyx sulcicollis, und Fadenwürmer (Pelodera strongyloides). Er beobachtete, daß Leichen in Sand- und Kiesboden häufiger und zahlreicher von Insekten heimgesucht werden als in dichtem, fettem Lehm. Vgl. Megnin, La faune des cadavres (Par. 1894).

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 8. Leipzig 1907, S. 197.
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