II.

Johann Bach, der älteste jener drei Söhne, wurde am 26. Nov. 1604 in Wechmar geboren. »Da nun sein Vater Hans Bach«, erzählt die Genealogie, »wenn er an obbenannte Oerter [s. S. 9] ist verlanget worden, ihn vielfältig mitgenommen, so hat einsmals der alte Stadtpfeifer in Suhl, Hoffmann genannt, ihn persuadiret, seinen Sohn ihm in die Lehre zu geben, welches auch geschehen; und hat er sich daselbst 5 Jahr als Lehrknabe, und 2 Jahr als Geselle aufgehalten.« Danach scheint er in dem immer lauter werdenden Kriegsgetümmel ein unstetes Leben geführt zu haben. Die Genealogie giebt an, er habe sich von Suhl nach Schweinfurt gewendet, wo er Organist geworden sei. Allein schon 1628 taucht er in Wechmar als »Spielmann« [15] auf und ebenso wieder im Jahre 1634, aber schwerlich war er dort ansässig, weil er sich sonst wohl einen eignen Hausstand gegründet haben würde. Die Art, wie er dies endlich that, läßt wiederum auf ein Verweilen in Suhl schließen, wo er vielleicht anstatt des alten und in den dreißiger Jahren des Jahrhunderts verstorbenen Hoffmann zeitweilig als Stadtpfeifer fungirte. Denn die Zunftmäßigkeit, welche auch in der Musik herrschte, brachte es mit sich, daß ein junger Meister seine Braut zunächst aus den Töchtern der Innungsgenossen wählte und häufig dadurch in die Stellung des Schwiegervaters hinein heirathete. So vermählt sich auch Johann Bach am 6. Juli 16351 mit Barbara Hoffmann, »seines lieben Lehrherrn Tochter«, und wurde in seinem Heimathdorfe getraut. In demselben Jahre wurde er als Director der Rathsmusikanten nach Erfurt berufen. Dieses, damals noch freie Reichsstadt, konnte auch schon genug von Kriegsschicksalen erzählen. Nach der Schlacht bei Breitenfeld (1631) war Gustav Adolph dort am 22. Sept. eingezogen und hatte nach vier Tagen eine Besatzung zurückgelassen, welche sofort eine allgemeine, wenn auch eigentlich nur auf die Katholiken abgesehene Plünderung und Mißhandlung der Einwohner begann. Auch des Nachts stahlen sie und brachen ein; kein Wächter durfte sich auf der Straße sehen lassen, und die öffentliche Unsicherheit stieg auf das Höchste2. Hernach kehrte wohl etwas Ordnung wieder zurück, allein die Contributionen und das wüste Soldatenwesen demoralisirte die Bürger mehr und mehr, nicht zum wenigsten natürlich auch die Stadtpfeifer-Zunft, für welche es eine Hauptaufgabe war, bei öffentlichen oder privaten Gelagen die nöthige Musik zu machen, und die dadurch zum nächsten Zeugen gesteigerter Rohheiten wurde, welche bei solchen Gelegenheiten nie ausblieben. Kurz bevor Johann Bach seinen Posten antrat, am 27. Febr. 1635, ereignete es sich, daß ein Bürger Namens Hans Rothländer einen Soldaten von der Straße mit sich in sein Haus genommen. Er »vermochte«, wie eine handschriftliche Erfurter Chronik erzählt3, »die Stadtpfeifer, weil der Meister sein Gevatter war, ihm zu Gefallen aufzuspielen, welches eigentlich verboten war. Als [16] sie alle ziemlich berauscht sind, streckt sich der Soldat, der ein Cornet aus Jena gebürtig war, auf die Bank und schläft ein. Rothländers Frau weckt ihn auf in der Absicht mit ihm zu tanzen; er fährt im Schlaf auf und ruft: ›was, ist der Feind vorhanden?‹ nimmt den Messing-Leuchter, schlägt den nächst gelegenen drei Wunden in den Kopf und eine Schmarre in den Backen, wodurch das Licht verlöscht. Er ergreift seinen Degen, sticht hinterwärts den andern durch und durch, faßt einen Musikanten aus Schmalkalden, der ein vorzüglicher Spieler war, sticht diesen durch den Leib, daß er nach 12 Stunden darauf starb und auf dem Kaufmanns-Kirchhof begraben wurde«4. Es wäre möglich, daß bei dieser Metzelei auch der Meister der Zunft umgekommen und Bach an dessen Stelle getreten wäre. Im Herbst des Jahres schien mit dem Prager Frieden eine bessere Wendung für die Stadt einzutreten: die schwedische Besatzung zog ab, und es wurde ein allgemeines Friedensfest gefeiert. Aber schon im folgenden Jahre warfen sowohl die Kaiserlichen, als die Kursächsischen, als die Schweden ihr Auge wieder auf diesen für militärische Operationen wichtigen Stützpunkt. Bach wurde mit seinen Leuten auf die Haupt-Thürme commandirt, »allda ihre Wache zu gemeiner Stadt Nutz mit Ernst und allem Fleiß abzuwarten«. Fässer, mit Reisig und Stroh gefüllt, wurden an exponirten Punkten aufgestellt, und den Wachen befohlen, sie anzuzünden, sobald sich etwas verdächtiges zeige; dann »sollte es der Stadt-Pfeifer Losung seyn, und mit Macht blasen, damit sich alles Volk ermuntere, und zum Gewehr greife«5. Jedoch der schwedische General Banér nahm im December die Stadt nach kurzer Belagerung, und nun blieben die Schweden dort bis nach dem westphälischen Frieden, mit Streifzügen und Ueberfällen in der Umgebung sich die Zeit vertreibend. Nachdem sie endlich 1650 abgezogen waren und die dringend ersehnte Ruhe wiederzukehren schien, veranstaltete der Rath ein wochenlanges Frieden- und Dank-Fest, bei welchem mitzuwirken für die Musiker eine würdige Aufgabe war. Es wird erzählt, daß »aus den berühmtesten Componisten, Praetorio, Scheid, Schützen, Hammerschmidt, die schönsten Concerte und prächtigsten Motetten musiciret wurden in jeder Kirche«. Von den [17] Kirch- und Wachthürmen, die mit weißen Fahnen und Zweigen geschmückt waren, erschollen Trompeten und Pauken, Kinderschaaren mit Kränzen auf dem Haupte und Palmenzweige tragend zogen unter Lobliedergesang zum Gotteshause. Sodann wurde auf einer im Freien errichteten Schaubühne, die mit Birken geziert war »mit allerlei Instrumenten, beneben einem Actu, was Frieden und was Krieg bringe? in ansehnlicher Versammlung musiciret, da Jedermann den Choral mitgesungen«, dazwischen Trompeten und Trommeln, und Freudenschüsse der endlich erlösten, dankend aufathmenden Bürgerschaft6. Aber zu hart hatte der Krieg auf der unglücklichen Gemeinde gelastet: die Stadt war tief verschuldet, die reichsten Patrizier verarmt, und unter den geringeren Leuten ließen Hunger und bittre Noth nicht nach. Schlimmer als das war die völlige Erschöpfung auch aller geistigen und sittlichen Energie. Der Krieg selbst hatte größtentheils mit einer noch gesunden Volkskraft zu thun gehabt, die folgende Periode traf nur ein entartetes und haltloses Geschlecht. Anstatt sich zu strenger Arbeit zu sammeln, ergab man sich gedankenlosem Genuß, und je zerrütteter die Verhältnisse wurden, einem immer sinnloseren Aufwande. Daneben nahm der Einfluß eines wilden Pöbels in bedrohlicher Weise zu: einsichtsvolle Männer wurden aus der Stadt vertrieben oder mißhandelt, so daß ein Bürger im Jahre 1663 schreiben konnte, die Stadt befände sich jetzt in einem so jämmerlichen Zustande, der »weder mit der Feder zu beschreiben noch mit Menschen-Zungen auszusprechen« sei, und prophezeien, es werde Erfurt wie einst Jerusalem seinem Untergange nicht entgehen7. Endlich hatte der Kurfürst von Mainz anläßlich der Leitung des Gemeindewesens erhöhte Rechte geltend gemacht, und wurde vom Kaiser darin unterstützt. Die fanatische Widerspenstigkeit des Volkes, welches einen Schützling des Kurfürsten ermordete und den Herold des Kaisers beschimpfte, veranlaßte schließlich die gewaltsame Unterwerfung der Stadt, welche von 1664 an ihre Selbständigkeit an Mainz verlor. Seit dieser Zeit trat allmählige Hebung des Wohlstandes und ein Zurückkehren geordneter Verhältnisse ein.

Johann Bach hat den größten und wichtigsten Theil seines Lebens in Erfurt verbracht. Die von ihm gegründete Familie hat sich [18] schnell vergrößert und ein Jahrhundert so ausschließlich in den Besitz der dortigen Stadtpfeifer-Stellen gesetzt, daß auch in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts noch die Stadt-Musikanten den Namen »die Bache« trugen, obwohl keiner dieses Namens in Wirklichkeit mehr darunter war8. Erfurt wurde neben Arnstadt und Eisenach ein Haupt-Sammelpunkt der großen Bachschen Familie, deren merkwürdig starkes Gefühl von Zusammengehörigkeit gewisse Centralstellen entstehen ließ, um ein gemeinsames Wirken zu ermöglichen. In dem flüchtig skizzirten Bilde eines 40jährigen Zeitraums städtischer Geschichte halten wir zugleich das Leben des Mannes selbst, dessen Stellung eine stetige Berührung mit den losgebundenen und erregten Gemüthern des Volkes mit sich brachte. Was sie irgend bewegte, mußte auch ihn von allen Seiten treffen, und aus dem Leidenschaftsstrudel, in welchem er stand, aus jenem wüsten und hohlen Treiben, dessen Lust- und Freudenäußerungen nur die eigne Jämmerlichkeit übertäuben sollten, sich Sittlichkeit, Lebensernst und Würde zu retten mußte doppelt schwierig sein. Und dies gilt gleichermaßen von allen seinen Geschlechtsgenossen, die in ähnlicher Thätigkeit neben ihm standen. Dazu seufzten sie mit allen unter der allgemeinen Noth und Armuth.

In dem Familienleben Johann Bachs fehlte das Unglück eben so wenig. Seine erste Gattin brachte ein todtes Kind zur Welt und starb gleich darauf selbst. Kurz nachher führte er ein zweites Weib heim, Hedwig Lämmerhirt, aus einem Geschlechte, das uns späterhin noch begegnen wird. Der Tod fuhr fort bei ihm einzukehren; im Jahre 1639 entriß er ihm einen Sohn, vermuthlich den Erstling der zweiten Ehe, andere Kinder folgten in den Jahren 1648 und 1653 nach. Inzwischen verlor er aber seine echt Bachische Gesinnung nicht. Sein alter Lehrmeister und erster Schwiegervater, der Stadtpfeifer Hoffmann in Suhl, war gestorben und hatte einen unmündigen Knaben zurückgelassen; ein Jahr darauf folgte auch die Mutter, und das Kind war völlig verwaist. Da war der Schwager gleich bei der Hand, nahm den jungen Christoph Hoffmann zu sich ins Haus, und weil er Lust und Anlage zur Musik zeigte, unterwies er ihn fleißig [19] und mit solchem Erfolg, daß der Jüngling bald in weiterem Kreise Aufsehen erregte. Dies ist auch ein Haupt-Anhaltepunkt zu einem genaueren Schlusse auf Bachs eigne Tüchtigkeit. Zwar schon seine Stellung an der Spitze des Musik-Corps einer bedeutenden Stadt kennzeichnet ihn als einen Mann von höherer Leistungsfähigkeit, auch wird ihm von seinen Zeitgenossen das Prädicat eines »wohlberühmten Musikanten« nicht versagt. Zu jener Zeit befand sich sein Bruder, Christoph Bach, der Sebastian Bachs Großvater werden sollte, im Dienste am Hofe zu Weimar. Dieser wurde, wenn wir die fragmentarischen Nachrichten uns etwas zurecht legen und verbinden dürfen, die Veranlassung, den talentvollen Zögling dort zu produciren. Herzog Wilhelm wollte ihn gleich in der Capelle behalten, und bot seinem Lehrer für die ertheilte Unterweisung hundert Thaler an. Es spricht wiederum für Johann Bach und sein Haus, daß Hoffmann hierauf nicht einging: er verstand sich nur dazu, von Zeit zu Zeit in Weimar zu erscheinen und bei musikalischen Aufführungen mitzuwirken, übrigens blieb er seinem Schwager sechs Jahre als Lehrling und noch ein Jahr als Gesell treu, und bildete sich nach allem was wir wissen zu einem tüchtigen Musiker aus9. Wenn berichtet wird, daß er in Erfurt sowohl in der Instrumental- wie Vocal-Musik fleißige Fortschritte gemacht, so bezieht sich letzteres zunächst nur auf jenen rohen und naturalistischen Gesang, der als ein Theil des Musikanten-Handwerks mit erlernt werden mußte, da bei den sogenannten »Aufwartungen« auch nicht selten der Vortrag von Liedern verlangt wurde10, und der sich daher wohl an der Fertigkeit[20] des raschen Notenlesens und sichern Treffens meistens genügen ließ, welche sich mit der instrumentalen Uebung beinahe von selbst einstellen mußte. In einem Verhältniß zur kirchlichen Musik stand Johann Bach nur in indirecter, wenn auch innerlich nicht minder bedeutsamer Weise als Orgelspieler: er wurde, wahrscheinlich vom Jahre 1647 an, Organist an der Prediger-Kirche, und bewährt auch hierdurch eine vielseitige Tüchtigkeit. Der mit solchen Stellen verbundene Gehalt war, besonders in jener Zeit, gering, und was festgesetzt war, wurde sehr häufig nicht einmal ausgezahlt. Zum großen Theile waren Organisten und Cantoren auf Natural-Lieferungen angewiesen; oft genug freilich blieben selbst diese aus. Bach hatte seit 1647 eine jährliche Lieferung von einem Malter Korn zu fordern, im Jahre 1669 mußte er sich beim Rath beschweren, daß er in 22 Jahren nicht mehr als einmal zu dem Seinigen gekommen sei11. Er starb am 13. Mai 1673 im 69. Lebensjahre12. Als Stadtmusikant und Organist vereinigte er in seiner Person die beiden Richtungen, nach welchen in der Folgezeit die deutsche Musik durch Sebastian Bach sich zur herrlichsten Blüthe entwickeln sollte, das weltliche Instrumental-Spiel und die religiöse Tonkunst. Stand er mit der kirchlichen Vocal-Musik nicht als Cantor im unmittelbarsten Contact, so hat diese auch zu dem, was sie durch seinen großen Nachkommen wurde, die hauptsächlichste Kraft aus der entwickelten Orgel-Kunst gezogen. Seine Brüder und die meisten seiner Kinder und Abkömmlinge cultivirten vorzugsweise je einen von beiden Zweigen, bis wieder Sebastian das ganze genannte Gebiet, wenn auch nicht immer seinen äußern Stellungen nach, umfaßte. Durch eine lange unselige Zeit hindurch war Johann Bach das Haupt der Bachschen Musikanten-Familie, er hatte erlebt, wie dieselbe sich ausbreitete und gedieh und außer in Erfurt auch in Arnstadt und Eisenach tiefe Wurzel schlug. Von nun an begann zwischen diesen drei Städten ein emsiges Hin- und Herziehen: wo es dem einen gelang, dahin zog er den andern nach, und durch Verschwägerungen und andere Familienbande befestigten sie sich mehr und mehr in dem Gefühl eines enggeschlossenen patriarchalischen Gemeinwesens.

[21] Der älteste am Leben erhaltene Sohn Johann Bachs, Johann Christian, geb. 25. Aug. 164013, lernte und wirkte zuerst unter seines Vaters Leitung in der erfurtischen »Musikbande«, und wandte sich von dort nach Eisenach, als der erste seines Geschlechtes an diesem Orte. Hier heirathete er zunftmäßig Anna Margaretha Schmidt, die Tochter des dortigen Kunstpfeifers, am 28. Aug. 166514. Mit Ausfüllung seines Platzes in Erfurt – er spielte Bratsche – beeilte der Rath sich nicht, dem in jener Zeit ganz andre Dinge den Kopf erfüllten, erst 1667 trat sein Vetter Ambrosius für ihn ein15. Im folgenden Jahre aber war er schon wieder in Erfurt; hier schenkte ihm sein Weib einen Sohn, Johann Jakob16, welcher sich heranwachsend zu seinem Oheim Ambrosius, Sebastian Bachs Vater, zurück nach Eisenach begab, wo derselbe mittlerweile Stadtpfeifer geworden war, und dort als Hausmanns-Gesell im Jahre 1692, 24 Jahr alt starb17. (Hausmann ist der damals allgemein übliche Ausdruck für Spielmann oder Musikant.) Weiter brachte es ein zweiter Sohn, Johann Christoph (geb. 1673); dieser wurde Cantor und Organist in Unter-Zimmern, einem Dorfe nordöstlich von Erfurt, verheirathete sich 1693 mit Anna Margaretha König, und erhielt 1698 die Cantor-Stelle in Gehren, südlich von Arnstadt, wo sein Name durch den unlängst verstorbenen trefflichen Michael Bach, dessen eine Tochter später Sebastian Bachs erste Frau wurde, im besten Andenken stand. Er war ein gebildeter Mann, hatte Theologie studirt und schrieb eine schöne fließende Hand. Trotzdem machte er seinem Geschlechte wenig Ehre. Er hatte einen zänkischen, halsstarrigen und hochmüthigen Charakter, und kehrte diesen in unvortheilhafter Weise auch gegen seine Vorgesetzten heraus, was ihm unter anderm einen längern Arrest, ja von Seiten des Arnstädter Consistoriums die [22] Androhung der Remotion zuzog. Doch war auch wohl von Seiten der Behörden manches gegen ihn versehen18. Er starb dort 172719. – Johann Christian wurde nach seines Vaters Tode Director der Raths-Musikanten in Erfurt; er verlor bald darauf seine erste Frau und ehelichte danach eine Wittwe, Anna Dorothea Peter (11. Juni 1679), von welcher er noch eine Tochter Anna Sophia, und einen Sohn Johann Christian erhielt; letzterer wurde 1682 geboren, in seines Vaters Todesjahr20.

In die leer gewordene Stelle rückte der jüngere Bruder Johann Aegidius, der zweite lebend gebliebene Sohn Johann Bachs (geboren 9. Febr. 1645). Schon unter dem Directorium des Vaters hatte er im städtischen Musik-Corps seinen Platz gefunden, da er im Herbst 1671 anstatt seines Vetters Ambrosius Bratschist wurde21. Seine Braut holte er sich am 9. Juni 1674 von Arnstadt, wo damals sein Oheim Heinrich als Organist in hohem Ansehen stand, über welchen bald ausführlich gesprochen werden soll. Es war dies aber die Schwester der Frau seines Bruders Johann Christian: Susanna Schmidt, deren Vaterunterdeß von Eisenach nach Arnstadt gezogen sein muß22. Dieser Zug, daß die jüngeren Brüder die Schwestern der Gattinnen ihrer ältern Brüder sich vermählen, und auch in dieser Hinsicht treuherzig die Wege nachwandeln, welche jene vorher erprobt haben, hat etwas ungemein patriarchalisches und wird uns noch mehre Male entgegen treten. Bei dieser Gelegenheit erscheint Aegidius als Stadt-Musikant [23] und Organist; er hatte seitdem auch den Dienst an der Orgel der St. Michaelis-Kirche überkommen, und war in dieser doppelten Function ganz in die Fußtapfen seines Vaters getreten. Er starb betagt im Jahre 171723, nachdem er sich am 24. Aug. 1684 zum zweiten Male mit Juditha Katharina Syring vermählt hatte. Von seinen neun Kindern, deren Namen aufzufinden waren, fünf Söhnen und vier Töchtern, haben nur die ersteren für uns Interesse; von diesen aber erreichten, wie es scheint, nur zwei das Mannesalter, Johann Bernhard und Johann Christoph24. Ersterer (geb. 23. Nov. 1676) bekleidete das Organisten-Amt an der Kaufmanns-Kirche zu Erfurt, und wurde darauf für eine gleiche Stellung nach Magdeburg berufen. Läßt schon dieses Heraustreten aus dem heimathlichen Kreise eine besondere Tüchtigkeit vermuthen, so macht die Thatsache, daß man ihn 1703 in Eisenach als Nachfolger des hochbedeutenden Johann Christoph Bach annehmen konnte, eines Mannes, der noch später unsere ganze Aufmerksamkeit auf sich ziehen wird und nach Seb. Bach der größte Musiker des Geschlechtes gewesen ist, jene Annahme zur Gewißheit. Neben seiner Organisten-Thätigkeit fungirte er auch als Kammer-Musicus in der Capelle des Herzogs Johann Wilhelm von Sachsen-Eisenach, grade so wie das sein Vetter Sebastian Bach eine Weile mit ihm gleichzeitig in Weimar thun mußte25; hier wird er, wozu unter ähnlichen Umständen die Organisten häufig gebraucht wurden, Cembalist gewesen sein26. Daß man seine Leistungen in Eisenach wirklich zu schätzen wußte, geht daraus hervor, daß sein aus 60 Thalern bestehender und allerdings bescheidener, aber für die dortigen und damaligen Verhältnisse nicht ungewöhnlich niedriger Jahresgehalt ihm 1723 auf hundert Thaler erhöht, also fast verdoppelt wurde. Dieselbe Summe bezog er noch 1741 und wird sie, obgleich wegen des Aussterbens der Eisenacher Linie in diesem Jahre die Capelle aufgelöst wurde, wohl ungeschmälert [24] bis zu seinem Tode fortbezogen haben. Dieser erfolgte am 11. Juni 174927. Johann Bernhard Bach war nicht nur ein tüchtiger Spieler, sondern auch ein geschätzter Tonsetzer. Es sind noch von ihm vier Orchestersuiten, einige wenige Clavierstückchen und eine mäßige Reihe von Choralbearbeitungen erhalten28. Hiernach zu urtheilen, gehört er als Orgelcomponist zu den tüchtigsten seiner Zeit, wenn auch nicht zu den ursprünglichsten. Denn er wandelte ganz in den Bahnen Johann Pachelbels, von denen in einem späteren Abschnitte die Rede sein wird. Eine Behandlung des Chorals: »Du Friedefürst, Herr Jesu Christ«, in fünf Partiten, ist in der damals allgemein-üblichen Weise der Choralvariationen gehalten, zeigt aber manchen hübschen Einzelzug. In den übrigen wird ein Cantus firmus contrapunctirt, zwischen den einzelnen Zeilen und am Anfang des Ganzen ertönen Sätzchen, die aus der nächstfolgenden Choralzeile motivisch gebildet sind. Am wenigsten befriedigen die zweistimmigen (»Wir glauben all an einen Gott«; »Jesus, Jesus, nichts als Jesus«; »Helft mir Gott's Güte preisen«), der Contrapunct bewegt sich zuviel in reizlosen gebrochenen Accorden; unter den letzten vier (»Wir glauben all«, noch zweimal; »Christ lag in Todesbanden«; »Vom Himmel hoch da komm ich her«) tritt einmal die Melodie im Basse auf, hier ganz besonders auch in der Art der Contrapunctirung an Pachelbel erinnernd, doch geht es nicht ohne einige Härten ab. Am gelungensten ist wohl das Weihnachtslied, wo zu dem im Tenor auftretenden und durchaus geschickt geführten Chorale eine jubilirende Oberstimme sich auf- und abschwingt. Ein Freund seines Sohnes lobte seine Arbeiten mit den Worten, sie seien nicht schwer, aber doch ganz fein29. Auch gab es dergleichen von ihm, wo zur Darstellung [25] des Cantus firmus ein anderes Instrument zugezogen war, ein Verfahren, welches mehrfache Anwendung in jener Zeit fand, aber nicht von feinem Geschmacke zeugt30. Eine besondere Begabung für die betreffende Gattung verrathen aber die Orchestersuiten, oder wie man sie damals nach ihrem Anfangs-Stücke auch zu benennen pflegte, die »Ouverturen«. Die Handschriften, in welchen sie erhalten sind, stammen wenigstens zum größten Theile mit Sicherheit aus Seb. Bachs Hinterlassenschaft, zu dreien von ihnen hat er eigenhändig den größten Theil der Stimmen geschrieben und zwar in Leipzig zur Zeit eigner höchster Meisterschaft – ein deutliches Anzeichen für den Werth, welchen er diesen Compositionen beimaß! In den eigentlichen Ouverturen, den einleitenden Stücken dieser Instrumental-Suiten zeigt Bernhard Bach so viel Kraft und Feuer, daß er hinter den besten Opern-Ouverturen jener Zeit, z.B. Händels zum Radamist, Lottis zum Ascanio, nicht zurückbleibt, während er an Geist und Reichthum ihnen voransteht und hier nur durch Sebastian Bach selbst übertroffen wird. Die durchweg vorzüglichste der Suiten ist diejenige aus G moll, für concertirende Violine, Violine 1 und 2 ripieni, Viola, Continuo; das Fugenthema der Ouverture


2.

stimmt merkwürdiger Weise fast genau überein mit dem Anfang von Sebastian Bachs Flötensonate in H moll31; es wird durch 142 Takte ausgeführt und mit geistreicher Verwebung der Solo-Geige. Im folgenden Air erfreut ein schöner freibewegter Gesang der concertirenden Violine; dem Haupt-Thema des sich anschließenden Rondeau


2.

2.

[26] wird man zugestehen, daß es Kopf und Fuß hat. Außer einer Loure und einem Passepied enthält diese Suite noch eine wunderschöne, in der That Sebastians würdige Fantasia, und zwar in einem so flüssigen und gewandten Stile, wie er nur einer voll entwickelten Kunst eigen ist32.

Von Johann Bernhards jüngerem Bruder (geb. 15. Aug. 1685) ist nur zu sagen, daß nach Aegidius Bachs Tode das Amt des Dirigenten der Rathsmusik auf ihn überging, und er dieses im Jahre 1735 noch bekleidete33.

Rasch können wir auch über die beiden letzten Söhne des alten Johann Bach hinweggehen. Der dritte, Johann Jakob (26. April 1650 geb.) scheint kein Musiker gewesen zu sein, und kommt nur noch einmal am 5. Nov. 1686 im Pfarr-Register zum Vorschein. Der letzte, Johann Nikolaus (geb. 1653)34 dagegen war wieder Rathsmusikant und ein sehr guter Gambenspieler; als er mit Sabina Katharina Burgolt die Ehe geschlossen hatte (29. Nov. 1681), und ihm Jahrs darauf ein Sohn geboren wurde (31. Aug. 1682), wählte er sich das Pflegekind seines Vaters, Johann Christoph Hoffmann aus Suhl zum Pathen35. In demselben Jahre starb er aber an der Pest36, und wir haben den letzten Sproß der Johann Bachschen Linie vorgeführt, soweit diese für die Kunstgeschichte in Betracht kommt.

Fußnoten

1 Pfarr-Register zu Wechmar.


2 Falckenstein, Civitatis Erfurtensis Historia Critica Et Diplomatica. Erfurt, 1740. II, S. 703 ff.


3 Tit. II. A. 2. der Magistrats-Bibliothek zu Erfurt.


4 Vergl. Hartung, Häuser-Chronik der Stadt Erfurt, 1861. S. 162.


5 Falckenstein, a.a.O. S. 716.


6 Hundorph, Encomium Erffurtinum. 1651.


7 Falckenstein, a.a.O. S. 911 und 915.


8 Adlung, Anleitung zu der musikalischen Gelahrtheit. Erfurt, 1758. S. 689, Anm. f.


9 M. J.L. Winter, Leichenpredigt auf Joh. Christoph Hoffmann, gehalten am 21. Nov. 1686. Schleusingen, Seb. Göbel. – Hoffmann betrieb später in seiner Vaterstadt neben der Musik den Waffenhandel, wie auch sein Vater gethan.


10 Diese Sitte wird ausdrücklich bezeugt in dem »lustigen Cotala« (»Der wohlgeplagte, doch nicht verzagte, sondern jederzeit lustige Cotala, oder Musicus instrumentalis, in einer anmuthigen Geschicht vorgestellet.« Freyberg, 1690. Neugedruckt 1713), dessen Verfasser kein geringerer als Joh. Kuhnau sein soll (Adlung, Anleitung u.s.w. S. 196). Es heißt dort S. 118: »den ersten Tag des Beylagers gieng es noch ziemlich reputirlich zu, und erwarb ich nicht ein schlechtes Lob mit meinem Singen. Denn ich hatte bey mir die allerverliebtesten, benebenst auch die allerpossirlichsten Lieder und Arien, welche die vornehmsten Herren und das löbliche Frauenzimmer mit sonderbarer Belustigung und Vergnügung anhöreten.«


11 Protokolle des Raths zu Erfurt vom 14. Juni 1669.


12 Pfarr-Register der Kaufmanns-Kirche zu Erfurt.


13 Pfarr-Register der Kaufmanns-Kirche. Sie sind eine Hauptquelle für Daten, welche die Erfurter Bachs betreffen, und alle, bei denen im Folgenden nichts weiter bemerkt ist, sind daher genommen. Sie geben übrigens nicht den Geburts- sondern immer nur den Tauftag an; der Regel nach erfolgte hier die Taufe zwei Tage nach der Geburt und diese Berechnung liegt allen meinen Angaben zu Grunde.


14 Eisenacher Pfarr-Register.


15 Raths-Protokolle vom 12. April d.J.


16 Nach der Genealogie.


17 Eisenacher Pfarr-Register.


18 Fürstl. Archiv zu Sondershausen: Gehrener Bestallungen fol. 38, und Nr. 6. Den Cantor zum Gehren anbetr. fol. 8.


19 Zwei Söhne von ihm lebten in Sondershausen, die auch hier den Zusammenhang mit der großen Familie festhielten, und sich bei etwaigen Geburten ihre Vettern aus Erfurt und Mühlhausen zu Pathen nahmen (s. Tauf-Register der Trinitatis-Kirche unter dem 15. März 1719). Der ältere Johann Samuel (geb. 1694) wurde 1720 Schulmeister in Gundersleben und starb noch in demselben Jahre (s. Schulacten von Gundersleben im fürstl. Archiv). Der zweite Johann Christian (geb. 1696) starb nach der Genealogie ebenfalls jung. Ein dritter Sohn Johann Günther (geb. 1703) war ein guter Tenorist und 1735 Lehrer in der Kaufmannsgemeinde zu Erfurt. Die Geburtsjahre sind nach dem Stammbaum des Fräulein Emmert in Schweinfurt.


20 Angabe der Genealogie.


21 Raths-Protokolle vom 27. Oct. d.J.


22 Im Eisenacher Pfarr-Register heißt der Vater Christoph, im Arnstädter Christian Schmidt. An der Identität ist gleichwohl nicht zu zweifeln.


23 Dies Datum nach der Genealogie.


24 Die andern waren Johann Christoph (2. April 1675), der als Kind gestorben sein muß, Johann Caspar (7. Juni 1678), Johann Georg (6. Jan. 1680).


25 Nach Walther, der die Angaben von Bernhard Bach selbst erhalten haben wird.


26 Ausdrücklich wird dies z.B. vom Hof-Organisten Vogler in Weimar, Sebastian Bachs einstigem Schüler, b zeugt in einem Pro Memoria Ernst Bachs vom 21. Nov. 1755 (Haupt-Archiv zu Weimar).


27 Nach Acten des Haupt-Archivs in Weimar; das Todesjahr nach Adlung, a.a.O. S. 689.


28 Ich kenne deren acht; sie stehen in den Sammlungen zerstreut, die der fleißige weimarische Organist und Lexicograph Johann Gottfried Walther eigenhändig angefertigt hat. Drei Bände solcher gesammelter Choralbearbeitungen bewahrt die königl. Bibliothek in Berlin, eine vierte die königl. Bibliothek in Königsberg i. Pr. (15839; s. den Katalog von J. Müller Nr. 499, S. 71), die fünfte und umfangreichste endlich, 365 Seiten in Querfolio enthaltend, ist im Besitze des Herrn Musik-Director Frankenberger in Sondershausen, der sie mir zu uneingeschränkter Benutzung freundlichst überlassen hat. Die Orchestersuiten sind sämmtlich auf der königl. Bibliothek in Berlin.


29 Adlung, a.a.O.


30 E.L. Gerber, Neues historisch-biographisches Lexicon der Tonkünstler Leipzig, 1812. 1. Th. Spalte 202. – Adlung, a.a.O. S. 687.


31 B.-G. IX. S. 3. – P. Ser. III, Cah. 6, Son. I.


32 S. Anhang B. II.


33 Die Genealogie führt drei Söhne von ihm an: Joh. Friedrich, Joh. Aegidius (beide wurden Schullehrer), Wilhelm Hieronymus. Der älteste ist nach der Kittelschen und Korabinsky'schen Stammtafel 1703 geboren (?).


34 Nach der Genealogie.


35 Der Sohn hieß auch Johann Nikolaus, wurde Chirurg und lebte in Ostpreußen. In eben jene Gegend – nach Insterburg und Marienwerder – zogen sich theilweise die Nachkommen von Johann Ernst Bach aus Eisenach.


36 Genealogie.

Quelle:
Spitta, Philipp: Johann Sebastian Bach. Band 1, Leipzig: Breitkopf & Härtel, 1873.
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