Karibu (Tarandus Caribu)

[120] Einige Naturforscher nehmen an, daß die in Amerika vorkommenden Renthiere einer besondern Art angehören, und unterstützen ihre Meinung dadurch, daß auch das europäische Ren auf der Westhälfte zu finden und sich durch Größe, Färbung und Lebensweise unterscheide. Der Karibu (Tarandus Caribu) soll größer sein als das Ren, ein kleineres Geweih und dunklere Färbung haben, einsamer, vorzugsweise in Wäldern leben und nicht wandern.

Schon die Alten kannten das Ren. Julius Cäsar beschrieb es ziemlich richtig. »Im Hercynischen Walde«, sagt er, »gibt es einen Ochsen von der Gestalt des Hirsches, dem mitten auf der Stirn ein viel größeres Horn steht, als es die übrigen haben; die Krone desselben breitet sich handförmig in viele Zacken aus. Das Weibchen hat eben solche Hörner.« Plinius mengt die Beschreibung des Ren- und Elenthieres unter einander. Aelian erzählt, daß die wilden Scythen auf gezähmten Hirschen wie auf Pferden reiten. Olaus Magnus (1530) gibt dem Ren drei Hörner: »Zwei größere Hörner«, sagt er, »stehen wie bei den Hirschen, sind aber ästiger; denn sie haben manchmal funfzehn Aeste. Ein anderes Horn steht in der Mitte des Kopfes und dient zur Vertheidigung gegen die Wölfe.« Dieser Schriftsteller weiß, daß die Nahrung des Renthieres aus Bergmoos besteht, welches es unter dem Schnee hervorscharrt, daß man es in Herden hält und hütet, daß es in einem anderen Klima bald zu Grunde geht; er erzählt, daß der König von Schweden im Jahre 1533 einigen Herren aus Preußen zehn Stück geschenkt hat, welche von diesen freigelassen wurden; er berichtet, daß die Hirten mit ihren ziehenden Hirschen in den Thälern an jedem Tage funfzigtausend Schritte zurücklegen, und daß die Thiere zu weiten Reisen benutzt werden, gibt auch schon deren Nutzen und Verwendung an: denn er sagt, daß das Fell zu Kleidern, Betten, Sätteln und Blasebälgen, die Sehnen zu Schnüren und als Zwirn, die Knochen und Hörner zu Bogen und Pfeilen, die Klauen als Krampfmittel benutzt werden usw. Die auf ihn folgenden Naturforscher mischen Wahres und Falsches durch einander, bis auf Scheffer aus Straßburg, welcher im Jahre 1675 in seinem Werke über Lappland das Ren ziemlich richtig schildert. Doch erst der große Linné ist es, welcher es selbst und zwar genau beobachtet hat. Nach ihm haben viele andere dieses und jenes berichtet, und somit darf die Naturgeschichte des Renthieres als ziemlich abgeschlossen betrachtet werden. Ich selbst habe die wilden Rudel und die zahmen Herden beobachten können und bin dadurch in den Stand gesetzt worden, aus eigener Anschauung zu sprechen. Sehr vieles habe ich auch von meinem alten Jäger Erik Swensen und von anderen glaubwürdigen Norwegern erfahren.

Der hohe Norden der Alten und, wenn man den amerikanischen Karibu zu unserer Art zählt, auch die nördlichsten Gegenden der Neuen Welt, sind die Heimat des Ren. Es findet sich in allen Ländern nördlich des 60. Grades, steigt in manchen Gegenden bis zum 52. Grade nördlicher Breite herab und kommt nach Norden hin noch jenseit des 80. Grades regelmäßig vor. Wild trifft man es auf den Alpengebirgen Skandinaviens und Lapplands, in Finnland, im ganzen nördlichen Sibirien, in Grönland und auf den nördlichsten Gebirgen des festländischen Amerika. Auch auf Spitzbergen lebt es; auf Island ist es, nachdem es vor mehr als hundert Jahren dort eingeführt wurde, vollständig verwildert und hat sich bereits in namhafter Anzahl über alle Gebirge der Insel verbreitet. In Norwegen fand ich es auf dem Dovre-Fjeld noch in ziemlicher Anzahl vor; [120] nach der Versicherung meines alten Erik sollen mindestens viertausend Stück allein auf diesem Gebirgsstocke leben. Aber es kommt auch auf den Hochgebirgen des Bergener Stifts vor und reicht dort sicherlich bis zum 60. Grade nördlicher Breite herab. Im nördlichen Asien verbreitet es sich zwar erheblich weiter nach Süden hin, tritt hier jedoch nirgends zahlreich auf und ist in stetiger Abnahme begriffen. Schon gegenwärtig bewohnt es nur noch in kleinen Trupps das östliche Sajan, das Quelland des Irkut und Kitoi, die Baikalgegenden, das Quellgebirge der Dschida und das Apfelgebirge, wird aber auch hier von Jahr zu Jahr seltener. Dagegen fehlt es wohl kaum einem Gebirge des nördlichen Asien jenseit des 50. Grades der nördlichen Breite und findet sich innerhalb dieses Gebietes, ebensowohl wild wie gezähmt, hier und da in sehr bedeutender Anzahl.

Das Renthier ist ein echtes Alpenkind, wie die Gemse, und findet sich nur auf den baumlosen, mit Moos und wenigen Alpenpflanzen bestandenen, breiten Rücken der nordischen Gebirge, welche die Eingebornen so bezeichnend »Fjelds« nennen. In Norwegen bildet der Gürtel zwischen ein- bis zweitausend Meter unbedingter Höhe seinen gewöhnlichen Aufenthalt. Niemals steigt es hier bis in den Waldgürtel herab, wie es überhaupt ängstlich die Waldungen meidet. Die kahlen Bergebenen und Halden, zwischen deren Gestein einzelne Pflanzen wachsen, oder jene weiten Ebenen, welche dünn mit Renthierflechten übersponnen sind, müssen als Standorte dieses Wildes angesehen werden, und nur dann, wenn es von einem Höhenzuge nach dem andern streift, trollt es über eine der sumpfigen, morastähnlichen, niederen Flächen hinweg; aber auch bei solchen Ortsveränderungen vermeidet es noch ängstlich den Wald. Pallas gibt an, daß es im nördlichen Sibirien zuweilen in Waldungen vorkomme, und auch von Wrangel bestätigt dies. Von beiden Schriftstellern erfahren wir, daß es in Sibirien weite und regelmäßige Wanderungen ausführt. Um den Dasselfliegen zu entgehen, steigt es, laut Pallas, im Sommer aus den offenen Gegenden auf die waldigen Berge und kehrt von hier aus erst gegen den Winter hin in die Ebenen zurück. Ebensowohl bei der Reise zu Berge wie bei der Wanderung zu Thale vereinigt es sich zu zahlreichen Herden, welche in langgestreckten Zügen, einem wandelnden Walde vergleichbar, dahinziehen, auf weithin zu verfolgende Pfade austreten und breite Ströme, namentlich den Ob, Jenisei, Anadir und die Lena, mehr oder weniger an denselben Stellen alljährlich überschwimmen. Die Kühe mit den Kälbern eröffnen, die Hirsche beschließen diese Züge. »Gegen Ende des Mai«, ergänzt Wrangel, »verläßt das wilde Ren in großen Herden die Wälder, wo es den Winter über einigen Schutz gegen die grimmige Kälte sucht, und zieht nach den nördlichen Flächen, theils, weil es dort bessere Nahrung auf der Moosfläche findet, theils aber auch, um den Fliegen und Mücken zu entgehen, welche mit Eintritt des Frühlings in ungeheuren Schwärmen die Luft verfinstern. Der Frühlingszug ist für die dortigen Völkerschaften nicht vortheilhaft; denn in dieser Jahreszeit sind die Thiere mager und durch die Stiche der Kerbthiere ganz mit Beulen und Wunden bedeckt; im August und September aber, wann die Renthiere wieder aus der Ebene in die Wälder zurückkehren, sind sie gesund und wohlgenährt und geben eine schmackhafte, kräftige Speise. In guten Jahren besteht der Renthierzug aus mehreren tausenden, welche, obgleich sie in Herden von zwei-bis dreihundert Stücken gehen, sich doch immer einander ziemlich nahe bleiben, so daß das Ganze eine ungeheure Masse ausmacht. Ihr Weg ist stets unabänderlich derselbe. Zum Uebergange über den Fluß wählen sie eine Stelle, wo ein trockener Thalweg zum Ufer hinabführt und an dem gegenüberstehenden eine flache Sandbank ihnen das Hinaufkommen erleichtert. Hier drängt sich jede einzelne Herde dicht zusammen, und die ganze Oberfläche bedeckt sich mit schwimmenden Thieren.« An dem Baranicha in Sibirien sah Wrangel zwei unabsehbare Herden wandernder Renthiere, deren Züge zwei Stunden brauchten, um vorüberzukommen. Mindestens ebenso großartig sind die Wanderungen, welche unsere Hirsche im Westen der Erde alljährlich ausführen. Sie erscheinen, vom Festlande Amerikas kommend und die Eisdecke des Meeres als Brücke benutzend, im Frühjahre in Grönland und verweilen hier bis Ende Oktober, worauf sie die Rückreise antreten. Auch bei [121] diesen Zügen gehen die Kühe den Hirschen voraus. Die Gesellschaften bestehen aus zehn bis hundert Stücken, welche sich in kleineren oder größeren Zwischenräumen folgen. Auf dem Festlande Amerikas selbst wandern die Thiere, wie in Sibirien, von den Gebirgen nach der Küste und umgekehrt. Nach einer Angabe John Franklins verlassen sie letztere mit ihren hier gebornen Jungen im Juli und August, sind im Oktober auf der Grenze der kahlen Landstriche angelangt und suchen im Winter in den Waldungen Schutz und Nahrung. Sobald der Schnee auf den Bergen zu schmelzen beginnt, treten sie wieder aus den Wäldern heraus und steigen allmählich in die Ebenen herab. Meuten von Wölfen, denen viele zum Opfer fallen, folgen ihren Zügen, und Indianerhorden lauern ihnen an allen bekannten, von den Thieren mit größter Regelmäßigkeit eingehaltenen Pässen auf.

In Norwegen wandern die Thiere nicht, sondern wechseln höchstens von einem Gebirgsrücken auf den andern: wie weit, ist nicht ermittelt. Jene Gebirge sind aber auch so beschaffen, daß sie ihnen alle Vortheile, welche den sibirischen die Wanderungen bieten, gewähren können. Zur Zeit der Mücken ziehen die wilden Renthiere einfach nach den Gletschern und Schneefeldern hinauf, welche sie ohnehin so lieben, daß sie mindestens ein paar Stunden des Tages auf ihnen ruhend verweilen; im Herbste, im Winter und im Frühlinge kommen sie weiter an den Bergen herab.

Alle wilden Renthiere lieben die Geselligkeit in hohem Grade. Ihre Rudel sind viel stärker als die von anderem Hirschwild und erinnern in mancher Hinsicht an die ungeheuren Herden, welche manche Antilopen in Südafrika bilden. Ich sah freilich nur Rudel von vier bis funfzig Stücken auf dem Dovre; im Winter kommen aber, wie mich mein erfahrener Jäger versicherte, solche von drei- bis vierhundert vor. Einzelne Renthiere trifft man nur höchst selten an; es sind dies stets alte Hirsche, welche von dem übrigen Rudel abgeschlagen worden sind.

Die Renthiere eignen sich ganz vortrefflich, jene nördlichen Länder zu bewohnen, welche im Sommer eigentlich nur ein Morast und im Winter nur ein einziges Schneefeld sind. Ihre breiten Hufe erlauben ihnen, ebensogut über die sumpfigen Stellen und die Schneedecke hinwegzugehen wie an den Halden umherzuklettern. Der Gang des Renthieres ist ein ziemlich schneller Schritt oder ein rascher Trott. So flüchtig wie unser Edelhirsch wird es selbst dann nicht, wenn eines aus der Herde zusammengeschossen worden ist und alle übrigen in die höchste Angst gerathen. Dabei hört man fast bei jedem Tritte ein eigenthümliches Knistern, dem Geräusche vergleichbar, welches ein elektrischer Funke hervorbringt. Ich habe mir viele Mühe gegeben, die Ursache dieses Geräusches kennen zu lernen, und bin zahmen Renthieren stundenlang nachgegangen, habe auch einige niederwerfen lassen und alle möglichen Beugungen ihrer Fußgelenke durchgeprobt, um meiner Sache sicher zu werden, bin aber noch heute so unklar, als ich es früher war. Nachdem ich das Thier so genau als möglich längere Zeit beobachtet hatte, glaubte ich annehmen zu dürfen, daß das fragliche Geräusch von einem Zusammenschlagen des Geäfters herrühre, und wirklich konnte ich durch Aneinanderreiben der Füße ein ähnliches Knistern hervorbringen; allein die Renthiere, welche ich in den Thiergärten beobachtete, belehrten mich, daß meine Ansicht falsch sei; denn sie bringen auch dasselbe Knistern hervor, ohne daß sie einen Fuß von der Erde erheben; sie knistern, sobald sie sich, auf allen vier Füßen feststehend, ein wenig nach vorn oder zur Seite beugen. Daß bei solchen Beugungen das Geäfter nicht an die Hufe schlägt, glaube ich verbürgen zu können. Und so bleibt bloß die Annahme übrig, daß das Geräusch im Innern des Gelenkes entsteht, ähnlich wie wenn wir einen Finger anziehen, bis er knackt. Mit dieser Ansicht erklärt sich auch Dr. Weinland einverstanden; diese Ansicht verfochten die Lappen, welche ich von Norwegen befragen ließ, und endlich die norwegischen Forscher. Ein Versuch, welchen man gemacht hat, spricht freilich dagegen. Man wickelte nämlich einem Ren Leinwand um Hufe und Afterklauen und vernahm dann nicht das geringste Geräusch mehr. Dieser Versuch würde freilich noch nicht beweisen, daß, wie der betreffende Naturforscher annahm, das Knacken nur ein Zusammenschlagen des Geäfters mit den Hufen sei; denn solches Zusammenschlagen müßte man wahrnehmen können,[122] und dies ist nicht der Fall. Junge Renthiere knistern übrigens nicht, und bei alten endet das sonderbare Geräusch, sobald sie im tiefen und weichen Schnee waten.

Bei langsamem Gange über morastige Flächen breitet das Renthier seine Hufe so weit aus, daß eine Fährte entsteht, welche weit mehr an die einer Kuh als an die eines Hirsches erinnert, und in gleicher Weise schreitet es auch über den Schnee, auf welchem es, sobald derselbe nur einigermaßen sich gesetzt hat, nicht mehr einsinkt.

Das Schwimmen wird dem Ren sehr leicht; es setzt ohne weiteres über ziemlich breite Ströme, und die Lappen treiben ganze Herden durch die Fjords von einer Insel zur andern. Die zahmen Renthiere entschließen sich allerdings nur nach einigem Widerstreben, in das Wasser zu gehen; die wilden dagegen scheuen dieses nicht und gehen, wenn sie flüchtig sind, durch Dick und Dünn.

Alle höheren Sinne des Renthieres sind vortrefflich. Es wittert ganz ausgezeichnet: wie ich mich wirklich überzeugt habe, bis auf fünf- oder sechshundert Schritte hin; es vernimmt mindestens ebenso scharf wie der Hirsch und äugt so gut, daß der Jäger alle Ursache hat, auch wenn er gegen den Wind herankommt, sich aufs sorgfältigste zu verbergen. Dabei ist das Thier lecker, denn es sucht sich nur die besten Alpenpflanzen heraus, und sein Gefühl beweist es sehr deutlich, wenn es die Mücken plagen: das zahme Renthier zuckt bei der leisesten Berührung zusammen. Alle Jäger, welche wilde Renthiere beobachteten, schreiben ihnen Klugheit, ja selbst eine gewisse List zu: scheu und vorsichtig im höchsten Grade sind sie unzweifelhaft. Gegen andere Thiere beweisen sie nicht die geringste Scheu. Sie kommen vertrauensvoll an die Kühe und Pferde heran, welche in ihren Höhen weiden, und vereinigen sich da, wo es Zahme ihrer Art gibt, sehr gern mit diesen, obgleich sie recht wohl wissen, daß sie es nicht mit ihres Gleichen zu thun haben. Hieraus geht hervor, daß ihre Scheu und Furcht vor den Menschen ein Ergebnis ihrer Erfahrung ist, und somit muß man ihnen einigermaßen entwickelten Verstand zugestehen.

Das wilde Ren äst sich im Sommer mit den saftigen Alpenkräutern, namentlich mit den Blättern und Blüten der Schneeranunkel, des Renthierampfers, der Saponarien, des Hahnenfußes, Schwingels usw. Während des Winters gräbt es mit seinen Hufen Renthierflechten aus und frißt von den Steinen die Schnee-und Osterflechten ab. In Norwegen meidet es auch im Winter den nahrungsreichen Wald, geht aber dann öfters in den Sumpf, um sich dort von allerlei Kräutern zu äsen. Sehr gern frißt es die Knospen und jungen Schößlinge der Zwergbirke, nicht aber die anderer Birkenarten. Die Auswahl unter der Nahrung ist immer eine höchst sorgfältige, auf sehr wenige Pflanzen beschränkte. Niemals gräbt das Ren mit dem Geweih, wie oft behauptet worden ist, sondern immer mit seinen Vorderläufen. Am eifrigsten geht es in den Morgen- und Abendstunden der Nahrung nach; während der Mittagszeit ruht es wiederkäuend, am liebsten auf Schneefeldern und Gletschern oder wenigstens ganz in der Nähe derselben. Ob es auch des Nachts schläft, ist nicht bekannt.

In Norwegen tritt der Hirsch Ende Septembers auf die Brunst. Sein Geweih, welches Ende Decembers oder im Januar abgeworfen wurde, ist jetzt wieder vollständig geworden, und er weiß es zu gebrauchen. Mit lautem Schrei ruft er Mitbewerber heran, orgelt wiederholt in der ausdrucksvollsten Weise, angesichts der jetzt sehr verstärkten Rudel häufige Kämpfe mit den betreffenden Mitbewerbern bestehend. Die wackeren Streiter verschlingen sich oft mit ihren Geweihen und bleiben manchmal stundenlang an einander gefesselt; dabei kommt es dann auch vor, wie bei den Hirschen, daß die schwächeren Renthierböcke, welche von den älteren während der Fortpflanzungszeit übermüthig behandelt werden, sich die Gelegenheit zu Nutze machen und die brünstigen Thiere beschlagen. Gegen das Altthier benimmt sich der Hirsch sehr ungestüm, treibt auch das erkorene Stück oft lange umher, bevor es zur Paarung kommt. Dann wird er zärtlicher. Hat er nach längerem Laufe endlich Halt gemacht, so beleckt er die auserkorene Gattin, hebt den Kopf in die Höhe und stößt hierbei rasch und hinter einander dumpfe, grunzende Laute aus, bläht seine Lippen auf, schlägt sie wieder zusammen, beugt den hintern Theil des Leibes nieder und geberdet sich[123] überhaupt höchst eigenthümlich. Der Beschlag selbst geht sehr rasch vor sich und währt nur kurze Zeit; dabei faucht der Hirsch niesend mit der Nase. Mitte April ist die Satzzeit; das alte Thier geht also etwa dreißig Wochen hochbeschlagen. Niemals setzen wilde Renthiere mehr als ein Kalb. Dieses ist ein kleines schmuckes Geschöpf, welches von seiner Mutter zärtlich geliebt und lange gesäugt wird. In Norwegen nennt man das junge Renthier entweder Bockkalb oder Semlekalb, je nachdem es männlich oder weiblich ist; die erwachsenen Renthiere werden ebenfalls als Bock und Semle unterschieden. Schon gegen das Frühjahr hin trennt sich das hochbeschlagene Thier mit einem Bocke von seinem Rudel und schweift nun mit diesem bis zur Satzzeit und auch nach ihr noch umher. Solche Familien, welche aus dem Bocke, der Semle und dem Kalbe bestehen, trifft man häufig; die Schmalthiere und die jungen Böcke bilden ihrerseits stärkere Rudel, bei denen ein geltes Altthier die Leitung übernimmt. Erst wenn die Kälber groß geworden sind, vereinigen sich die Familien wieder zu Rudeln; dann theilen sich die Altthiere in die Leitung. Die Renthiere sind so besorgt um ihre Sicherheit, daß das Leitthier, auch wenn alle übrigen Mitglieder des Rudels wiederkäuend ruhen, immer stehend das Amt des Wächters ausübt; will es sich selbst niederlassen, so steht augenblicklich ein anderes Altthier auf und übernimmt die Wache. Niemals wird ein Rudel Renthiere an Halden weiden, wo es gegen den Wind beschlichen werden kann; es sucht sich stets Stellen aus, auf denen es die Ankunft eines Feindes schon aus weiter Entfernung wahrnehmen kann, und dann trollt es eilig davon, oft meilenweit. Es kehrt aber nach guten Plätzen zurück, wenn auch nicht in den nächsten Tagen. Gewisse Halden des Dovre-Fjeld, welche reich an saftigen Pflanzen sind, haben als gute Jagdplätze Berühmtheit erlangt.

Die Jagd des wilden Ren erfordert einen leidenschaftlichen Jäger oder einen echten Naturforscher, dem es auf Beschwerden und Entbehrungen nicht ankommt; für gewöhnliche Sonntagsschützen ist sie durchaus kein Vergnügen. Es gibt in jenen Höhen, wo das vorsichtige Wild sich aufhält, keine Sennhütten oder Sennhäuschen mit allerliebsten Sennerinnen oder zitherschlagenden Sennbuben, sondern nur Beschwerden und Mühsale. Eine Wanderung über die norwegischen Gebirge verlangt tüchtige Wasserstiefeln und abgehärtete Füße für dieselben, einen breiten Rücken, welcher sich etwas aufpacken läßt, und vor allem eine gesunde Brust, welche stundenlang beim Auf- und Niedersteigen ohne Beschwerde ihre Dienste thut. Wie bei der Gemsenjagd muß man für mehrere Tage mit Lebensmitteln sich versehen, wie der Steinbockjäger in Felsklüften oder, wenn es gut geht, in verlassenen Steinhütten, welche man vorher gegen den Luftzugang zu schließen hat, während der Nachtzeit Unterkommen suchen; denn wenn man in einer der Sennhütten, welche sich auch nicht überall finden, übernachten will, muß man im günstigen Fall um drei- bis fünfhundert Meter hinab- und am andern Morgen natürlich wieder hinaufsteigen. Auf der Jagd heißt es aufpassen! Alles muß beobachtet werden, der Wind und das Wetter, der Stand der Sonne usw. Man muß die Lieblingsplätze des Renthieres kennen, mit seinen Sitten vertraut sein und zu schleichen verstehen wie eine Katze. Ganz besonders nothwendig ist es auch, daß man die Fährten wohl zu deuten weiß, um zu erfahren, ob sie von heute oder gestern oder von noch früherer Zeit herrühren. Jedes abgerissene Blatt auf den Halden, jeder weggetragene Stein gibt Fingerzeige. In Norwegen ist bei der Renthierjagd allerdings nicht an Gefahr zu denken, aber Beschwerden gibt es genug. Die Halden bestehen nur aus wirr durch- und übereinander geworfenen Schieferplatten, welche, wenn man über sie weggeht, in Bewegung gerathen oder so scharfkantige Ecken und Spitzen hervorstrecken, daß jeder Schritt durch die Stiefeln hindurch fühlbar wird; die außerordentliche Glätte der Platten, über welche das Wasser herabläuft, vermehrt noch die Schwierigkeit des Weges, und das jede Viertelstunde nothwendig werdende Ueberschreiten der schlüpfrigen Rinnsale erfordert viele und nicht eben belustigende Springübungen, falls man es vermeiden will, im kalten Gebirgswasser ein unfreiwilliges Bad zu nehmen und sich dabei Arme und Beine blutig zu schlagen. Und selbst, wenn man alle diese Unannehmlichkeiten nicht achten wollte, würde die Jagd noch immerhin ihre eigenen Schwierigkeiten haben. Die Färbung des Wildes stimmt stets so genau mit dem [124] jeweiligen Aufenthaltsort überein, daß es überaus schwer hält, ein einzelnes Renthier, welches sich gelagert hat, wahrzunehmen; an eine weidende Herde aber kommt man so leicht nicht heran. Die Geröllhalden spiegeln dem Jäger oft tückisch das Bild des gesuchten Wildes vor, er glaubt sogar alle Sprossen der Geweihe zu erkennen, und selbst das Fernrohr hilft solche Lügen bestärken; man geht eine volle Stunde lang, kommt zur Stelle und sieht, daß man sich getäuscht und anstatt der Thiere nur Felsblöcke ins Auge gefaßt hatte. Oder, was noch schlimmer, man hat die Renthiere für Steine angesehen, ist guten Muthes auf sie losgegangen und sieht nun plötzlich, daß sich das Rudel in einer Entfernung von ungefähr zwei- bis dreihundert Schritten erhebt und das Weite sucht. Die größte Vorsicht wird nöthig, wenn man endlich nahe an das Wild kommt. Jede rasche Bewegung ist jetzt aufs strengste verpönt. Die norwegischen Jäger haben eine eigene Art, niederzuknieen und aufzustehen; sie sinken Centimeter um Centimeter mit gleichmäßiger Langsamkeit förmlich in sich zusammen und verschwinden so allgemach, daß ein weidendes Renthier, selbst wenn es die sich mehr und mehr verkleinernde Gestalt sähe, doch sicherlich in ihr keinen Menschen erkennen würde. Sobald der Jäger auf dem Boden liegt, probt er nochmals durch kleine Stücken Moos, welche er losreißt und in die Höhe wirft, den Wind, und dann beginnt er auf dem Bauche fortzukriechen, um sich soviel als möglich dem Rudel zu nähern. Mein alter Erik verstand diese Art, sich zu bewegen, so meisterhaft, daß ich, der ich mir einbildete, auch schleichen und kriechen zu können, wie ein beschämter Schulbube vor ihm stand oder vielmehr lag; denn mit Ausnahme der Fersengelenke bewegte sich an dem ganzen Manne kein Glied, und dennoch glitt er, wenn auch höchst langsam, immer und immer vorwärts. Wenn ein Wässerchen dem Jäger in den Weg kommt, kann er natürlich nicht ausweichen; aber da das Rinnsal etwas vertieft ist, kommt er auch darüber hinweg. Das Gewehr wird über den Nacken gelegt, so daß Schloß und Mündung vor dem Wasser gesichert sind, Pulverhorn oder Geschosse zwischen Hemd und Brust gelegt; ob das übrige naß wird, kümmert den Mann natürlich nicht, und so läuft er auf allen Vieren durch den Wildbach: – wir haben es auch gethan. Kleinere Gräben werden ohne weitere Umstände durchkrochen; denn schon die Renthierflechten sind so feucht, daß der kriechende Jäger auf der ganzen Vorderseite ebenso naß wird, als ob er sich im Wasser gebadet hätte. Derart nähert man sich mehr und mehr dem Rudel und ist sehr froh, wenn man näher als zweihundert Schritte an dasselbe herankommt. Die meisten norwegischen Jäger schießen nicht aus bedeutender Entfernung und können dies, der geringen Güte ihrer Waffen halber, auch nicht thun; vermöchten sie aber aus einer Entfernung von dreihundert Schritten mit Sicherheit zu schießen, so würde gewiß jede Jagd ihnen eine Beute bieten; denn bis zu dieser Entfernung lassen die Renthiere einen geschickten Jäger regelmäßig an sich herankriechen. Sind nun Steine in der Nähe, so setzt der Kriechende seinen Weg fort, selbstverständlich so, daß er immer einen größern Stein zwischen sich und dem Leitthiere hat, also gedeckt wird. So kann es kommen, daß er bis auf hundert und zwanzig Schritte an das Rudel heranschleicht und dann seine alte, erprobte Büchse mit Sicherheit zu brauchen vermag. Er legt bedächtig auf einem Steine auf, zielt lange und sorgfältig und feuert dann nach dem besten Bocke des Rudels hin, falls dieser günstig sich gestellt hat. Auf laufende Renthiere geben alle nordischen Gebirgsjäger nur sehr ausnahmsweise einen Schuß ab.

Nach meiner Erfahrung ist das Rudel nach dem ersten Schusse so verblüfft, daß es noch eine geraume Zeit verwundert stehen bleibt; erst nachdem es sich von der Gefahr vollständig überzeugt hat, wird es flüchtig. Diese Beobachtungen haben auch die norwegischen Jäger gemacht, und deshalb gehen sie gern selbander oder zu dreien und vieren auf die Jagd, schleichen zugleich nach einem Rudel hin, zielen verabredetermaßen auf bestimmte Thiere und lassen einen zuerst feuern; dann schießen auch sie. Ich bin fest überzeugt, daß Jäger, welche mit guten, sicheren Doppelbüchsen bewaffnet sind, aus einem und demselben Rudel fünf bis sechs Renthiere wegschießen können, wenn sie sonst geschickt sich angeschlichen haben und regungslos hinter den Steinen liegen bleiben. Die geringste Bewegung freilich scheucht das Rudel augenblicklich in die wildeste Flucht.

[125] Für viele sibirische Völkerschaften hat die Jagd des Rens die höchste Bedeutung. Im Südosten Sibiriens verarmen die braven Tungusen, infolge der Abnahme der wilden Renthiere, mehr und mehr und gehen, wie Radde voraussagt, ihrem gänzlichen Untergange bestimmt entgegen; denn trotz der ungeheuren Waldungen ist der Wildstand, auf welchen die Tungusen angewiesen sind, bereits so geschwächt, daß sie sich nicht mehr ernähren können. Im Norden Asiens ist es noch besser; aber auch hier übt das Ren den größten Einfluß aus auf das Leben der Menschen. »Die Jukahiren und die übrigen Bewohner der Gegend längs dem Aniujflusse in Sibirien«, sagt von Wran gel, »hängen ganz von dem Renthiere ab, welches hier, wie in Lappland, fast ausschließlich Nahrung, Kleidung, Fuhrwerk, Wohnung liefert. Die Renthierjagd entscheidet, ob Hungersnoth oder Wohlleben herrschen wird, und die Zeit der Renthierzüge ist hier der wichtigste Abschnitt des Jahres. Wenn die Thiere auf ihren regelmäßigen Wanderungen zu den Flüssen kommen und sich anschicken, über dieselben weg zu schwimmen, stürzen die Jäger in ihren kleinen Kähnen pfeilschnell hinter Büschen, Gesteinen usw., wo sie sich bis dahin verborgen gehalten, hervor, umringen den Zug und suchen ihn aufzuhalten, während zwei oder drei der gewandtesten unter ihnen, mit einem kurzen Spieße bewaffnet, in den schwimmenden Haufen hineinfahren und in unglaublich kurzer Zeit eine große Menge tödten oder doch so schwer verwunden, daß sie höchstens das Ufer erreichen, wo sie den dort wartenden Weibern, Mädchen und Kindern in die Hände fallen. Die Jagd ist übrigens mit großer Gefahr verbunden. In dem ungeheuren Gewühle der dicht unter einander schwimmenden Thiere ist der kleine, leichte Kahn ohnehin jeden Augenblick dem Umwerfen nahe; außerdem aber wehren sich die verfolgten Thiere auf alle mögliche Art: die Männchen mit ihren Geweihen und Zähnen, die Weibchen aber mit den Vorderläufen, mit denen sie auf den Rand des Kahnes zu springen pflegen und ihn auf diese Weise leicht umwerfen. Gelingt dieses, so ist gewöhnlich der Jäger verloren, weil es ihm beinahe unmöglich wird, sich aus dem dichten Haufen herauszuarbeiten.«

Ganz ähnlich jagen, wie King berichtet, die Indianer Nordamerikas, namentlich die Chipewyanes, die Kupfer-, Hundsrippen- und Hasenindianer das Ren. Auch diese Leute leben fast ausschließlich von letzterem. Große Herden von zehn- bis hunderttausend Stück wandern im Frühjahr nordwärts zum Eismeere und im Herbste wieder südwärts. Wenn im Sommer die Flechten vertrocknen, welche den Thieren während der kalten Jahreszeit zur Nahrung gedient haben, suchen sie sich nahe der Seeküste mancherlei saftige Kräuter zur Aesung; im September treten sie den Rückzug an und erreichen im Oktober das Ziel. Sie haben alsdann eine sieben bis zwölf Centimeter dicke Lage von Feist unter der Haut des Rückens und der Schenkel und bilden deshalb jetzt den Hauptgegenstand der Jagd. Man erlegt das Wild mit der Flinte, fängt es in Schlingen, tödtet es beim Durchschwimmen der Flüsse mit Spießen, gräbt tiefe Fallöcher oder bildet von Zweigen und Buschwerk zwei Zäune, läßt in beiden schmale Lücken, legt in jede Lücke eine Schlinge, treibt die Rudel zwischen die Zäune und fängt die Stücke, welche durchbrechen wollen, oder sticht sie beim Herauskommen todt. Die Hundsrippenindianer gehen, wie Trenzel erzählt, paarweise auf die Jagd. Der vorderste trägt in der einen Hand ein Renthiergeweih, der andere, dicht hinter ihm hergehende, ein Büschel Zweige, gegen welche er das Geweih reibt, um die Stirne aber eine Binde von weißem Pelze; bemerken die Renthiere diese merkwürdige Erscheinung, so stehen sie still und äugen verwundert. Nun feuern beide Jäger zugleich, eilen der Herde nach, laden im Laufen wieder und schießen noch ein oder mehrere Male. An anderen Orten treiben die Indianer, wenn sie es können, die Renthiere ins Wasser und stechen sie dann nieder.

Die Indianer wissen das wilde Ren in ähnlicher Weise zu benutzen, wie die Lappen ihr zahmes Herdenthier. Aus den Geweihen und den Knochen verfertigen sie sich ihre Fischspeere und Angeln; mit den gespaltenen Schienbeinknochen schaben sie Fleisch, Fett und Haar von den Häuten ab; mit Renthiergehirn schmieren sie des Fell ein, um es geschmeidig zu machen. Das durch Räuchern mit faulem Holze gegerbte Leder hängen sie um ihre Zeltstangen; die ungegerbten Häute [126] geben ihnen Bogensehnen und Netze; die Sehnen des Rückens werden zu feinem Zwirn gespalten; die weichen, pelzartigen Felle der Kälber müssen ihnen die Kleidung liefern. Vom Kopfe bis zu den Zehen hüllen sie sich in Renthierfelle, werfen ein anderes, weichgegerbtes Fell auf den Schnee, decken sich mit dem dritten zu und sind so im Stande, der grimmigsten Kälte Trotz zu bieten. Kein Theil des Renthieres bleibt unbenutzt, nicht einmal der Speisebrei im Magen. Wenn dieser einige Zeit gelegen und eine gewisse Gährung gelitten hat, gilt er als höchst schmackhaftes Gericht. Das Blut wird gekocht und zur Suppe bereitet, die Knochen werden gestoßen und gekocht; das daraus gewonnene Mark mischt man mit Fett und getrocknetem Fleische oder benutzt es zum Salben des Haares und des Gesichts.

Das wilde Ren hat außer dem Menschen noch viele Feinde. Der gefährlichste von ihnen ist der Wolf. Er umlagert die Rudel stets, am schlimmsten aber doch im Winter. Wenn der Schnee so fest geworden ist, daß er die Renthiere trägt, gelingt es dem bösen Räuber bei der Wachsamkeit seiner Beute nur äußerst selten, an eine Herde heranzukommen, und im ungünstigsten Falle sind dann auch die Renthierböcke noch so kräftig, daß sie ihm mit den Vorderläufen genügend zusetzen können; die Umstände ändern sich aber bei frischem Schneefalle. Dann sinkt das Ren tief ein in die flaumige Decke, ermüdet leicht und wird von dem irgendwo hinter einem Felsblocke oder dichten Busche lauernden Räuber viel leichter gefangen als sonst. Auf den Hochgebirgen rotten sich Meuten von Wölfen gerade um die Zeit zusammen, in welcher sich die Renthiere in starke Rudel schlagen, und nun beginnt ein nicht endender Kampf um das Leben. Durch hunderte von Meilen ziehen die Wölfe den wandernden Renthierherden nach, und es kommt dahin, daß selbst die Menschen, eben der Wölfe wegen, solche Renthierzusammenrottungen verwünschen. In Norwegen mußten die Renthierzuchten, welche man auf den südlichen Gebirgen anlegen wollte, der Wölfe wegen aufgegeben werden. Man hatte sich aus Finnmarken oder dem norwegischen Lappland dreißig Renthiere nebst lappländischen Hirten kommen lassen, deren Zucht auf den Hochgebirgen des Bergener Stifts vortrefflich gedieh. Schon nach fünf Jahren hatten die dreißig Renthiere hunderte von Nachkommen erzeugt, und die Besitzer der Herden begannen, sich Reichthum zu erträumen: da brachen die Wölfe, welche von allem Anfange an sich als die schlimmsten Feinde der neuen Herde gezeigt hatten, mit Macht herein. Es schien, als ob sich die Wölfe ganz Norwegens auf einem Punkte zusammengezogen hätten, so häufig waren sie geworden. Weil man nun die Wachsamkeit verdoppelte, blieben diese nicht bei der Renthierjagd allein, sondern kamen auch in Unmassen in das Thal herab, raubten gierig in der Nähe der Gehöfte Rinder und Schafe, bedrohten die Menschen und wurden schließlich so lästig, daß man jene Herden theils abschlachten, theils niederschießen, theils verwildern lassen, mit einem Worte, die Zucht aufgeben mußte. Daß der Wolf auch den zahmen Renthierherden großen Schaden zufügt, habe ich schon gesagt. Und dieser gierige Räuber ist noch nicht der einzige Feind. Der Vielfraß stellt den Renthieren, wie ich selbst gesehen, eifrig nach, der Luchs wird ihnen sehr gefährlich, und der Bär raubt, wenn auch nicht gerade in derselben Weise wie der Wolf, immer noch viele der bedrohten Thiere. Nächst diesen großen Räubern sind es kleine, scheinbar erbärmliche Kerbthiere, welche mit zu den schlimmsten Feinden der Renthiere gezählt werden müssen. Namentlich drei Arten dieser Klasse bestimmenderen ganzes Leben. Es sind dies eine Stechmücke und zwei Dasselfliegen oder Bremsen. Die Mücken veranlassen und bestimmen die Wanderungen der Renthiere: vor ihnen flüchten sie zum Meere hinab und in die Gebirge hinauf; von ihnen werden sie Tag und Nacht oder vielmehr während des monatelangen Sommertages unablässig in der fürchterlichsten Weise gequält. Nur wer selbst von jenen kleinen Ungeheuern tage- und wochenlang stündlich gestochen und geschröpft worden ist, kann die Qual begreifen, welche die armen Geschöpfe zu leiden haben. Und diese Plage ist nicht die schlimmste; denn die Dasselfliegen bereiten den Renthieren vielleicht noch ärgere Pein. Eine Art legt ihre Eier in die Rückenhaut, eine zweite in die Nasenlöcher des Ren; die Larven entwickeln sich und die der ersten Art bohren sich durch die Haut in das Zellgewebe ein, [127] leben hier von dem Eiter, welchen sie erregen, verursachen im höchsten Grade schmerzhafte Beulen, wühlen sich weiter und weiter und bohren sich endlich, wenn sie der Reise nahe kommen, wieder heraus. Die Larven der zweiten Art gehen durch die Nasenhöhle weiter, dringen bis in das Hirn und verursachen die unheilbare Drehkrankheit, oder sie schlüpfen in den Gaumen und verhindern das Ren wegen des Schmerzes, welcher beim Kauen entsteht, am Aesen, bis endlich das gequälte Thier sie durch heftiges Niesen oft klumpenweise heraustreibt, aber erst, nachdem sie sich dick und voll gemästet haben. Im Juli oder anfangs August werden die Eier gelegt, im April oder Mai sind die Larven ausgebildet. Gleich im Anfange geben sich die Leiden des bedauernswerthen Geschöpfes durch schweres Athmen zu erkennen, und oft genug ist der Tod, namentlich bei jüngeren Thieren, das wohlthätige Ende aller Qual. Solchen von den Dasselfliegen gepeinigten Renthieren erscheinen Nebelkrähen und Schafstelzen als wohlthätige Freunde. Sie vertreten die Stelle der Kuhvögel, Madenhacker und Kuhreiher, welche wir später kennen lernen werden, fliegen auf den Rücken der armen Thiere und bohren aus den Geschwüren die Maden hervor, und die Renthiere verstehen ganz genau, wie viel gutes die Vögel ihnen anthun, denn sie lassen sie ruhig gewähren.

Jung eingefangene Renthiere werden sehr bald zahm; man würde sich aber einen falschen Begriff machen, wenn man die Renthiere, was die Zähmung anlangt, den in den Hausstand übergegangenen Thieren gleichstellen wollte. Nicht einmal die Nachkommen derjenigen, welche schon seit undenklichen Zeiten in der Gefangenschaft leben, sind so zahm wie unsere Hausthiere, sondern befinden sich immer noch in einem Zustande von Halbwildheit. Nur Lappen und deren Hunde sind im Stande, solche Herden zu leiten und zu beherrschen.

Uebrigens geben sich nicht bloß die Lappen mit der Renthierzucht ab, sondern auch die Finnen und in Sibirien Wogulen, Ostjaken, Samojeden, Tungusen, Koräken und Tschuktschen, welche, wie Pallas sagt, die größten Renherden halten. Nach den Erfahrungen dieses Naturforschers pflegt kein Volk die Renthiere besser als die Koräken. Sie besitzen Herden von vierzig- bis funfzigtausend Stück und kennen unter dieser Unmasse die ihnen gehörigen genau. Solchen Herden gegenüber erscheinen die im Westen Europas gehaltenen kaum erwähnenswerth. Die norwegischen Lappen pflegen nach amtlichen Angaben, welche mir von dem Vogd oder Richter zu Tana gemacht wurden, im ganzen nur noch 79,000 Stück Renthiere, und zwar kommen auf die Kreise Tana und Pole mak 31,000, auf den Kreis Karasjok 23,000 und auf den Kreis Kautokeino 25,000 Stück, welche ungefähr zwölfhundert Besitzern zugehören.

Das zahme Renthier ist die Stütze und der Stolz, die Lust und der Reichthum, die Qual und die Last des Lappen; nach seinen Begriffen steht derjenige, welcher seine Renthiere nach hunderten zählt, auf dem Gipfel menschlicher Glückseligkeit. Einzelne Lappen besitzen zwei- bis dreitausend Stück, die meisten aber höchstens deren fünfhundert; niemals jedoch erfährt ein Normann die eigentliche Anzahl der Herde eines dieser Biedermänner: denn alle Lappen glauben, daß Wolf und Unwetter sofort einige Renthiere vernichten würden, wenn sie, die Herren, unnöthigerweise über ihre Renthiere, zumal über deren Anzahl, sprechen sollten. Mit Stolz schaut der Fjeldlappe, der eigentliche Renthierzüchter, auf alle anderen seines Volkes herab, welche das Nomadenleben aufgegeben und sich entweder als Fischer an Flüssen, Seen und Meeresarmen niedergelassen, oder gar als Diener an Skandinavier verdingt haben; er allein dünkt sich ein echter, freier Mann zu sein; er kennt nichts höheres, als sein »Meer«, wie er eine größere Renthierherde zu nennen pflegt. Sein Leben erscheint ihm köstlich; er meint, daß ihm das beste Loos auf Erden zugefallen wäre.

Und was für ein Leben führen diese Leute! Nicht sie bestimmen es, sondern ihre Herde: die Renthiere gehen, wohin sie wollen, und die Lappen müssen ihnen folgen. Der Fjeldlappe führt ein wahres Hundeleben. Monatelang verbringt er den größten Theil des Tages im Freien, im Sommer gequält und gepeinigt von den Mücken, im Winter von der Kälte, gegen welche er sich nicht [128] wehren kann. Oft kann er sich nicht einmal Feuer schüren, weil er in den Höhen, welche seine Herde gerade abweidet, kein Holz findet; oft muß er hungern, weil er sich weiter entfernt, als er will. Dürftig geschützt durch die Kleidung, ist er allen Unbilden der Witterung preisgegeben; seine Lebensweise macht ihn zu einem halben Thiere. Er wäscht sich nicht; er nährt sich von geradezu abscheulichen Stoffen, welche ihm der Hunger eintreibt; er hat oft keinen andern Gefährten als seinen treuen Hund, und theilt mit diesem ehrlich und redlich die geringe Nahrung, welche ihm wird. Und alles dies erträgt er mit Lust und Liebe, seiner Herde wegen.

Das Leben der zahmen Renthiere unterscheidet sich fast in jeder Hinsicht von dem geschilderten des wilden Ren. Jene sind, wie ich oben angab, kleiner und häßlicher gestaltet, werfen später ab, pflanzen sich auch zu einer andern Zeit im Jahre fort als die wilden und wandern beständig. Manchmal unmittelbar unter der Herrschaft des Menschen lebend, genießen sie zu gewissen Zeiten ihre Freiheit im vollsten Maße. Bald wächst ihnen die Nahrung so reichlich zu, daß sie kräftig und feist werden, bald müssen sie Hunger und Kummer erdulden wie ihr Herr. Im Sommer leiden sie entsetzlich von den Mücken und Renthierbremsen, im Winter von dem Schnee, welcher die Weide verdeckt und ihnen durch seine harte Kruste oft die Füße verwundet.

In Norwegen und Lappland wandern die Lappen gewöhnlich längs der Flüsse nach dem Gebirge oder dem Meere zu, getrieben durch die Mücken, und von den Gebirgen wieder zur Tiefe herab oder von dem Meere nach dem Innern des Landes, genöthigt durch das Herannahen des Winters. In den Monaten Juli und August leben die Renthiere auf den Gebirgen und am Meeresstrande, vom September an findet die Rückwanderung statt, und um diese Zeit läßt der Lappe, wenn er bei seinen Herbststellen, kleinen Blockhäusern, in denen er die nothdürftigsten Lebensbedürfnisse verwahrt, angelangt ist, seine Renthiere ihre Freiheit genießen, falls »Friede im Lande« ist, d.h. falls keine Wölfe in der Nähe umherstreifen. In diese Zeit fällt die Brunst, und dabei geschieht es, daß die zahmen mit den wilden sich vermischen, zur lebhaften Freude der Herdenbesitzer, welche hierdurch eine bessere Zucht erzielen. Mit dem ersten Schneefalle werden die Renthiere wieder eingefangen und gehütet, denn um diese Zeit gilt es, sie mehr als je vor den Wölfen zu bewahren. Nun kommt der Frühling heran und mit ihm eine neue Zeit der Freiheit; dann werden die Thiere nochmals zur Herde gesammelt: denn jetzt setzen die Kühe ihre Kälber und liefern die köstliche Milch, welche nicht verloren gehen darf; sie werden also wieder nach den Orten getrieben, wo es wenig Mücken gibt. So geht es fort, von einem Jahre zum andern.

Renthierzucht und Renthierhut sind schwieriger, als es scheint. Ohne die munteren, wachsamen Hunde würde es dem Lappen geradezu unmöglich sein, seine Herde zu weiden; jener Hülfe dankt er alles. Aeußerst wachsam, behend, klug und durchaus verläßlich sind diese Hunde; ihre ganze Gestalt gibt Zeugnis von der Freiheit, in welcher sie leben: sie ähneln wilden Verwandten ihrer Familie. Die Lauscher stehen aufrecht und verleihen dem Kopfe den Ausdruck bewußter Selbständigkeit und natürlicher Schlauheit. Das Fell am Körper, mit Ausnahme des Kopfes, ist sehr dicht, pudelähnlich behaart, die Beine sind haarig, die Gestalt ist schlank; aber die Thiere selbst sind klein und schmächtig, kaum so groß wie unsere Spitze. Dunkle Haarfärbung ist vorherrschend. Die Lappen halten sie mit Recht außerordentlich hoch, denn sie gehorchen aufs Wort und wissen jeden Wink des Hirten zu deuten, ja, sie hüten ohne sein Zuthun tagelang auf eigene Faust. Durch sie treibt der Lappe die ganze Herde zu sammen, mit ihrer Hülfe vereinigt er sein Vieh an einer in das Meer vorspringenden Felsenkante und jagt es dann in das Wasser, um es zum Schwimmen über funfzig bis hundert Schritte breite Meeresarme zu nöthigen; sie sind es, welche im Frühjahre die Schwächlinge einfangen müssen, weil diese während des Schwimmens ertrinken würden, und welche im Herbste, wenn die Weide alle Thiere gekräftigt hat, die Herde wieder über den Meeresarm zurückjagen.

Eine Renthierherde gewährt ein höchst eigenthümliches Schauspiel. Sie gleicht allerdings einem wandelnden Walde, wohlverstanden, wenn man annimmt, daß der Wald gerade blätterlos [129] ist. Die Renthiere gehen geschlossen wie die Schafe, aber mit behenden, federnden Schritten und so rasch, wie keines unserer Hausthiere. Auf der einen Seite wandelt der Hirt mit seinen Hunden, welch letztere ihrerseits eifrig bemüht sind, die Heerde zusammenzuhalten. Ohne Aufhören umkreisen sie die Thiere, jedes, welches heraustritt, augenblicklich wieder zur Herde treibend: so bringen sie es dahin, daß der Trupp immer geschlossen bleibt. Durch sie wird es dem Lappen sehr leicht, jedes beliebige Renthier mit seiner Wurfschlinge, welche er geschickt zu handhaben versteht, aus dem Haufen herauszufangen.

Wenn es gute Weide in der Nähe gibt, bauen sich die Lappen zur Erleichterung des Melkens eine Hürde, in welche sie allabendlich ihre Thiere treiben. Diese Hürden bestehen aus dicht an einander gelehnten Birkenstämmen von etwa zwei Meter Höhe, welche oben durch Querhölzer zusammengehalten werden, die ihrerseits wieder auf stärkeren Pfählen und Pfeilern befestigt sind. Zwei breite Thore, welche dann durch ein Gatter geschlossen werden, führen in das Innere. Die Hunde treiben die Herde ein, und das Melken beginnt. Auf die jungen Renthiere gibt man weniger Acht, läßt sie vielmehr unbekümmert außerhalb der Hürde weiden und sich ihres Lebens und der goldenen Freiheit freuen, soweit dies die Aufmerksamkeit der Hunde, welche schon die gehörigen Schranken zu ziehen wissen, ihnen gestattet. Innerhalb der Hürde ist das Getümmel groß. Die Renthiere erinnern durch ihr Hin- und Herlaufen und durch ihr ewiges Blöken an die Schafe, obgleich ihr Lautgeben mehr ein schweinähnliches Grunzen genannt werden muß als ein Blöken. Bei weitem die meisten, welche in Herden gehalten werden, sind sehr klein; man sieht unter hunderten nur höchst wenig starke Thiere. Dabei fällt die Unregelmäßigkeit der Geweihe unangenehm auf. Wenn man sich der Hürde nähert, vernimmt man zuerst das beständige Blöken und dann, bei der ununterbrochenen Bewegung, ein Knistern, als ob hunderte von elektrischen Batterien in Thätigkeit gesetzt würden. In der Mitte der Hürde liegen mehrere große Baumstämme, an welche die Renthiere beim Melken angefesselt werden. Ohne Wurfschlinge läßt sich kein Renthier seiner Milch berauben; deshalb trägt jeder Lappe und jede Lappin eine solche beständig bei sich. Sie besteht entweder aus einem langen Riemen oder einem Stricke, wird leicht in Ringe zusammengelegt, an beiden Enden festgehalten und so geworfen, daß sie um den Hals oder das Geweih des Thieres zu fallen kommt; dann faßt man sie kürzer und kürzer, bis man letzteres ganz nahe an sich herangezogen hat, bildet eine Schifferschlinge und legt sie ihm um das Maul, hierdurch es fest und sicher zäumend und zu unbedingtem Gehorsam nöthigend. Hierauf bindet man es an dem Klotze fest und beginnt das Melkgeschäft. Während desselben macht das Renthier allerlei Anstrengungen, um durchzugehen; allein die Lappen verstehen dem zu begegnen und ziehen besonders widerspenstigen Thieren die Schlinge so fest über der Nase zusammen, daß sie wohl ruhig bleiben müssen. Dann naht sich der Melkende dem Ren von hinten, schlägt mehrere Male flach auf das Euter und entleert es. Man melkt sehr ungeschickt und vergeudet viele Milch, welche namentlich die Schenkel des Thieres bespritzt, daher wischt man auch wohl nach dem Melken Schenkel und Beine sauber ab. Das unreinliche Melkgefäß hat die Gestalt eines oben verlängerten Napfes mit geradeaus gehendem Stiele, besteht aus Holz und ist aus einem Stücke geschnitzt. Beim Melken kommen so viele Haare in die Milch, daß man sie durchseihen muß, allein das grobe Tuch, welches man dabei verwendet, läßt noch immer genug von den kürzeren Haaren durchschlüpfen, und so sieht die Milch nicht eben einladend aus. Ich habe sie dennoch und trotz der überaus schmutzigen Finger, zwischen denen sie hervorgegangen war, versucht: sie schmeckt angenehm süßlich und ist so fett wie Rahm. Sofort nach dem Melken öffnet man die Hürden und zieht wieder auf die Weide hinaus, gleichviel, ob man am frühen Morgen oder am späten Abende die Thiere versammelt; denn man weidet Tag und Nacht.

Unter den zahmen Renthierkühen scheint Gemeinschaftlichkeit der Güter zu herrschen. So störrisch sich diese Thiere beim Melken bezeigen, so liebenswürdig benehmen sie sich gegen die Kälber. Sie erlauben ebensowohl fremden wie ihren eigenen Kindern, sie zu besaugen.

[130] Während der Sommermonate bereiten die Lappen kleine, sehr wohlschmeckende, wenn auch etwas scharfe Käse aus der wenigen Milch, welche ihre Herdenthiere ihnen geben. Diese Käse dienen später als eines ihrer vorzüglichsten Nahrungsmittel. Sie wissen daraus unter anderem auch eine Art Suppe zu bereiten, welche sie als höchst schmackhaft schildern. Im September ist die eigentliche Schmaus- und Schlachtzeit; denn das Renthierfleisch, namentlich das von Böcken herrührende, nimmt einen schlechten Geschmack an, wenn die Hirsche gebrunstet haben. Das Ren wird, um es zu Boden zu werfen, genickfangt; dann stößt der Schlächter sein Messer in das Herz des Opfers, sorgfältig darauf achtend, daß sich alles Blut in der Brusthöhle sammle. Während des Abhäutens wird die Stichwunde durch ein eingeschobenes Holzstückchen verschlossen. Nachdem die Haut abgezogen worden ist, nimmt man die Eingeweide heraus und schöpft das übrige Blut in den geleerten und etwas gereinigten Wanst, welchen der Lappe nunmehr eine »Renthierbrust« nennt. Aus dem Blute wird Suppe bereitet, und erst wenn diese fertig ist, geht es an ein Zertheilen des Schlachtopfers. Kopf, Hals, Rücken, Seiten und Brust werden von einander abgetrennt und dann außer dem Bereiche der Hunde an ein Gerüst gehängt. Etwa noch ausfließendes Blut sammelt man in Gefäßen. Bei fernerem Zertheilen schneidet man die Sehnen sorgfältig heraus, weil sie später Zwirn und Rockschnüre geben sollen. Das Mark dient als besonderer Leckerbissen. Der Hausvater besorgt ebensowohl das Schlachten wie die Zubereitung der Speise, kostet dabei von Zeit zu Zeit und zwar so ernstlich, daß er bereits vor dem Mahle gesättigt sein könnte, ißt hierauf noch soviel, als sein Magen aufnehmen kann, und gedenkt nun erst der Kinder und schließlich der Hunde. Zu solchen Renthierschmäusen werden auch die umwohnenden Lappen eingeladen; während des September gibt es daher eine Völlerei nach der andern.

Mancherlei Seuchen richten oft arge Verheerungen unter den Renthieren an, und außerdem trägt das rauhe Klima dazu bei, daß sich die Herden nicht so vermehren, als es, der Fruchtbarkeit des Ren angemessen, sein könnte. Junge und zarte Kälber erliegen der Kälte oder leiden von den heftigen Schneestürmen, so daß sie, vollkommen ermattet, der Herde nicht weiter folgen können; ältere Thiere können bei besonders tiefem Schnee nicht mehr hinlänglich Nahrung finden, und wenn der Lappe unter solchen Umständen sich auch bemüht, ihnen in den Wäldern einige Aesung zu verschaffen, indem er die mit Flechten reich behangenen Bäume niederschlägt: er kann der Herde doch nicht das erforderliche Futter bieten. Sehr schlimm ist es, wenn zwischen den Schneefällen einmal Regen eintritt und der Schnee dadurch eine harte Kruste erhält. Eine solche verwehrt dem Ren, durch Wegschlagen der Schneedecke zu seiner Aesung zu gelangen. Dann entsteht oft bittere Noth unter den Lappen, und Leute, welche nach dortigen Volksbegriffen als reich gelten, werden unter solchen Umständen manchmal in einem einzigen Winter arm. Sie legen sich sodann auf Renthierdiebstahl und kommen dadurch in Fehde mit anderen Renthierbesitzern, von denen sie, bei der That ertappt, ohne Umstände todtgeschlagen werden.

Der Renthierdiebstahl ist unter den Lappen sehr verbreitet. Man darf diesen rohen Gebirgskindern Schätze von Gold zur Aufbewahrung übergeben und sicher sein, daß auch nicht das geringste davon verschwindet; man braucht nirgends Thüre und Thor zu verschließen vor den in der Nähe der Gehöfte weidenden Lappen, denn Golddiebe gibt es unter ihnen ebensowenig als unter dem größten Theile der Norweger: den Renthierdiebstahl aber können sie nicht lassen. Der Vogt von Tana, welchem ich viele und werthvolle Nachrichten über das merkwürdige Volk und sein Treiben verdanke, war oft genöthigt, Lappen wegen Diebstahls, und zwar wiederholt zu bestrafen. Wenn er den Leuten vorstellte, wie unrecht es wäre, sich an fremdem Eigenthum zu vergreifen und wie thöricht sie an sich selbst handelten, indem sie sich der goldenen Freiheit beraubten, hörte er stets nur die eine Antwort: »Ja, Herr, das wissen wir wohl, daß es unrecht ist, Renthiere zu stehlen: aber sie schmecken gar zu gut! Wir können das Stehlen nicht lassen; es ist uns unmöglich, ein fremdes Renthier zu sehen, ohne es uns anzueignen.« Dieses Sichaneignen geschieht übrigens auch zuweilen in der besten Absicht. Wenn die Lappen ihre Renthiere sammeln, kommt es ihnen [131] zu nächst gar nicht darauf an, ob sie Thiere zusammentreiben, welche zu ihrer Herde gehören, oder ob sie fremde zur Herde vereinigen. Die nächstwohnenden Renthierbesitzer kommen verabredetermaßen an einer gewissen Oertlichkeit zusammen; jeder tauscht sich dann die ihm gehörigen und von ihm gezeichneten Thiere aus und gelangt so wieder zu seinem Eigenthume.

Der gesammte Nutzen, welchen die zahmen Renthiere ihrem Besitzer bringen, würde, auf unsere Verhältnisse übertragen, gar nicht zu berechnen sein. Alles, was das Thier erzeugt, wird verwendet, nicht bloß das Fleisch und die Milch, sondern auch jeder einzelne Theil des Leibes. Die noch knorpeligen Hörner werden ebenso gern gegessen wie die des Elenthieres in gleichem Zustande; aus den weichen Fellen der Renthierkälber verfertigt man sich die Kleider; das Wollhaar wird gesponnen und verwebt; aus den Knochen macht man sich allerlei Werkzeuge; die Sehnen benutzt man zu Zwirn und dergleichen. Außerdem muß das Thier auch noch, namentlich während des Winters, die ganze Familie und ihr Hab und Gut von einem Orte zum andern schaffen. In Lappland benutzt man das Ren hauptsächlich zum Fahren, weniger zum Lasttragen, weil ihm letzteres, des schwachen Kreuzes wegen, sehr beschwerlich fällt. Die Tungusen und Koräken aber reiten auch auf den stärksten Renhir schen, indem sie einen kleinen Sattel gerade über die Schulterblätter legen und sich mit abstehenden Beinen auf das sonderbare Reitthier setzen. In Lappland reitet niemand auf Renthieren, und bloß die stärksten Böcke oder »Renochsen«, wie die Norweger sagen, werden zum Fahren benutzt. Man bezahlt tüchtige Zugthiere gern mit acht bis zwölf Species oder dreißig bis funfzig Mark unseres Geldes, während die gewöhnlichen Renthiere höchstens zwölf bis achtzehn Mark kosten. Kein Ren wird vorher zum Zuge abgerichtet; man nimmt ohne viel Umstände ein beliebiges, starkes Thier aus der Herde und spannt es vor den höchst passenden, der Natur des Landes und des Renthieres durchaus entsprechenden Schlitten. Dieser ist von dem bei uns gebräuchlichen freilich ganz verschieden und ähnelt vielmehr einem Boote. Er besteht aus sehr dünnen Birkenbretern, welche von einem breiten Kiele an bootartig gekrümmt an einander genagelt werden und so eine Mulde bilden, deren Vordertheil bedeckt ist. Ein senkrecht stehendes Bret am Hintertheile dient zur Rückenlehne, eine starkes Oes am Vordertheile als Deichsel. Selbstverständlich kann bloß ein einziger Mann in einem solchen Bootschlitten sitzen, und nothwendigerweise muß er die Beine gerade vor sich hinausstrecken: da nun aber der Schlitten mit Renthierfellen ausgefüttert ist, ruht man sehr bequem und warm in dieser sonderbaren Stellung. Für das Gepäck oder für zu befördernde Waare hat man Schlitten, welche oben mit Schiebedeckeln verschlossen werden können, den anderen aber sonst ganz ähnlich sind. Gewöhnlich fährt ein Lappe mit dem Leitren dem Reisenden voraus, um den Weg zu prüfen; denn selbstverständlich geht es in gerader Richtung über die weiße Decke hinweg, ohne genau zu wissen, welchen Grund sie verhüllt. Auf Flüssen und Seen werden Birkenreiser längs beider Seiten der Bahn gesteckt, um alle aufzufordern, denselben Weg zu benutzen und ihn glatt und fest zu fahren. Drei bis vier Schlitten hinterdrein enthalten Gepäck und Lebensmittel für den Reisenden, unter Umständen auch Renthierflechten für die Thiere, und so besteht der volle Reisezug gewöhnlich aus mindestens sechs Schlitten.

Das sehr einfache Geschirr besteht eigentlich nur aus einem breiten Stück Fell, welches zusammengenäht ist, damit es allseitig weich wird. Dieses rundliche Band endigt in zwei dicke Knöpfe, welche beim Anschirren durch eine Schlinge, das Ende des Zugseiles, gesteckt werden. Letzteres läuft zwischen den Vorderbeinen durch und sollte auch längs des Bauches fortlaufen, wird aber von dem Ren gewöhnlich übersprungen und kommt dann hinten bald auf die rechte, bald auf die linke Seite des Thieres zu liegen. Am Schlitten wird eine Schleife durch das Oes am Vorderende gesteckt und an ihr das Zugseil befestigt. Der einfache Zügel endigt in eine Schlinge, welche dem Ren um das Maul gelegt und durch ein zweites Band, das hinter dem Geweih verläuft, befestigt wird. Man lenkt ein Zugthier, indem man den Zügel mit einiger Kraft bald auf die linke, bald auf die rechte Seite seines Rückens wirft. Ein gutes Renthier legt mit dem Schlitten [132] in einer Stunde eine norwegische oder anderthalb geographische Meilen zurück und zieht bis 9 Wog oder 288 Pfund, wird aber gewöhnlich nur mit 4 bis 5 Wog belastet. Im Sommer verwendet man es in Norwegen nicht zum Zuge.

Diesen eigenen Erfahrungen will ich noch die Bemerkungen anderer Reisenden hinzufügen, um das Bild zu vervollständigen. Die Koräken spannen anstatt eines Ren deren zwei an und fahren zuweilen in einem Zuge zehn bis zwölf Meilen weit, ermüden ihre Zugthiere dann aber derart, daß diese oft genug liegen bleiben. Sind die Thiere sehr erschöpft, so werfen sie sich auf den Boden nieder und verharren eine Zeitlang regungslos; dann pflegen die Samojeden ihnen eine Ader zu öffnen. Wenn man starke, gut ausgefütterte Renthiere schont, d.h. sie nur morgens und abends einige Stunden ziehen, mittags und nachts aber weiden läßt, kann man erstaunlich große Strecken mit ihnen durchreisen, ohne sie zu übernehmen.

Enge Gefangenschaft behagt dem Ren sehr wenig; gleichwohl hält es sich in unseren Thiergärten, falls es entsprechend behandelt wird, recht gut, pflanzt sich auch regelmäßig hier fort. Ohne Renthierflechten kann man es übrigens auf die Dauer nicht erhalten; es verschmäht, wenn es diese ihm am meisten zusagende Nahrung haben kann, selbst das beste Heu und nimmt solches, wie alle übrigen Pflanzenstoffe, mit Ausnahme von Brod, scheinbar nur mit Widerstreben zu sich. Unser Klima, d.h. die im Tieflande herrschende Sommerwärme, sagt ihm nicht zu, während es gegen die Winterkälte, auch die strengste, vollkommen gleichgültig ist. Dem entsprechend eignet es sich mehr als jeder andere nichtdeutsche Hirsch zur Einbürgerung auf waldlosen Hochflächen aller Gebirge, auf denen die Renthierflechte wächst. Hier würde es sich sehr wohl befinden, in kurzer Frist eingewöhnen, fortpflanzen und als Jagdwild verwerthen lassen. Allerdings hat man wiederholt Versuche gemacht, es in Deutschland einzubürgern, bei keinem einzigen derselben aber, so weit mir bekannt, das nöthige Verständnis des Thieres und seiner Lebensweise sowie der Grundbedingungen des erhofften Erfolges bekundet. Entweder ließ man ein Rudel im Tieflande frei und wunderte sich, daß die Thiere hier nicht leben bleiben wollten, oder man setzte ein ungeeignetes Pärchen auf den Alpen aus, und – verkaufte dasselbe, trotzdem es vorzüglich gedieh, weil es sich, infolge der Unfruchtbarkeit des einen Thieres, nicht fortpflanzte. Hätte man vom Anfange an eine Renthierherde von mindestens zwanzig bis dreißig Stücken auf einen geeigneten Hochgebirgsboden, wie die Alpen solche in Menge aufweisen, gebracht und hier sich selbst überlassen, so würde man unbedingt zum Ziele gekommen sein. Dafür sprechen alle Erfahrungen, welche bis jetzt gesammelt wurden. Das Ren, welches man in beliebiger Menge und ohne besondere Schwierigkeiten aus norwegisch Lappland beziehen kann, verwildert ungemein leicht, schüttelt die Sklaverei in kürzester Zeit ab, beansprucht keinerlei Pflege, befindet sich, erwiesenermaßen auch unter unseren Breiten in einem Höhengürtel von zweitausend Meter unbedingter Höhe und darüber ebensowohl wie in seinem Vaterlande, nährt sich von Pflanzen, welche unsere Herdenthiere entweder nicht fressen oder nicht erlangen können und verursacht keinen Schaden: dies alles sind Verhältnisse, wie sie günstiger nicht gedacht werden können. Gerade weil Forst- und Ackerbau uns zwingen, das ursprünglich einheimische Hochwild mehr und mehr auszurotten, sollten wir auf einen wenigstens einigermaßen zufriedenstellenden Ersatz dieses so manches brave Jägerherz beglückenden edlen Thieres Bedacht nehmen, und gerade, weil wir unser Hochwild seiner Schädlichkeit halber befehden müssen, sollten wir uns nach Thieren umsehen, welche den Jäger mit dem Forst- und Landwirt nicht in Zwiespalt bringen. Ein solches Ersatzwild ist das Ren. Ich habe schon vor Jahren auf dasselbe hingewiesen und mich bemüht zu überzeugen, daß es auf unseren Hochgebirgen gedeihen müsse: die inzwischen angestellten Versuche haben zwar nicht meinen Wünschen, wohl aber meinen Voraussetzungen entsprochen. Fortan handelt es sich darum, mit dem erforderlichen Ernste und der nöthigen Kenntnis weitere Versuche anzustellen: der Erfolg wird ihnen nicht fehlen.


[133] *


Quelle:
Brehms Thierleben. Allgemeine Kunde des Thierreichs, Dritter Band, Erste Abtheilung: Säugethiere, Zweiter Band: Raubthiere, Kerfjäger, Nager, Zahnarme, Beutel- und Gabelthiere. Leipzig: Verlag des Bibliographischen Instituts, 1883., S. 120-134.
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