Ogotona (Lagomys Ogotona)

[481] Pallas hat die ersten Mittheilungen über das Leben der Pfeifhasen gegeben, Radde weitere Beobachtungen veröffentlicht, Przewalski neuerdings beider Berichte wesentlich vervollständigt. Alle Pfeifhasen finden sich auf den hohen Gebirgen Innerasiens zwischen ein- und viertausend Meter über dem Meere. Hier leben sie als Standthiere auf den felsigen, wilden, bergigen und grasreichen Stellen in der Nähe der Alpenbäche, bald einzeln, bald paarweise, manchmal in größerer Menge. Der Alpenpfeifhase gehört der ganzen ungeheuren Gebirgskette des Nordrandes Inner- und Hinterasiens an, kommt aber auch in Kamtschatka vor. Er bevorzugt nach Radde die waldigen Gegenden und meidet die kahlen Hochsteppen, in denen er durch eine zweite Art, den Otogono (zu deutsch: der Kurzschwänzige) oder die Ogotona (Lagomys Ogotona), ersetzt wird. Dieser[481] Pfeifhase wählt, nach Przewalki's Erfahrungen, zu seinem Aufenthalte ausschließlich einen wiesenartigen Theil der Steppe, namentlich, wenn derselbe hügelig ist, tritt aber auch im Baikalgebirge nicht allzu selten auf. In der nördlichen und südöstlichen Mongolei begegnet man ihm häufig; in der wüstenhaften Gobi dagegen fehlt er fast überall gänzlich.

Kleine, selbst gegrabene Höhlen und natürliche Felsenritzen sind die Wohnungen der Pfeifhasen. Ihre Bauten bilden stets Siedelungen von wechselnder, regelmäßig jedoch erheblicher Anzahl der einzelnen Höhlen, so daß man da, wo man eine von diesen entdeckt hat, ihrer zehn, hundert, ja selbst tausende wahrnehmen kann. Bei hellem Wetter liegen sie bis Sonnenuntergang versteckt, bei trübem Himmel sind sie in voller Thätigkeit.


Alpenpfeifhase (Lagomys alpinus). 1/3 natürl Größe.
Alpenpfeifhase (Lagomys alpinus). 1/3 natürl Größe.

Nach Eintritt strenger Winterkälte verlassen die Ogotonen, obgleich sie auch dann wach bleiben, ihre unterirdischen Wohnungen nicht; sobald aber die Kälte nachläßt, kommen sie zum Vorscheine, setzen sich vor dem Eingange nieder, um sich an der Sonne zu wärmen, oder laufen, laut pfeifend, eiligst von einer Höhle aus der anderen zu. Aus Furcht vor ihren Feinden schleichen sie oft nur bis zu halber Leibeslänge aus ihrem Baue hervor und recken dann den Kopf in die Höhe, um sich zu überzeugen, daß sie sicher sind. In ihrem Wesen paaren sich Neugier und Furcht. Einen herannahenden Menschen oder Hund betrachten sie so lange, daß der eine wie der andere bis auf zehn Schritte an sie herankommen kann, bevor sie, nunmehr aber blitzschnell, in ihrer Höhle verschwinden; bald jedoch überwindet Neugierde die Furcht: nach einigen Minuten zeigt sich am Eingange der unterirdischen Wohnung wiederum das Köpfchen des Thieres; es späht ängstlich in die Runde und erscheint, sobald der Gegenstand des Schreckens sich entfernt hat, sofort wieder auf der alten Stelle.

Radde nennt die Pfeifhasen thätige, friedliche und sehr fleißige Nager, welche große Vorräthe von Heu sammeln, in regelrechter Weise stapeln und zuweilen mit breitblätterigen Pflanzen zudecken, um sie vor dem Regen zu schützen. Die Ogotona beginnt schon Mitte Juni für den Winter zu sammeln und ist zu Ende des Monats damit aufs eifrigste beschäftigt. In der Wahl der Kräuter zeigt sie sich nicht sehr umständlich: sie nimmt da, wo sie nicht gestört wird, gern die saftigsten Gräser an, begnügt sich aber an Orten, wo muthwillige Knaben ihre Vorräthe zerstören [482] oder das weidende Vieh diese auffrißt, mit Gräsern und anderen Pflanzen, welche sonst von den Thieren verschmäht werden. Die von ihr zusammengetragenen Heuhaufen erreichen 12 bis 18 Centim. Höhe und 15 bis 30 Centim. Durchmesser. Gewöhnlich, aber nicht immer, liegen die Kräuter wohlgeordnet, bisweilen sogar geschichtet; einige Male fand Radde, daß die Gräser der höheren Schicht auf die einer unteren im rechten Winkel gelegt worden waren. Wenn die Felsen zerklüftet sind, werden die Ritzen als Scheunen benutzt; Radde zog aus einer 60 Centim. langen und 15 Centim. breiten Felsenspalte eine große Menge gesammelter und sehr schön erhaltener, stark duftender Kräuter hervor und fand einen zweiten, etwas geringeren Vorrath in der Nähe des ersteren unterhalb einer überragenden Felskante, welche ihn vor Feuchtigkeit schützte. Zu diesem Baue führen schmale Pfade, welche die Pfeifhasen ausgetreten haben, und zu deren beiden Seiten sie die kurzen Gräser abweiden. Stört man die fleißigen Sammler in ihrer Arbeit, so beginnen sie dieselbe wieder aufs neue, und manchmal schleppen sie noch im September die bereits vergilbten Steppenpflanzen zusammen. Wenn der Winter eintritt, ziehen sie vor ihren Höhlen Laufgräben unter dem Schnee bis zu den Heuschobern. Diese Gänge sind mannigfach gekrümmt und gewunden, und jeder einzelne hat sein Luftloch.

Alle Pfeifhasen trinken wenig. Im Sommer haben sie allerdings oft Regenwasser, im Winter Schnee zu ihrer Verfügung; im Laufe des Frühlings und Herbstes aber, um welche Zeit in der mongolischen Hochebene oft monatelang keine Niederschläge stattfinden und die Trockenheit der Luft die äußerste Grenze erreicht, fehlt ihnen sogar der Nachtthau zu ihrer Erquickung, und dennoch scheinen sie nichts zu entbehren.

Der Schrei des Alpenpfeifhasen, welchen man noch um Mitternacht vernimmt, ähnelt dem Rufe unseres Buntspechtes und wird, selten häufiger als dreimal, rasch hintereinander wiederholt. Die Ogotona pfeift nach Art der Mäuse, aber lauter und heller, und so oft hinter einander, daß ihr Ruf wie ein schrillender, zischender Triller klingt. Eine dritte Art, der Zwergpfeifhase (Lagomys pusillus), soll einen Ruf ausstoßen, welcher dem Schlage unserer Wachtel täuschend ähnlich ist.

Zu Anfang des Sommers wirft das Weibchen, laut Pallas, gegen sechs nackte Junge und pflegt sie sorgfältig.

Leider haben die Thierchen viele Feinde. Sie werden zwar von den Jägern Ostsibiriens nicht verfolgt, aber fortwährend vom Manul, Wolf, Korsack und verschiedenen Adlern und Falken befehdet und ziehen im Winter die Schneeeule, ihren gefährlichsten Gegner, geradezu herbei. »Die Geschicklichkeit«, sagt Przewalski, »welche die gefiederten Räuber bei ihrer Jagd auf Pfeifhasen bethätigen, ist erstaunlich. Ich sah oft, wie Bussarde von oben herab mit solcher Schnelle auf Ogotonen stießen, daß diesen nicht Zeit blieb, in ihre Höhle sich zu ducken. Einmal führte auch ein Adler vor unseren Augen solches Kunststück aus, indem er sich aus einer Höhe von mindestens sechzig Meter auf einen vor seiner Höhle sitzenden Pfeifhasen stürzte und ihn erhob.« Die Bussarde nähren sich so ausschließlich von Ogotonen, daß sie sogar ihre Winterherberge nur der Pfeifhasen halber in der Gobi nehmen. Aber auch der Mensch schädigt die harmlosen Nager, weil er die mühevoll gesammelten Vorräthe raubt. In schneereichen Wintern treiben die Mongolen ihre Schafe in solche Gegenden, wo viele Ogotonen leben, oder füttern ihre Pferde mit dem von diesen gestapelten Heu.

Ueber das Gefangenleben fehlen Berichte. »Ich wüßte kein anderes Thier«, sagt Radde, »auf welches ich soviel Mühe vergeblich verwendete, um mich in seinen Besitz zu bringen, als eben auf diesen winzigen Felsenbewohner.«

Quelle:
Brehms Thierleben. Allgemeine Kunde des Thierreichs, Zweiter Band, Erste Abtheilung: Säugethiere, Dritter Band: Hufthiere, Seesäugethiere. Leipzig: Verlag des Bibliographischen Instituts, 1883., S. 481-484.
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