Funfzehnte Familie: Rallen (Rallidae)

[414] Unsere Wasserralle gilt als Urbild einer an Arten zahlreichen, über die ganze Erde verbreiteten gleichnamigen Familie (Rallidae) zierlicher Sumpfvögel, welche sich kennzeichnen durch hohen, seitlich stark zusammengedrückten Leib, mittellangen Hals, kleinen Kopf, verschieden gestalteten, seitlich zusammengedrückten, selten mehr als kopflangen Schnabel, hohe, langzehige Füße mit stets entwickelter Hinterzehe, ziemlich kurze, abgerundete Flügel, welche die zusammengelegte Schwanzspitze nicht erreichen, langen, zugerundeten, aus zwölf Federn bestehenden Schwanz und reiches, jedoch glattanliegendes Gefieder. Der Schädel ist, laut Wagner, rundlich und schön gewölbt, das Hinterhauptsloch ansehnlich, die Augenscheidewand durchbrochen, das Thränenbein mittelmäßig, der Kopf überhaupt dem der Kraniche sehr ähnlich. Die Wirbelsäule besteht aus dreizehn schlanken Hals-, zehn unverschmolzenen Brust- und acht schwachen Schwanzwirbeln; der letztere von diesen pflegt, dem schwachen Schwanze entsprechend, verkürzt zu sein; das Brustbein ist ziemlich lang, aber sehr schmal, sein Kamm beträchtlich groß; nach hinten findet sich jederseits ein längerer, schmaler Fortsatz, welcher jederseits spitzwinkelige, tiefgehende Hautbuchten einschließt. Fast alle Knochen sind markig. Die Zunge ist ziemlich lang und zugespitzt, der Schlund weit und faltig, der Vormagen länglich, der Muskelmagen sehr stark und kräftig usw.

Die Rallen, zu denen etwa einhundertundzehn Arten gezählt werden, sind Weltbürger und leben in sumpfigen oder doch feuchten Gegenden, einige in wirklichen Brüchen oder schilfreichen Teichen und Seen, andere auf Wiesen und den Getreidefeldern, einzelne auch im Walde. Sie führen ein verborgenes Leben, lassen sich so wenig wie möglich sehen, entschließen sich nur hart gedrängt zum Auffliegen, verstehen aber meisterhaft, zwischen ihren Wohnpflanzen sich zu verbergen. Alle sind vortrefflich zu Fuße, einzelne schwimmen recht leidlich, andere tauchen sogar; [414] sämmtliche Arten aber gehören zu den schlechtesten Fliegern innerhalb ihrer Ordnung. Bemerkenswerth ist ihre laute, in den meisten Fällen höchst eigenthümliche Stimme, welche man in den Abend- und Morgenstunden, dann aber zuweilen lange Zeit ohne Unterbrechung vernimmt. Ihre Sinne sind wohl entwickelt, ihre geistigen Fähigkeiten bedeutend, ihre Eigenschaften ansprechend. Unter sich leben die wenigsten Arten gesellig; außer der Brutzeit kommt es jedoch vor, daß einzelne zu kleinen Flügen sich vereinigen, längere Zeit gemeinschaftlich an einem und demselben Orte aufhalten oder wohl auch zusammen auf die Reise begeben. Um andere Vögel oder Thiere überhaupt bekümmern sie sich wenig, obgleich sie sich in deren Gesellschaft nicht ungern zu befinden scheinen. Ihre Nahrung entnehmen sie ebensowohl dem Pflanzen- wie dem Thierreiche. Sie verzehren viele Sämereien, aber auch sehr gern und zeitweilig wohl ausschließlich Kerbthiere, deren Larven, Schnecken, Würmer, Eier anderer Vögel oder kleine Nestvögel selbst. Die größeren Arten der Familie sind wahre Raubvögel, welche sogar ausgewachsenen kleinen Wirbelthieren den Garaus machen. Das Nest wird nahe am Wasser, oft über demselben im Binsicht, Ried und Schilf angelegt, ist ein ziemlich gutes Geflecht, in welches das Wasser nicht eindringen kann, und enthält im Frühjahre der betreffenden Länder drei bis zwölf, auf bleichem Grunde dunkler gefleckte und gepunktete Eier, welche von beiden Eltern bebrütet werden. Die wolligflaumigen Jungen sind vollendete Nestflüchter und deshalb außerordentlich schwer zu beobachten; doch weiß man, daß sie sich sehr bald selbständig machen, die Eltern im Laufe des Sommers auch wohl zu einer zweiten Brut schreiten. Alle Rallen werden nicht eigentlich gejagt, weil die Jagd nur mit Hülfe eines guten Stöberhundes einigen Erfolg verspricht, aber gelegentlich mit erlegt, da ihr Fleisch wohlschmeckend ist. Größeres Vergnügen als ihre Jagd gewährt ihr Gefangenleben. Sie gehören ausnahmslos zu den anmuthigsten Vögeln, welche man halten kann, verlangen jedoch ein geräumiges Gebauer und ziemlich sorgfältige Pflege, wenn sie gedeihen sollen.

Quelle:
Brehms Thierleben. Allgemeine Kunde des Thierreichs, Sechster Band, Zweite Abtheilung: Vögel, Dritter Band: Scharrvögel, Kurzflügler, Stelzvögel, Zahnschnäbler, Seeflieger, Ruderfüßler, Taucher. Leipzig: Verlag des Bibliographischen Instituts, 1882., S. 414-415.
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