Weißkopfseeadler (Haliaëtus leucocephalus)

[654] Ebenso darf der nordamerikanische Weißkopfseeadler (Haliaëtus leucocephalus und Washingtoni, Falco leucocephalus, leucogaster und Washingtoni, Aquila leucocephala) unserem Werke nicht fehlen, nicht allein deshalb, weil er die europäische Art im Westen vertritt, sondern vornehmlich aus dem Grunde, als er sich wiederholt nach Europa verflogen haben und sogar im Innern Deutschlands, in Thüringen, erlegt worden sein soll. Er ist etwas kleiner als der Seeadler: seine Länge beträgt, je nach dem Geschlechte, zweiundsiebzig bis fünfundachtzig, die Breite einhundertundneunzig bis zweihundertundelf, die Fittiglänge zweiundfunfzig bis siebenundfunfzig, die Schwanzlänge siebenundzwanzig bis dreißig Centimeter. Bei dem alten Vogel ist das Rumpfgefieder sehr gleichmäßig dunkelbraun, jede einzelne Feder lichter gerandet; Kopf, Oberhals und Schwanz aber sind blendend weiß, die Schwingen schwarz, Auge, Wachshaut, Schnabel und Füße etwas lichter gefärbt als bei dem europäischen Verwandten. Das Jugendkleid ist fast überall schwarzbraun, am Kopfe, Halse und Nacken dunkler, beinahe ganz schwarz, auf Rücken, Flügeln und Brust der helleren Federränder wegen lichter, der Schnabel dunkelhornfarbig, die Wachshaut grüngelb, das Auge braun, der Fang gelb.

Hinsichtlich ihrer Lebensweise und ihres Betragens ähneln sich alle mir bekannten großen Seeadler. Sie sind träge, aber kräftige, ausdauernde und beharrliche Raubvögel, dabei Räuber der gefährlichsten Art. Ich halte es für angemessen, eine Beschreibung der Gruppe mit Audubons dichterischer Schilderung der weißköpfigen Art zu beginnen.

»Um Euch einen Begriff von dem Wesen des Vogels zu geben, erlaubt mir, daß ich Euch nach den Ufern des Mississippi versetze, wenn der nahende Winter Millionen von Wasservögeln, welche im Süden einen milderen Himmel suchen wollen, aus nördlicheren Gegenden herbeiführt. Ihr seht den Adler in erhabener Stellung aufgebäumt auf dem höchsten Wipfel des größten Baumes am Ufer des breiten Stromes sitzen. Sein glühendes Auge überschaut das weite Gebiet, und er lauscht aufmerksam auf jeden Laut, welcher von fern her zu seinem scharfen Ohre dringt. Ab und zu fällt einer seiner Blicke auf den Boden herab, und nicht einmal ein unhörbar dahinschleichendes Hirschkalb würde ihm entgehen. Sein Gatte hat auf dem gegenüberliegenden Ufer des Stromes gebäumt und ruft, wenn alles still und ruhig ist, zuweilen nach seinem harrenden Gefährten hinüber. Auf solchen Ruf hin öffnet dieser seine breiten Schwingen, neigt seinen Leib niederwärts und antwortet in Tönen, welche an das Gelächter eines Wahnsinnigen erinnern. Im nächsten Augenblicke nimmt er seine frühere Stellung an, und die Stille ist wieder eingetreten.

Verschiedene Entenarten, die Spießente, die Pfeifente, die Stockente, ziehen eilig vorüber, dem Laufe des Stromes folgend; aber der Adler behelligt sie nicht. Im nächsten Augenblicke jedoch wird der wilde, trompetenartige Ton des von fern her sich nahenden Schwanes gehört. Ein Ruf des Adlerweibchens schallt über den Strom, um das Männchen aufmerksam zu machen. Dieses schüttelt plötzlich seinen Leib und bringt mit dem Schnabel das Gefieder in Ordnung. Der schneeige Vogel kommt jetzt in Sicht: sein langer Hals ist vorgestreckt; das Auge schaut in die Runde zur Wacht gegen die Feinde. Die langen Schwingen tragen, wie es scheint, mit Schwierigkeit das Gewicht des Leibes und werden deshalb unablässig bewegt; die beiden Ruderfüße müssen steuern helfen. Die vom Adler auserkorene Beute nähert sich. In dem Augenblicke, in welchem der Schwan an dem gefürchteten Paare vorüberzieht, erhebt sich der männliche Adler von seinem Sitze mit Furcht erregendem Geschrei, welches dem Ohre des Schwanes schrecklicher dünkt als selbst das [654] Krachen des Gewehres. Jetzt ist der Augenblick erschienen, in welchem der Adler seine volle Kraft entfaltet. Er gleitet durch die Luft wie ein fallender Stern und stürzt sich wie ein Blitz auf das zitternde Wild, welches in Todesschrecken und Verzweiflung durch die verschiedensten Künste des Fluges dem toddrohenden Angriffe seines grausamen Gegners zu entrinnen sucht.


Weißkopfseeadler (Haliaëtus leucocephalus). 1/5 natürl. Größe.
Weißkopfseeadler (Haliaëtus leucocephalus). 1/5 natürl. Größe.

Es steigt, wendet sich und würde sich in den Strom stürzen, wäre der Adler nicht bekannt mit allen Listen des Schwanes, und zwänge er ihn nicht, in der Luft zu verweilen. Der Schwan gibt die Hoffnung auf Entkommen auf, die Furcht übermannt ihn, und seine Kraft verläßt ihn, angesichts der Kühnheit und Schnelle seines Gegners. Noch einen verzweifelten Versuch zum Entrinnen, und der Adler schlägt ihm seinen Fang unter den Flügeln ein und zwingt ihn, mit unwiderstehlicher Kraft, sich gegen das nächste Ufer hin mit ihm niederzusenken.

Jetzt könnt ihr alle Grausamkeiten des fürchterlichsten Feindes der befiederten sehen. Aufgerichtet über dem Opfer, welches unter ihm verhaucht, preßt er die gewaltigen Fänge zusammen und treibt die scharfen Klauen tief in das Herz des sterbenden Vogels. Er jauchzt vor Vergnügen in dem Augenblicke, während seine Beute unter ihm krampfhaft zusammenzuckt. Das Weibchen hat [655] bis dahin jede Bewegung ihres Gatten beobachtet, und wenn es ihm nicht zu Hülfe kam, so geschah das nur, weil es fühlte, daß die Kraft und Kühnheit des Gemahls vollständig genügend waren. Jetzt aber schwebt es zu diesem herüber, und beide drehen nun die Brust des unglücklichen Schwanes nach oben und beginnen die Mahlzeit.«

Ein Dichter, wie Audubon es war, wird zur Schilderung des Angriffes eines Seeadlers auf wehrlose Beute die angegebenen Worte verwenden dürfen. Er hat das wirklich gesehene wiedergegeben: die lebendigen Farben seines Gemäldes sind wahrheitsgetreu. Leider kann ich, beengt durch den mir zugemessenen Raum, Audubon nicht weiter folgen; ich muß versuchen, das übrige, was ich über unseren Seeadler noch zu sagen habe, in möglichster Kürze zusammenzufassen.

Alle Seeadler verdienen ihren Namen. Sie sind vorzugsweise Küstenvögel, verlassen wenigstens bloß ausnahmsweise die Nähe des Wassers. Im Inneren des Landes kommen alte Seeadler fast nur an großen Strömen oder großen Seen vor; die jüngeren hingegen werden oft fern vom Meere gesehen: sie wandern in der Zeit, welche zwischen ihrem Ausfliegen und der Paarung liegt, das heißt mehrere Jahre, ziel- und regellos durch die weite Welt, und gelegentlich solcher Reisen erscheinen sie auch tief im Binnenlande, großen Strömen oder wenigstens Flüssen folgend. Solche Reisen geschehen größtentheils unbeachtet, weil die wandernden Seeadler gewöhnlich in sehr hoher Lust dahinziehen und sich nur da, wo Waldungen ihre Heerstraßen begrenzen, in die Tiefe hinabsenken mögen. Namentlich im Spätherbste und Frühjahre müssen viele durch Deutschland wandern, weil sich sonst ihr massenhaftes Auftreten an Beute versprechenden Plätzen nicht erklären ließe. »Während der sechzehn Jahre von 1843 bis 1859, in denen ich die Leitung der großen Hofjagden in der Letzlinger Heide hatte«, schreibt mir von Meyerinck, »erschienen jedes Jahr fast einen oder zwei Tage nach der Jagd sechs, acht bis zwölf Seeadler, welche den vielen Aufbruch der vier- bis fünfhundert erlegten Stücke Roth- und Schwarzwildes oder auch krankes und Fallwild, welches bei der Jagd angeschossen worden war, aufsuchten und dann längere Zeit im Reviere verweilten. Die Letzlinger Heide liegt von der Ostsee über sechshundert Kilometer weit entfernt, und doch konnten die Adler nur von dorther gezogen kommen, um sich in der Heide satt zu kröpfen. Die Hofjagden fielen damals stets zwischen den achtundzwanzigsten Oktober und zwanzigsten November; vorher aber habe ich niemals einen Adler in der Heide gesehen, trotzdem ich täglich zu allen Tageszeiten im Reviere war. Ich wage natürlich nicht auszusprechen, was die Adler so schnell herbeiführte; bloßer Zufall aber konnte es nicht sein, da diese Erscheinung sich fast alle Jahre wiederholte. Unter der Gesellschaft, welche sich rasch zusammenfand, sah man stets auch mehrere alte mit fast weißen Köpfen, sehr hellem Halse und weißen Schwanzfedern.« Ich glaube nicht, daß Meyerincks Annahme, die Adler seien nur deswegen von der Ostsee her zugewandert, um sich in der Letzlinger Heide satt zu kröpfen, zutreffend ist, bin vielmehr der Meinung, daß sie um die angegebene Zeit auf dem Zuge sich befanden, von der Höhe, in welcher sie dahinflogen, die ihnen winkende Beute bemerkten und sich allmählich scharten, ganz wie Geier unter ähnlichen Umständen zu thun pflegen. Von unseren deutschen Küsten werden die Seeadler allerdings nicht in jedem Winter vertrieben; diejenigen aber, welche östlich vom Warangerfjord am Eismeere, in Lappland oder Nordrußland horsten, müssen nothgedrungen auswandern, wenn ihr Jagdgebiet sich mit Eis oder ungewöhnlich hoch mit Schnee bedeckt, und sie sind es dann auch, welche einestheils längs der offenen Küsten, anderentheils mitten durch das Land längs der Flüsse nach Süden hin fliegen und sich in Südeuropa oder Nordafrika während des Winters denjenigen gesellen, welche hier wie da jahraus, jahrein an den Küsten leben. Aufmerksame Beobachtung ergibt wenigstens für Griechenland und Nordegypten, daß während des Winters die Seeadler weit häufiger sind als im Sommer. Alte Seeadler entschließen sich ungleich seltener als junge zum Wandern, einmal, weil sie ihren Stand ungern verlassen, und ebenso, weil sie sich in ihrem Räubergewerbe besser ausgebildet haben als jene. Sie wandern selbst nicht immer in Rußland oder anderen nordischen Binnenländern aus, sondern nähern sich im Winter einfach den Ortschaften, lungern und hungern in deren Nähe, bis ihnen Beute wird, sei es das Aas eines [656] Hausthieres oder ein Hund oder eine Katze, ein Ferkel, Böcklein oder Zicklein, Huhn oder Truthuhn, eine Gans oder Ente. Bei uns zu Lande verweilen sie, wenn sie die Küstenwälder wirklich verlassen, an großen Landseen und beschäftigen sich fleißig mit Fisch- und Wassergeflügeljagd, bis die Seen zufrieren, kehren hierauf vielleicht nochmals an die See zurück und treten erst dann eine weitere Reise an, wenn keines ihrer gewohnten Jagdgebiete mehr Beute gewähren will. Wie übrigens ein Seeadler auch wandern möge: eine Wasserstraße verläßt er wohl nur im ärgsten Nothfalle. So viel mir bekannt, wird der alte wie der junge Vogel bloß ausnahmsweise einmal auch in wasserärmeren Gegenden, namentlich in Gebirgen, erlegt, obgleich es keinem Zweifel unterliegen kann, daß er solche überfliegt. Noch viel seltener dürfte es vorkommen, daß im Binnenlande, fern von Gewässern, ein Seeadlerpaar wohnen bleibt, das heißt seinen Horst auf einem der höchsten Bäume des Waldes gründet. Er meidet die Steppe nicht, entschließt sich im südlichen Rußland sogar, in ihr zu horsten, siedelt sich aber nur in der Nähe eines Stromes an.

Außer der Brutzeit lebt der Seeadler ziemlich gesellig, mehr nach Geier- als nach Adlerart. Ein günstig gelegener Wald oder Felsen wird zum Vereinigungs- oder Schlafplatze. Im Hochsommer übernachtet er gern auf kleinen Inseln, namentlich auf den Scheren, im Küsten- oder Binnenwalde auch auf hohen Bäumen und dann regelmäßig auf den unteren Wipfelästen, so daß er in dichteren Baumkronen fast verdeckt sitzt. Fesselt ihn reichliche Beute in der Nähe, so hält er an solchen Schlafplätzen beinahe mit derselben Zähigkeit fest wie am Horste, findet sich allabendlich ein und läßt sich auch durch wiederholte Störungen nicht vertreiben. Er geht sehr spät zur Ruhe und fliegt früh am Morgen, meist schon vor Aufgang der Sonne, davon, um sein Jagdgebiet zu durchstreifen. Findet er bald Beute, so kröpft er in den Vormittagsstunden und ruht, nachdem er den Schnabel geputzt und getrunken, über Mittag einige Stunden aus, nestelt im Gefieder, schläft auch wohl ein wenig und tritt des Nachmittags einen zweiten Jagdzug an, bis die Zeit zum Schlafen herangekommen ist.

Wie der Steinadler jagt auch der Seeadler auf alles Wild, welches er überwältigen kann, und macht außerdem von seinen unbefiederten, das Fischen erleichternden Fängen umfassenden Gebrauch. Den Igel schützt sein Stachelkleid ebensowenig wie den Fuchs sein Gebiß, der Wildgans ihre Vorsicht nicht mehr als dem Tauchvogel seine Fertigkeit, unter den Wellen zu verschwinden. An der Seeküste stellt er verschiedenen Meeresvögeln, namentlich Enten und Alken sowie Fischen oder Meersäugethieren, nach. Die Taucher sind, nach Wallengrens Bericht, mehr gefährdet als die nicht tauchenden Vögel. Diese erheben sich beim Anblicke des allgefürchteten Räubers so schnell sie können und entweichen, jene vertrauen oft zu viel auf die Wassertiefe, warten den Adler ruhig ab, tauchen und glauben sich gesichert, während der böse Feind doch nur darauf lauert, daß sie wieder zum Vorscheine kommen müssen. Sie entrinnen vielleicht zwei-, dreimal der verderbenden Klaue – beim vierten Auftauchen, wenn sie dem Ersticken nahe einen Augenblick länger verweilen als sonst, sind sie gefaßt und wenige Sekunden später erwürgt. Am Mensalehsee in Egypten, in Ungarn und in Norwegen habe ich den Seeadler oft beobachtet und immer gesehen, daß groß und klein, selbst andere Raubvögel, seine Nähe fürchtete; ich zweifle auch nicht daran, daß er den Fluß- oder Fischadler, seinen nächsten Verwandten, welchem er oft seine Beute abjagt, ebenso ruhig verzehren würde wie jedes andere Wild. Mit der Kühnheit und dem Bewußtsein der Kraft dieses Vogels vereinigt sich die größte Hartnäckigkeit. Alexander von Homeyer beobachtete, daß ein Seeadler sich wiederholt auf Meister Reineke stürzte, welcher, wie bekannt, seiner Haut sich wohl zu wehren weiß, und derselbe Forscher erfuhr von glaubwürdigen Augenzeugen, daß ein Adler bei einer derartigen Jagd den von ihm erspähten Fuchs beinahe umbrachte, indem er fortwährend auf ihn stieß, den Bissen des Vierfüßlers geschickt auszuweichen und alle Versuche des letztern, den nahen, deckenden Wald zu erreichen, zu vereiteln wußte. Daß die kleineren Herdenthiere aufs höchste durch diesen Adler gefährdet sind, ist eine bekannte Thatsache, daß er Kinder angreift, keinem Zweifel unterworfen: erzählt doch Nordmann, daß einer in Lappland sogar auf [657] einen kahlköpfigen Fischer herabstieß und ihm den Skalp vom Schädel nahm, ebenso wie ein anderer aus einem Fischerboote einen eben gefangenen Hecht erhob, während der daneben sitzende Fischer beschäftigt war, das Netz in Ordnung zu bringen. An den Vogelbergen des Nordens findet auch er regelmäßig sich ein und zieht sich mit aller Gelassenheit die Bergvögel aus ihren Nestern hervor. Die Eidergänse fängt er wie oben beschrieben, die jungen Seehunde nimmt er dicht neben ihren Müttern weg, die Fische verfolgt er bis in die Tiefe des Wassers. Zuweilen mißglücken solche Versuche. Kittlitz hörte von den Bewohnern Kamtschatka's erzählen, daß der Seeadler manchmal von Delfinen, auf welche er gestoßen, in die Wassertiefe hinabgezogen und ertränkt werde, und Lenz erzählt folgendes: »Ein Seeadler schwebte Beute suchend über der Havel und entdeckte einen Stör; auf welchen er sogleich herabschoß; allein der kühne Adler hatte seiner Kraft zu viel zugetraut: der Stör war ihm zu schwer, und es war ihm unmöglich, denselben aus dem Wasser emporzuheben; jedoch war auch der Fisch nicht stark genug, den Adler in die Tiefe hinabzuziehen. Er schoß wie ein Pfeil an der Oberfläche des Wassers dahin; auf ihm saß der Adler mit ausgebreiteten Flügeln, so daß beide wie ein Schiff mit Segeln anzusehen waren. Einige Leute bemerkten dies seltene Schauspiel, bestiegen einen Nachen und fingen sowohl den Stör als den Adler, welcher sich so fest in den Fisch eingekrallt hatte, daß er seine Klauen nicht befreien konnte.« Derartige Fälle mögen wohl noch öfters vorkommen, als man annimmt. In den Steppen Südrußlands muß sich der Seeadler oft mit erbärmlichem Wilde begnügen. Hier bilden, laut Nordmann, wenn er seine Jagd fern von den Flüssen betreibt, kleine Steppensäugethiere und Vögel die hauptsächlichste Beute. Auf den Werstpfählen oder den zur Bezeichnung der Wege errichteten Erdhügeln, im Winter oft in unmittelbarer Nähe menschlicher Wohnungen, sitzend, lauert er auf Zisel und Eidechsen, und ebenso weiß er sich des unterirdisch wühlenden Blindmolls zu bemächtigen, indem er diesen mit größter Gewandtheit in dem Augenblick ergreift, in welchem derselbe seine Haufen aufstößt. In den Magen von mehr als einem Dutzend Seeadlern, welche Nordmann in den Steppen erlegt und untersucht hat, fanden sich niemals die Ueberreste von Fischen, sondern unabänderlich solche von Säugethieren, Vögeln und, obschon seltener, auch Eidechsen. Als Aasfresser steht der Seeadler den Geiern kaum nach. Selbst an der Küste nährt er sich nicht zum geringsten Theile von todten, an das Ufer gespülten Fischen; im Binnenlande verfehlt er nie, an einem gefundenen Aase sich einzustellen. In einem Walde in der Nähe der Stadt Jalutaroffsk am Tobol traf ich nicht weniger als acht Seeadler an, welche sich von dem Aase mehrerer Pferde kröpften und wahrscheinlich schon seit Wochen hier ihren Standort genommen hatten. Um diese Zeit war der Tobol freilich noch mit Eis bedeckt und an Fischen Mangel. Die Fertigkeit, mit welcher er auch verdeckt liegendes Aas aufzufinden weiß, ist staunenerregend; Meyerinck glaubt sich deshalb auch berechtigt, ihm besonders scharfe Witterung zuzusprechen. »Wenn man«, schreibt er mir, »in einer Dickung ein todtes Pferd auslegt, um Sauen und Füchse damit anzukirren, das Luder aber mit Erde und Reisigholz bedeckt, damit es nicht so schnell verzehrt werde, muß man doch bald bemerken, daß die Adler die Beute erspäht haben und das Pferd annehmen, trotzdem sie es aus der Luft nicht sehen konnten.« Ich glaube nicht, daß die Folgerung richtig ist, meine vielmehr, daß auch der Seeadler ebenso wie die Geier durch das um ein Aas sich sammelnde Gewimmel der Raben auf den verborgenen Fraß aufmerksam gemacht wird. Ungeachtet aller Uebergriffe und Verirrungen, welche der stattliche Raubvogel sich zu Schulden kommen läßt, sind und bleiben Fische seine Hauptnahrung; sie bilden daher das Wild, welchem er in erster Reihe nachstellt. An der Seeküste sowohl wie an Süßgewässern verweilt und horstet er nur der Fische halber. Niemals verfehlt er in der Nähe von Fischereistellen, welche liederlich bewirtschaftet werden, sich einzufinden, wird hier auch, wenn er keine Nachstellung erfährt, zuletzt so dreist, daß er wenige Schritte von den Fischerhütten entfernt aufbäumt und lungernd späht, ob etwas für ihn abfalle.

In ihren Begabungen stehen alle Seeadler hinter den Edeladlern zurück. Sie bewegen sich auf dem Boden vielleicht geschickter als diese und beherrschen, wie bemerkt, in gewissem Grade das [658] Wasser; ihr Flug aber ermangelt der Gewandtheit und Zierlichkeit, welche den aller Edeladler in so hohem Grade auszeichnet. Ihr Flugbild ist ein von dem letztgenannter Adler verschiedenes: der kurze Hals und der kurze, stark zugerundete Schwanz im Verhältnisse zu den sehr langen aber wenig und fast gleichmäßig breiten Schwingen sind so bezeichnend, daß man sie kaum mit ihren edleren Verwandten verwechseln kann. Auch fliegen sie mit viel schwerfälligeren Schwingenschlägen und weit langsamer als diese, obwohl noch immer sehr rasch, auch wenn sie ohne Flügelschlag gleitend oder kreisend dahinschweben. Dagegen übertreffen sie die Edeladler in einer Fertigkeit, welche nur wenigen Raubvögeln eigen ist, in der Gewandtheit nämlich, mit welcher sie das Wasser beherrschen. Auch der Seeadler ist ein Stoßtaucher wie der Fischadler und der Fischgeier und wetteifert in dieser Beziehung mit jeder Möve oder Seeschwalbe. Nach einer dem schwedischen Naturforscher Nilsson gewordenen Mittheilung eines trefflichen Beobachters legt er sich zuweilen, um auszuruhen, geradezu auf die Meeresfläche, als ob er ein Schwimmvogel wäre, bleibt, so lange es ihm gefällt, auf den Wellen liegen, richtet, wenn er auffliegen will, die Schwingen fast senkrecht empor und erhebt sich mit einem einzigen Flügelschlage vom Wasser. Die Sinne stehen mit denen der Edeladler ungefähr auf gleicher Höhe. In geistiger Hinsicht unterscheiden sie sich zu ihrem Nachtheile. Das adlige Wesen, welches wir dem Steinadler zusprechen, fehlt ihnen: sie sind nicht blos muthig, sondern auch grausam. Ich habe gesehen, daß zwei Bussarde, welche ich zu dem Steinadler in den Käfig brachte, auf diesem sich niederließen und von ihm geduldet wurden, sowie der Löwe ein Hündchen duldet: dieselben Bussarde waren, als ich sie in den Käfig der Seeadler brachte, nach wenigen Minuten bereits erdrosselt. Dehne erfuhr etwas ganz ähnliches: sein zahmer Seeadler erwürgte sofort den verwandten Flußadler, welchen man zu ihm gesperrt hatte. Gefangene der Thiergärten liegen mit den Geiern im beständigen Streite, und wenn diese sich nicht ihrer Haut zu wehren wüßten, würden selbst sie wahrscheinlich von jener Krallen zu leiden haben.

Im März schreitet der Seeadler zur Fortpflanzung. Es ist wahrscheinlich, daß auch er mit seinem Weibchen in treuer Ehe auf Lebenszeit lebt, demungeachtet hat er mit jedem vorüberziehenden Männchen schwere Kämpfe zu bestehen, und ein ungünstiger Ausgang desselben kann ihm möglicherweise die Gattin kosten. »Zwei männliche Seeadler«, erzählt Graf Wodzicki, »welche ich längere Zeit beobachten konnte, kämpften fortwährend mit einander. Sie stießen mit Schnabel und Krallen gegen einander, geriethen dabei öfters bis auf den Boden herunter und setzten hier ihren Kampf fort, nach Art der Hähne, nur mit dem Unterschiede, daß sie keinen Anlauf nahmen. Jeder Kampf hinterließ viele Federn, auch wohl Blut auf dem Boden. Das Weibchen, welches entweder um die Kämpfer kreiste oder sich in deren Nähe niedergelassen hatte, liebkoste den Sieger jedesmal, so oft er zu ihm kam, und dabei konnte man die merkwürdige Beobachtung machen, daß beide Männchen von dem Weibchen gleich gut aufgenommen wurden, sobald sich eines im Kampfe ausgezeichnet hatte. Da der eine männliche Adler jünger als der andere war, konnte man die Kämpfer nicht verwechseln. Das mörderische Spiel währte etwa zwei Wochen lang, und die Adler schienen dabei so aufgeregt zu sein, daß sie während des Tages gar nicht nach Nahrung suchten. Nachts schliefen sie unweit des Gewässers auf zwei hohen Eichen, ein Paar, wie es schien, der Sieger mit dem Weibchen, auf der einen, der Besiegte auf der an dern. Nach einem vollen Monat wurde in Erfahrung gebracht, daß man einen Seeadlerhorst in den benachbarten Waldungen entdeckt hatte. Das Junge wurde einige Wochen später ausgehoben, und die Alten kamen nun auf den Frühlingsplatz zurück. Da gesellte sich wiederum ein dritter zu ihnen, und der Kampf fing von neuem an. Eines Tages rauften sich die Adler wieder in der Luft lange Zeit und stürzten hierauf zur Erde. Der eine überrumpelte den anderen, hieb denselben tüchtig mit dem Schnabel, sprang endlich auf seinen Todfeind, ergriff mit der einen Kralle den Hals desselben und stemmte sich mit der anderen auf den Bauch. In dieser Stellung überraschte sie ein Heger mit einem tüchtigen Knittel. Der besiegte Adler klammerte sich krampfhaft an den Lauf des Siegers und an dessen einen Flügel. Beide kollerten sich einigemal auf dem Boden herum und richteten sich wieder empor. Der Heger näherte sich [659] indeß bis auf wenige Schritte; die Adler aber rauften sich weiter und so konnte der Mann den einen dermaßen auf den Kopf schlagen, daß er zusammenstürzte. Der andere, obgleich ganz blutig, ließ aber den todten dennoch nicht los, sondern richtete sich empor und sah den Heger so starr an, daß dieser erschrak und ein paar Schritte zurücksprang. Erst nach einiger Zeit schien der Adler seine gefährliche Lage begriffen zu haben, ließ seinen Feind los und erhob sich langsam in die Luft. Wäre der Heger nicht so erschrocken gewesen, so hätte er unbedingt beide Adler mit dem Stocke erschlagen können. Es ist wohl mit Sicherheit anzunehmen, daß der dritte Adler den Frühling einsam verlebt und gleich dem Korsikaner seine Rache genährt hatte, welche er nunmehr auch bei der ersten Gelegenheit so grausam bethätigte.« Auch in Ungarn wurde mir erzählt, daß man die dort häufigen Seeadler nicht selten in hoher Luft kämpfen sieht. Zwei in einander verkrallte Männchen stürzten einmal, angesichts meines Gewährsmannes, des Försters Ruzsovitz in die Donau und trieben, ein wirrer Federknäuel, geraume Zeit mit dem Strome dahin.

Der Stand des Horstes richtet sich nach den Umständen. Ueberall da, wo steile Klippen unmittelbar an das Meer herantreten, sucht sich der Seeadler hier eine geeignete Niststelle; da, wo Waldungen die Küste oder die Ufer breiter Flüsse besäumen, wählt er hierzu in ihnen einen hohen Baum; da, wo an einem fischreichen Gewässer höhere Bäume fehlen, begnügt er sich oft mit erbärmlichen Büschen, welche den schweren Bau kaum zu tragen vermögen, oder sogar mit Röhricht, indem er in den hohen, dichtesten und undurchdringlichsten Beständen auf einer weiten Fläche die Rohrstengel zusammenknickt, bis sie eine genügend feste Unterlage für den kaum meterhoch über der Wasserfläche stehenden Horst bilden; in der Steppe endlich hilft er sich, so gut als er kann, an den Steppenseen wahrscheinlich ebenfalls mit Röhricht, und im Nothfalle kommt es ihm auch nicht darauf an, sein Genist auf dem Boden zu ordnen. Längs der ganzen Küste der Ostsee, wo er noch regelmäßig horstet, wählt er, laut Holtz, stets hohe Bäume, welche ihm freie Aussicht auf die angrenzenden Waldstrecken, Wiesen und Gewässer gestatten, insbesondere Kiefern, außerdem Buchen und Eichen. Der Horst selbst ist unter allen Umständen ein gewaltiger Bau von anderthalb bis zwei Meter Durchmesser und dreißig Centimeter bis ein Meter Höhe und darüber; denn auch er wird von einem Paare wiederholt benutzt und durch jährliche Aufbesserung im Verlaufe der Zeit bedeutend erhöht. Armsdicke Knüppel bilden den Unter-, dünnere Aeste den Oberbau; die sehr flache Nestmulde ist mit zarten Zweigen bedeckt und mit trockenen Gräsern, Flechten, Moosen und dergleichen ausgekleidet. Gelegentlich des wiederholt erwähnten Jagdausfluges des Kronprinzen Rudolf von Oesterreich wurden von uns neunzehn Horste besucht. Von ihnen standen sechs auf Eichen, ebensoviele auf Schwarz-, fünf auf Silberpappeln und zwei auf Buchen, die meisten in Beständen der Donauinseln, einige in den herrlichen Waldungen der Fruschkagora, in der Luftlinie vier bis fünf Kilometer vom Strome entfernt. Zwei von allen waren in den höchsten Wipfel zweigen, drei auf Nebenästen, alle übrigen auf Gabelästen nahe am Hauptstamme angelegt. Zu sechs Horsten waren starke Knüppel, zu sämmtlichen anderen Zweige von kaum mehr als Daumenstärke verwendet worden. Obwohl einzelne seit sechzehn Jahren regelmäßig benutzt wurden, fanden sich auffallend große Horste doch in der Minderzahl; die Mehrzahl war fast unverhältnismäßig klein. Die größten Horste hatten die ältesten Adler inne. Mit Ausnahme von zwei Horsten waren alle von Feldsperlingen zahlreich bevölkert.

Gegen Ende des März, selten früher, meist noch etwas später, findet man das vollständige Gelege, welches aus zwei, höchstens drei, verhältnismäßig kleinen, nur siebenundsechzig bis dreiundsiebenzig Millimeter langen, dreiundfunfzig bis siebenundfunfzig Millimeter dicken, vielfach abändernden Eiern besteht. Die Schale ist dick, rauh und großkörnig, die Färbung verschieden; es gibt kalkweiße Eier ohne alle Flecke und solche, welche auf ähnlichem Grunde mehr oder weniger mit röthlichen, braunen und dunkelbraunen Flecken bedeckt sind. Wie lange die Brutzeit währt, ist zur Zeit noch nicht mit Sicherheit bestimmt; wohl aber weiß ich, daß der männliche Adler dem Weibchen beim Brüten hilft, zur Ruhe stets in einer gewissen Entfernung vom Horste auf einem [660] bestimmten, weite Umschau gestattenden Felsen oder dürren Zacken bäumt, und bei dem geringsten Anscheine von Gefahr sofort herbeieilt, um die Gattin zu unterstützen. Ein Vorfall, welchen ich beobachtete, läßt mich glauben, daß er der letzteren auch thätliche Hülfe leistet oder doch zu leisten sucht. Ich hatte in der Fruschkagora einen weiblichen Seeadler schwer angeschossen und gab dem mich begleitenden Jäger des Kronprinzen Rudolf den Auftrag, in der Tiefe des Thales, zu welcher er hinabgeflattert war, nach ihm zu suchen. Da vernehme ich ein gewaltiges Brausen über, neben und unter mir, als ob eine rasende Windsbraut im Anzuge sei, sehe einen mächtigen Vogel an meiner Hütte vorbeisausen und erfahre später von dem Jäger, daß ein Seeadler auf ihn gestoßen und sich ihm mit weit vorgestreckten Fängen bis auf halbe Flintenschußweite genähert, er aber für das Beste erachtet habe, hinter einem Baumstamme Schutz gegen den Raubvogel zu suchen. Da sich nur ein Seeadlerpaar in der Nähe befand, dürfte der Schluß gestattet sein, daß es das Männchen gewesen war, welches an dem Menschen, dessen Tücke sein Weibchen zum Opfer gefallen, Rache zu nehmen versuchte. Am Horste selbst sind ähnliche Angriffe meines Wissens nicht beobachtet worden; der Seeadler zeigt sich hier im Gegentheile stets vorsichtig, scheu und ängstlich. Das brütende Weibchen sitzt nicht besonders fest auf den Eiern, verläßt diese meist nach dem ersten Anklopfen, kehrt nicht immer bald zurück und kreist gewöhnlich erst lange über dem Nistbaume, bevor es wieder zu Horste geht. Für die ausgeschlüpften Jungen schleppen beide Eltern, nach anderer Adler Art, Nahrung in Hülle und Fülle herbei, zeigen sich um so dreister, je mehr die Sprößlinge heranwachsen und wandeln den Horst nach und nach zu einer wahren Schlachtbank um, auf welcher man die Reste der allerverschiedensten Thiere, namentlich aber von Fischen und Wassergeflügel, findet. Sobald sie Beute erhoben haben, eilen sie schnurstracks dem Horste zu und durchfliegen dabei, wie vom Grafen Bombelles, einem Mitgliede unserer Jagdgesellschaft in Ungarn, festgestellt wurde, Strecken von vier bis fünf Kilometer so rasch, daß sie mit noch zappelnden Fischen bei ihren hungernden Kindern anlangen. Wenn sie mit Beute beladen sind, vergessen sie auch alle sonst üblichen Vorsichtsmaßregeln, kreisen nicht über dem Horste, sondern stürzen sich wie ein fallender Stein so schnell in schiefer Richtung in denselben, daß selbst ein fertiger Jäger nicht zu Schusse gelangt. Fällt, was nicht allzuselten geschieht, ein Junges aus dem Horste, ohne dem Sturze zu erliegen, so atzen sie es unten weiter, als ob es noch im Horste säße. Wird das Weibchen getödtet, so füttert das Männchen allein die Jungen auf. Unter günstigen Umständen brauchen letztere zehn bis vierzehn Wochen, bevor sie den Horst verlassen, kehren aber nach dem Ausfliegen noch oft zu ihm zurück. Erst gegen den Herbst hin trennen sie sich von ihren Eltern.

Raubt man einem Seeadlerpaare das erste Gelege, so entschließt es sich zuweilen, jedoch nicht immer, zu einer zweiten Brut. Das Weibchen legt dann aber selten mehr als ein Ei, gewöhnlich in demselben Horst. An letzterem hängt das Paar überhaupt mit der den Adlern insgemein eigenen Zähigkeit fest. Selbst nach wiederholten Störungen verläßt es die Gegend nicht, und wenn der Winter einigermaßen günstig ist, verweilt es auch in der kalten Jahreszeit in der Nähe des Horstes, welcher so recht eigentlich zum Mittelpunkte seines Gebietes wird.

Der Seeadler erweist sich nur aus dem Grunde minder schädlich als der Steinadler, als er einen großen Theil seiner Nahrung aus der See erhebt. In Ungarn wissen die Jäger von seiner Schädlichkeit nicht viel zu berichten. Man gönnt ihm die Fische, welche er aus der reichen Donau und ihren Altwässern erhebt, und rechnet ihm Uebergriffe nicht eben hoch an. Nicht anders ist es in Rußland und Sibirien. Ueberall aber, wo er in der Nähe der Ortschaften horstet und die Felder ringsum, zuweilen sogar die Gehöfte selbst, auf seinen Raubzügen heimsucht, steht er dem Steinadler nicht nur nicht nach, sondern übertrifft ihn womöglich noch hinsichtlich seiner Eingriffe in menschliches Besitzthum. Von unserem Hausgeflügel ist höchstens die fluggewandte Taube vor ihm gesichert; unter kleineren oder jungen Haussäugethieren erwählt er sich gar nicht selten ein Opfer; in der Wildbahn endlich richtet er erheblichen Schaden an. Kein Wunder daher, daß jedermanns Hand über ihm ist. Doch weiß er die meisten Nachstellungen geschickt zu vereiteln.[661] Er ist immer scheu, läßt sich weder unterlaufen, noch leicht beschleichen, erhebt sich, gleichviel ob er gebäumt hat oder auf dem Boden sitzt, schon in mehr als Büchsenschußweite, und wird, wenn er mehrfach Nachstellungen erfahren hat, so vorsichtig, daß ihm in der That kaum beizukommen ist. Am leichtesten erlegt man ihn vor der Krähenhütte, da auch er den Haß der übrigen Tagraubvögel gegen den Uhu bethätigt, und ebenso, wenn man sich das Warten nicht verdrießen läßt, mit Sicherheit vor der Luderhütte. Leichter als mit dem Gewehre erbeutet man ihn in Fanganstalten der verschiedensten Art, ohne sonderlichen Zeitverlust namentlich in Tellereisen, welche man rings um ein frei ausgelegtes, weithin sichtbares Aas aufstellt. In den für Füchse geköderten Schwanenhalsen fangen sich alljährlich einige, deren scharfem Auge der schmale Abzugsbissen doch nicht entging. Ausnahmsweise bringt ihn seine Raubgier noch in anderweitige Gefahren: so wurde am achtundzwanzigsten December 1853 in der Forchheimer Gegend ein junger Seeadler, welcher sich längere Zeit hindurch in der Nähe umhergetrieben hatte, im Hofe eines Bauernhauses lebendig gefangen und erschlagen. In Norwegen führt man aus Steinen kleine Hütten auf, legt in einiger Entfernung von denselben ein Fleischstück auf den Boden und befestigt dasselbe an einem langen Stricke, dessen anderes Ende der in der Hütte sitzende Fänger in der Hand hält. Sobald der Raubvogel auf die Beute niederstürzt, zieht jener das Fleischstück zu der Hütte heran, der Vogel will das einmal gefaßte nicht loslassen und wird schließlich von dem Manne entweder ergriffen oder erschlagen. Daß ersteres mit einiger Vorsicht zu geschehen hat, ist selbstverständlich; denn ein Seeadler ist sich seiner Kraft wohl bewußt und weiß sich im Nothfalle seiner Fänge in gefährlicher Weise zu bedienen. Er weicht dem Menschen aus, so lange als möglich, vertheidigt sich aber, wenn er gepackt wird, mit mehr und mehr sich steigernder Wuth und ist dann gewiß ebenso gefährlich wie die »Bangen und Grausen einflößende« Harpyie. Der getödtete Seeadler findet bei uns zu Lande höchstens durch den Ausstopfer Verwendung, wird aber in Süditalien, wenigstens auf Sicilien, noch anderweitig benutzt, nämlich – gegessen.

Im Käfige benimmt sich der Seeadler anfänglich ungestüm, geht selbst seinem Wärter zu Leibe, wird aber bald zahm und tritt dann mit dem Menschen in ein wahres Freundschaftsverhältnis. Den Vorstehern aller Thiergärten sind Seeadler aus diesem Grunde lieb und werth. Sie begrüßen ihren Gebieter, so oft sie ihn sehen, mit hellem, frohem Geschrei und erfreuen ihn besonders dadurch, daß sie ihn genau von allen übrigen Menschen zu unterscheiden wissen. Mit der Zeit gewöhnen sie sich so an die Gefangenschaft, daß sie die glücklich wieder erlangte Freiheit kaum mehr zu schätzen wissen. Ein von mir gepflegter Seeadler trieb sich tagelang in der Umgegend umher, kehrte täglich, wahrscheinlich wohl angelockt durch den Ruf seiner Genossen, zurück und wurde schließlich auf deren Gebauer wieder gefangen. Bei einigermaßen ausreichender Pflege halten sie sich in Gefangenschaft ebenso lange wie irgend eine andere Art ihrer Verwandtschaft. Fälle, daß Seeadler bis vierzig Jahre im Käfige gelebt haben, sind mehrfach vermerkt worden. Bei denen, welche so lange in Gefangenschaft waren, beobachtete man, daß sie erst nach dem zehnten oder zwölften Jahre ihr Alterskleid erhielten oder, was auch vorgekommen, Eier legten. Ein Weibchen, welches Panier gefangen hielt, legte alljährlich ein Ei und vertheidigte es mit seinen gewaltigen Waffen gegen jedermann, Beweis genug, daß in einem großen Flugkäfige eingebauerte, vor jeder Störung bewahrte Seeadler in der Gefangenschaft offenbar auch zur Fortpflanzung schreiten würden.

Quelle:
Brehms Thierleben. Allgemeine Kunde des Thierreichs, Vierter Band, Zweite Abtheilung: Vögel, Erster Band: Papageien, Leichtschnäbler, Schwirrvögel, Spechte und Raubvögel. Leipzig: Verlag des Bibliographischen Instituts, 1882., S. 654-662.
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