Prinzenadler (Aquila Adalberti)

[621] Dieser, der Prinzenadler, wie wir ihn nennen dürfen, da er seinen Namen zu Ehren des Prinzen Adalbert von Bayern trägt (Aquila Adalberti und leucolena), erst im Jahre 1860 von meinem Bruder Reinhold in Spanien entdeckt, unterscheidet sich vom Kaiseradler, mit welchem er am meisten übereinstimmt, im Alter durch die weite Ausdehnung der weißen Färbung in der Schultergegend, welche sich von hier aus als ziemlich breites Band längs des Randes des Ober- und Unterarmes, einschließlich des Flügelbuges, erstreckt, sowie das im ganzen dunklere Gesammtgefieder, in der Jugend dagegen durch das minder deutlich gestreifte Gefieder der Untertheile.

Das Verbreitungsgebiet des Kaiseradlers ist sehr ausgedehnt, denn es reicht von Ungarn bis nach China. In Deutschland gehört der Vogel nach den bisherigen Beobachtungen zu den größten Seltenheiten, durchstreift jedoch das Land vielleicht öfter, als wir annehmen. Lühder [621] glaubt, ihn als Brutvogel gefunden zu haben; seine Beobachtung ist jedoch so unsicher begründet, daß man jedenfalls wohl thun dürfte, auf diese Angabe kein Gewicht zu legen. So weit unsere bisherigen Erfahrungen reichen, horstet der Kaiseradler erst in Ungarn, Galizien, Siebenbürgen, Rußland, den Donautiefländern und der Balkanhalbinsel, einschließlich der zu ihr gehörigen Eilande, ebenso in dem ganzen Steppengebiete Mittelasiens vom Ural an bis an das Chinesische Meer, endlich in Transkaukasien und Kleinasien.


Kaiseradler (Aquila Mogilnik). 1/6 natürl. Größe.
Kaiseradler (Aquila Mogilnik). 1/6 natürl. Größe.

Einzelne Pärchen haben auch in Niederösterreich gebrütet, und ebenso mag es geschehen, daß er auch in Asien dann und wann das Steppengebiet überschreitet; solche Vorkommnisse jedoch gehören zu den Ausnahmen. Man bezeichnet unseren Adler am richtigsten als Steppenvogel, obwohl er auch Waldungen der Ebenen und Mittelgebirge keineswegs meidet. In Asien wie in Europa verläßt er sein Wohngebiet mit der Regelmäßigkeit anderer Zugvögel, wenn der Winter in ihm einzieht und erscheint erst wieder, wenn das Land schneefrei geworden ist, selten wohl vor den letzten Tagen des März. Für den Süden Europas gilt diese Angabe nicht: Krüper fand bereits in den ersten Tagen des April seine Eier im Horste. Im Gegensatze zu anderen Adlern, welche regelmäßig ziehen, wandert er nicht weiter, als er unbedingt muß. Nach Alléon soll er bereits in der Umgegend von Konstantinopel Standvogel [622] sein; nach meinen Beobachtungen besucht er allwinterlich Egypten und ist vom Oktober bis zum März hier eine durchaus regelmäßige, stellenweise sogar häufige Erscheinung. Vornehmlich sind es die großen Seen des Delta, welche ihn fesseln; einzeln wandert er auch weiter im Nilthale hinauf, macht sich am Mörissee seßhaft und wird auch wohl noch bis zur ersten Stromschnelle, äußerst selten aber im südlichen Nubien, in Habesch oder Kordofân beobachtet. Ebenso besucht er von Mittelasien aus Persien, Beludschistan, Südchina und Indien, dürfte also im Winter auch in Anam und Siam nicht fehlen. Nach Jerdon brütet er noch im Dekan, wobei freilich zu bemerken, daß der in Rede stehende Vogel auch wohl der Steppenadler sein kann.

Der Prinzenadler vertritt ihn auf der Iberischen Halbinsel, und er dürfte es sein, welcher auch in den Atlasländern und weiter südlich an der Westküste von Afrika gefunden wird.

Das Gebiet, welches der Kaiseradler während der Brutzeit bewohnt, kann viel mannigfaltiger sein als das, welches einem Steinadler behagt. In der Steppe wird sein Aufenthalt nach meinen Erfahrungen wesentlich bedingt durch das Auftreten des Zisels; wenigstens fand ich auf unserer letzten Reise nach Sibirien den stolzen Vogel immer nur da in größerer Anzahl, wo auch Zisel häufig waren. Mehr oder weniger dasselbe gilt für Ungarn und die Donautiefländer überhaupt. Gelegentlich des bereits erwähnten Jagdausfluges des Kronprinzen Rudolf von Oesterreich nach Ungarn trafen wir den Kaiseradler erst in Syrmien und Slavonien als Brutvogel an, und auch hier zählt der Zisel zu den gemeinen Thieren. Unser Adler war hier entschiedener Waldvogel, horstete aber häufiger in den Eichenwaldungen der Ebene als in den köstlichen Laubwäldern der Fruschkagora. Aus den bisher über seinen Aufenthalt bekannt gewordenen Beobachtungen erhellt, daß er sich in den verschiedenen Theilen seines Verbreitungsgebietes je nach den Umständen richtet und bald in einem Walde, bald auf einer Baumgruppe, sogar auf einem einzelnen Baume, endlich auch in Gebirgen auf Felsen seinen Stand nimmt. Gänzlich verschieden von dem gewöhnlichen Gebaren des Gold- oder Steinadlers ist, daß er da, wo er auf die Gleichgültigkeit der menschlichen Bewohner des Landes rechnen darf, sich vielleicht sogar beschützt sieht, in unmittelbarer Nähe der Ortschaften, sogar in diesen selbst sich horstet.

Einzelne Vogelkundige behaupten, daß der Kaiseradler an Adel, Muth und Raubfähigkeit hinter dem Stein- und Goldadler merklich zurückstehe; diese Auffassung dürfte jedoch nur theilweise richtig sein. Im Verhältnisse zu seiner geringeren Größe ist er mehr oder weniger dasselbe wie jener. Entsprechend seinem Aufenthalte neben oder in Dorfschaften zeigt er sich auch in der Fremde weniger scheu, läßt sich vom Jäger oft ohne weiteres unterlaufen und verleitet zu der falschen Auffassung, daß er geistig weniger begabt sei als der stolze Steinadler; sein Betragen aber richtet sich, wie ich meinestheils vielfach erfahren habe, immer nach den Umständen. In den gegenwärtig besiedelten, zum Krongute Altai gehörigen Steppen Südwestsibiriens, woselbst er stellenweise sehr häufig auftritt, war er allerdings so wenig scheu, daß er oft auf den Richtpfählen unmittelbar neben dem Wege sitzen blieb, wenn unser Dreigespann klingelnd vorüberfuhr; in den Dörfern ruhete er, unbesorgt um das Volksgetriebe unter ihm, auf einzelnen hohen Bäumen; da aber, wo er wenig mit den Menschen zusammenkam, zeigte er sich weit vorsichtiger, und in Ungarn, Egypten fand ich ihn hier und da sogar sehr scheu. Aehnliche Verhältnisse wie in Sibirien herrschen für ihn auch in den Donautiefländern, beispielsweise in der Dobrudscha, und daher bekundet er hier ebendieselbe, nach seinen bisher gemachten Erfahrungen auch durchaus berechtigte Vertrauensseligkeit. Hat er dagegen einmal Verfolgungen erleiden müssen, so handelt er dementsprechend. In seiner Haltung wie im Fluge habe ich zwischen ihm und seinem größeren Verwandten erhebliche Unterschiede nicht aufzufinden vermocht, und niemals bin ich durch ihn mehr an einen Schreiadler als an einen Steinadler erinnert worden. Ganz richtig ist, daß er mehr auf kleineres Wild jagt als der letztgenannte, und für wahrscheinlich halte ich, daß er in den Steppen, wo ihm der häufige Zisel so reichliche und bequeme Nahrung bietet, sich selten, vielleicht nie, an wehrhaften Thieren vergreift: vollkommen überzeugt aber bin ich, daß er, wenn der Hunger ihn bewegt, verhältnismäßig [623] ebenso muthig verfahren wird wie irgend ein anderes Mitglied seiner Familie. Ihn, weil er am Horste den Menschen nicht immer angreift, sich gefallen läßt, daß die Krähen ihn verfolgen, er auch auf das Aas fällt, einen »unedlen Fresser« zu nennen und ihn als nicht viel mehr denn einen großen Milan hinzustellen, wie Hume es gethan, finde ich meinestheils in keiner Weise gerechtfertigt; denn dasselbe, was Hume hervorhebt, kann auch von dem Steinadler gesagt werden. Wie verschiedene Beobachtungen erweisen, jagt er auf alles seiner Größe angemessene Wild, welches er ereilen und bewältigen zu können glaubt, vom Hasen oder Steppenmurmelthiere an bis zur Maus und vom halb erwachsenen Pfau oder Trappen bis zum Sperling herab.

Der große, dem des Steinadlers im wesentlichen ähnelnde Horst des Kaiseradlers steht überall da, wo es Bäume gibt, auf solchen, gleichviel, welche Höhe sie haben mögen, in der Steppe dagegen regelmäßiger auf dem flachen Boden und im Gebirge hier und da auch wohl in der Nische oder auf dem Gesimse einer Felsenwand. In den Steppen südlich vom Ural wie in der Dobrudscha findet man den Horst oft in nächster Nähe der Ortschaften auf den sie umgebenden Bäumen, insbesondere auf Pappeln, Espen und Weiden, in Ungarn und Südrußland meist in kleinen Gehölzen, in Griechenland, Macedonien und Kleinasien ebenso in Waldungen wie im Gebirge auf Felsen. Ein Horst, welchen Hudlestone beschreibt, stand auf einem gekappten Baume nicht höher als drei Meter über dem Boden, hatte ungefähr 1,6 Meter Durchmesser, war aus verschiedenen dicken Knüppeln und Stecken zusammengetragen und zeigte eine äußerst flache, innen mit Wolle ausgekleidete Mulde; andere, welche Farman untersuchte, waren wenig mehr als ein großes flaches Bauwerk von 1,3 Meter im Durchmesser, 50 bis 70 Centimeter Höhe und darüber, bestanden aus grobem Reisig und waren innen und rings um die flache Mulde mit dünnen Zweigen, trockenem Grase, Wolle, Fetzen und dergleichen mehr oder minder sauber ausgelegt. Die fünf Horste, welche Kronprinz Rudolf von Oesterreich und Prinz Leopold von Bayern in Südungarn sahen, standen zumeist in den mittleren Wipfelzweigen von Eichen und unterschieden sich, soweit von unten aus wahrgenommen werden konnte, nicht wesentlich von denen der in Ungarn horstenden Seeadler, waren auch wie diese in ihren unteren Theilen sammt und sonders von Feldsperlingen in Besitz genommen worden und ziemlich stark bevölkert. Wahrscheinlich brütet auch jedes Kaiseradlerpaar, so lange es nicht gestört wird, alljährlich in einem und demselben Horste. Man bemerkt, daß es diesen sofort nach seiner Rückkehr im Frühjahre bezieht und gegen alle Vögel, welche sich desselben bemächtigen wollen oder nur in die Nähe kommen, muthvoll vertheidigt. Während der ganzen Brutzeit befindet sich, laut Farman, der männliche Kaiseradler beständig auf der Wacht, entweder anmuthige Kreise über dem Horste beschreibend, oder in dessen Nähe auf einem benachbarten Baume sitzend, fliegt beim geringsten Anscheine von Gefahr ab und warnt das Weibchen durch einen rauhen krächzenden Laut, auf welchen hin dieses den Horst verläßt und mit seinem Gatten zu kreisen beginnt. Naht sich ein anderer Kaiseradler oder Raubvogel überhaupt, so tritt ihm das Männchen augenblicklich entgegen und kämpft mit ihm auf Tod und Leben. Farmans Aufmerksamkeit wurde einmal durch das laute Krächzen und heisere Schreien auf zwei dieser Art gelenkt, welche eben einen ihrer ernsten Zweikämpfe in einer Höhe von etwa hundert Meter über dem Grunde ausfochten. Mindestens zwanzig Minuten währte das Kampfspiel. Es begann damit, daß beide Kämpen in einer gewissen Entfernung um einander kreisten; hierauf ging bald der eine, bald der andere zum Angriffe über, indem er mit aller Kraft auf den Gegner herabstieß. Dieser wich in der gewandtesten Weise dem Stoße aus und wurde nun seinerseits zum Angreifer. So währte der Kampf geraume Zeit fort. Beide trennten sich hierauf bis zu einer gewissen Entfernung; einer kehrte plötzlich zurück und stieß wiederum in vollster Wuth auf den verhaßten Feind, welcher jetzt unter lautem Geschrei auch seinerseits die Waffen gebrauchte. Schnabel, Fänge und Schwingen waren in gleicher Weise in Thätigkeit, und beide Adler bewegten sich so rasch und heftig, daß der Beobachter nichts weiter als eine durch die Luft rollende, verwirrte, jeder Beschreibung spottende Federmasse zu sehen vermochte. Zuletzt schlugen beide ihre Fänge gegenseitig so fest ineinander, daß sie die Flügel nicht mehr [624] gebrauchen konnten und taumelnd um dreißig oder vierzig Meter tief herabstürzten, worauf sie die Waffen lösten und wiederum für kurze Zeit sich trennten. Damit hatte der erste Gang sein Ende erreicht. Der zweite begann in ähnlicher Weise wie jener, indem dann und wann einer der Vögel einen Scheinangriff auf den anderen versuchte. Bald aber änderten sie die Kampfweise, und jeder bestrebte sich, indem beide in engen Ringen um einander kreisten, den Gegner zu übersteigen, bis dies dem einen wirklich gelungen war, und er nun mit voller Wucht sich herabstürzen konnte. Der angegriffene warf sich augenblicklich auf den Rücken und empfing seinen Feind mit ausgestreckten Fängen. Beide verkrallten sich wiederum ineinander, taumelten über hundert Meter tief herab und trennten sich, nahe über dem Boden angekommen, von neuem. So wüthete der Kampf weiter, bis es endlich dem einen glückte, seinen tapferen Gegner nach einem mächtigen Stoße in einer Höhe von etwa hundert Meter über dem Boden zu packen. Dieser empfing seinen Feind mannhaft, schlug ihm seine Fänge ebenfalls in den Leib, und nunmehr stürzten beide in schwerem Falle, kaum zehn Meter von dem Beobachter entfernt, wirklich zum Boden herab. Farman sprang, dies gewahrend, vom Pferde, in der Absicht, die edlen Kämpen zu fangen; diese aber ließen, als jener bereits die Hand nach ihnen streckte, von einander ab und entflohen nach verschiedenen Seiten hin. Blutlachen auf dem Boden bewiesen zur Genüge, wie ernsthaft gekämpft worden war.

In den ersten Tagen des April, meist am siebenten oder achten, in Rußland und Sibirien um einen Monat später, pflegt das aus zwei, höchstens drei Eiern bestehende Gelege vollzählig zu sein. Die in Größe, Form und Färbung merklich abändernden Eier sind regelmäßig kleiner als die des Steinadlers, siebzig bis zweiundachtzig Millimeter lang, vierundfunfzig bis sechzig Millimeter dick und auf weißem Grunde mit ziemlich dicht stehenden, über das ganze Ei zerstreuten, violettgrünen, blaß purpurrothen oder blaß lichtbraunen Punkten und Flecken gezeichnet, auch wohl fleckenlos. Dem Weibchen fällt, wie üblich, der Haupttheil am Brutgeschäfte zu; doch betheiligt sich auch das Männchen hieran, um der Gattin Gelegenheit zu geben, nach eigener Wahl sich Raub zu holen. Zuweilen verlassen beide Eltern den Horst, obwohl er noch Eier enthält, gleichzeitig auf längere Zeit. Zurückkehrend nahen sie sich dem Horste stets mit Vorsicht, kreisen nicht erst über ihm, sondern fliegen rasch herbei und werfen sich ohne Aufenthalt rasch in das Nest. Scheucht man sie auf, so fliegen sie einem nicht allzuweit entfernten Baume zu, auf welchem der nicht brütende Gatte des Paares zu ruhen pflegt, verharren hier geraume Zeit und wenden sich dem Horste wieder zu, wenn sie glauben, daß die Störung vorübergegangen ist. Die Jungen, welche nach etwa monatlicher Brutzeit, in Ungarn in den ersten Tagen des Mai, dem Eie entschlüpfen, tragen wie die Verwandten ein dichtes, weißes Dunenkleid, werden von beiden Eltern in der beim Steinadler beschriebenen Weise aufgeatzt und sind etwa um die Mitte des Juli, im Norden des Verbreitungsgebietes verhältnismäßig später flugfähig.

Entsprechend seiner weit geringeren Scheu ist der Kaiseradler in der Regel weit leichter zu erlegen als der Stein- oder Goldadler. Sehr alte erfahrene Vögel pflegen jedoch immer vorsichtig zu sein und verursachen dem Jäger oft nicht geringere Schwierigkeiten als irgend ein anderer ihrer Verwandten. Sie verlangen wie alle Adler einen außerordentlich starken Schuß; denn nur ein solcher verletzt sie tödtlich, bethätigen auch eine Lebenszähigkeit, welche geradezu in Erstaunen setzt. Ein Kaiseradler, welchen mein verstorbener Freund Herklotz pflegte, war durch einen Jagdliebhaber mittels eines Schrotschusses erlegt worden und gelangte als vermeintliche Leiche in den Besitz eines Arztes, um ausgestopft zu werden. Länger als zwei Tage lag der durch den Kopf geschossene Vogel unter einem Kasten und erst, als hier ein Geräusch hörbar wurde, lenkte sich die Aufmerksamkeit des Arztes ihm wieder zu. Man bemerkte nun, daß der todt geglaubte sich aufgerafft hatte und die unzweideutigsten Beweise seiner Lust äußerte, noch länger im irdischen Jammerthale zu verweilen. Der thierfreundliche Arzt erbarmte sich als Gerechter seines Viehes, und der Vogel blieb leben. Infolge der Kopfverletzung war er auf beiden Augen erblindet und vollkommen gleichgültig gegen äußere Einflüsse, bewegte sich aus eigenem Antriebe nicht, nahm[625] durchaus kein Futter zu sich, glich mit einem Worte in seinem ganzen Wesen auf ein Haar solchen Vögeln, denen auf künstliche Weise das Gehirn genommen wurde. Regungslos saß er auf einem Baumstocke, und weder Sonne, Licht, Regen noch Sturm schienen irgend welche Wirkung auf ihn zu äußern. Willenlos nur trat er mit den Füßen auf einen anderen Platz, wenn er durch äußere Gewalt hierzu gezwungen wurde. Um zu beobachten, wie lange der so schwer verwundete Vogel am Leben bleiben würde, gab sich mein Freund die Mühe, ihn mit Fleischstückchen zu stopfen. Ueber ein volles Jahr lang lebte der Vogel in dieser Weise fort; nach Ablauf angegebener Frist aber bemerkte Herklotz, daß er doch einigermaßen an fing, auf die Umgebung zu achten. Anscheinend begann der Sinn des Gehörs zuerst wieder sich zu entwickeln; denn er bemerkte an dem Geräusche der Schritte die Ankunft seines Pflegers und fing an, aus eigenem Antriebe sich zu bewegen, wenn jener sich nahete, spreizte die Flügel und schüttelte die Federn, kurz geberdete sich wie ein aus tiefem Schlafe erwachter. Nach und nach wurden seine Bewegungen freier und kräftiger; aber noch immer mußte er künstlich ernährt werden. Da endlich, nach Ablauf von vier Jahren, begann er selbst wieder zu fressen, und nunmehr ließ er auch zu nicht geringer Ueberraschung seines treuen Pflegers das diesem wohlbekannte »Kau, kau«, die gewöhnliche Stimme unseres Adlers, vernehmen. Nach Ablauf von sechs weiteren Monaten glich er bis auf die erblindeten Augen vollkommen einem anderen seines Geschlechtes.

Jung dem Neste entnommene Kaiseradler werden ebenso zahm, lassen sich auch abtragen, leisten jedoch, wie Kirgisen und Mongolen einstimmig versichern, bei weitem nicht dieselben Dienste wie die Steinadler. »In meinen Knabenjahren«, schreibt mir Graf Lázár, »hielt ich einen Kaiseradler längere Zeit lebend. Im Anfange vergriff er sich zuweilen an unseren Hühnern; nachdem er aber deshalb einige Gertenhiebe erhalten hatte, hütete er sich wohl, seine Streiche zu wiederholen. Er lief zuletzt frei im Hofe und Garten umher, ohne eines unserer Hausthiere zu gefährden. Mich kannte er sehr gut, kam mindestens sogleich, wenn ich ihn bei seinem Namen Pluto rief, zu mir heran. Fremde und Hunde dagegen mochte er nicht leiden; erstere griff er an, wenn sie sich ihm näherten, und die Hunde suchte er sich stets vom Leibe zu halten. Seine Angriffe auf Menschen waren nicht gefährlich, aber doch sehr fühlbar. Er gebrauchte nämlich seine Krallen nur in der unschädlichsten Weise, theilte dafür aber Flügelhiebe aus, welche stets blaue Flecke hervorriefen. Sein Ende fand er auf betrübende Weise. Er war in den Garten eines Bauers geflogen und mochte dort irgend einen Streich ausgeführt haben, wofür der Bauer ihn derb gezüchtigt hatte. Traurig kam er nach Hause, nahm von Stunde an keine Nahrung mehr an und verendete am zehnten Tage. Bei der Zergliederung zeigte sich keine leibliche Beschädigung, welche den Tod hätte herbeiführen können, und so erscheint mir die Annahme gerechtfertigt, daß er aus Kummer über die erlittene Mißhandlung gestorben sei.«

Quelle:
Brehms Thierleben. Allgemeine Kunde des Thierreichs, Vierter Band, Zweite Abtheilung: Vögel, Erster Band: Papageien, Leichtschnäbler, Schwirrvögel, Spechte und Raubvögel. Leipzig: Verlag des Bibliographischen Instituts, 1882., S. 621-626.
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