Adler (Aquilinae)

[607] Die Adler (Aquilinae) sind große oder sehr große Vögel von gedrungenem Leibesbau mit mittelgroßem, durchaus befiedertem Kopfe und starkem, an der Wurzel geradem, erst gegen die Spitze hin gekrümmtem Schnabel, dessen Oberkiefer keinem Zahn besitzt, dafür aber an der betreffenden Stelle ausgebuchtet ist, und dessen Wachshaut nicht vom Gefieder verdeckt wird. Die Fußwurzeln sind mittellang, stets kraftvoll, oft nur wenig, oft wiederum bis zu den Zehen herab befiedert, diese selbst stark, von mittelmäßiger oder bedeutender Länge und immer mit großen, sehr gekrümmten, spitzigen Nägeln bewehrt. Die Flügel, welche bei einigen das Ende des Schwanzes, bei anderen nur dessen Wurzeltheil erreichen, erscheinen stets abgerundet, weil die vierten oder fünften Schwingen fast ohne Ausnahme die längsten sind. Der Schwanz ist groß, lang und breit, entweder gerade abgeschnitten oder zugerundet. Das Gefieder besteht aus großen, gewöhnlich zugespitzten Federn, ist immer reich, zuweilen sehr weich, ausnahmsweise derb und hart. Bezeichnend für den Adler ist, daß die Federn des Hinterkopfes und Nackens sich entweder zuspitzen oder zu einer Holle verlängern. Das große feurige Auge erhält einen sehr kühnen Ausdruck dadurch, daß das Augenbrauenbein weit hervortritt.

Die Adler bewohnen die ganze Erde; gewisse Theile derselben beherbergen jedoch eigene Sippen der Unterfamilie, welche in anderen Gegenden nicht gefunden werden. Die Verschiedenheit der Gestalt läßt erwarten, daß nicht alle Arten dieselben Wohnorte wählen. Auch die Mehrzahl der Adler lebt und jagt im Walde; einzelne Arten aber sind Gebirgs- und bezüglich Felsenbewohner, andere an das Wasser, entweder an die Küste des Meeres oder an Seen und Flüsse gebunden; einige finden selbst in freien Steppen ihre Heimat. In der Nähe des Menschen siedeln sich Adler selten an: ihr eigentlicher Wohnsitz muß möglichst unbehelligt sein. Von ihm aus unternehmen sie weite Ausflüge, und gelegentlich dieser kommen sie oft genug in unmittelbare Nähe der Dorfschaften und rauben hier, wenn sie sich nicht verfolgt sehen, zuweilen vor den Augen ihres gefährlichsten Gegners. Die nordischen Arten sind größtentheils Wandervögel, alle wenigstens Strichvögel, welche außer der Brutzeit im Lande umherschweifen und während ihrer langen Jugendzeit unter Umständen ganz andere Gegenden oder Länder bewohnen als die alten, gepaarten und horstenden Vögel ihrer Art.

Auch die Adler lieben Gesellschaften ihresgleichen nicht, dulden wenigstens während des Sommers in ihrem Gebiete kein zweites Paar. Vereinigungen kommen unter ihnen nur während ihrer Winterreise oder auf wenige Minuten gelegentlich einer für viele ausreichenden Mahlzeit vor: auf dem Leichname eines großen Thieres z.B. Der Verband, in welchem sie zusammenleben, ist selbst während der Winterreise ein lockerer. Sie kommen an beutereichen Orten zufällig zusammen, gehen hier denselben Geschäften nach und erscheinen deshalb oft als gesellig, während streng genommen jeder seinen eigenen Weg geht, selbstverständlich mit Ausnahme des Gatten eines Paares. Diese halten außerordentlich treu zusammen, und es unterliegt wohl keinem Zweifel, daß eine unter Adlern geschlossene Ehe für die ganze Lebenszeit währt. Mit anderen Vögeln gehen sie ebensowenig Verbindungen ein. Sie vereinigen sich zuweilen mit Geiern, Milanen und Bussarden, aber durchaus nicht geselligkeitshalber. Der gleiche Nahrungserwerb führt sie zusammen; ist ihm genügt, so endigt die Vereinigung. Dagegen erlauben sie kleinen Schmarotzern, wie wir sie nennen wollen, Finkenarten z.B., in dem Unterbau ihres Horstes Wohnung zu suchen. Aber auch diese Erlaubnis wird nicht freiwillig gegeben; von eigentlicher Duldung ist keine Rede. Der Adler gestattet dem Sper lingsvogel in seiner unmittelbaren Nähe zu wohnen, weil er sich unfähig fühlt, seiner sich zu bemächtigen. Die Gewandtheit des Zudringlings ist dessen Schutzbrief vor der bedrohlichen Klaue des Gewalthabers. Doch wollen wir nicht in Abrede stellen, daß einzelne Adler zuweilen ähnliche Großmuth bekunden, wie sie der Löwe unter Umständen an den Tag legt. Die edelsten unter ihnen kennen die Mordsucht des Habichts nicht. Sie sind Räuber, aber stolze, edle Räuber: sie rauben, weil sie hungern. Ganz das Gegentheil erfahren wir von den unedleren. Einige von ihnen tragen nicht umsonst den Namen Habichtsadler; denn sie ähneln den [608] Habichten nicht bloß in ihrer Gestalt, sondern auch in ihrem Wesen. Im allgemeinen machen die Adler ihrem Namen Ehre: sie sind wirklich edle Vögel. Unter den gefiederten Räubern gibt es wenige, welche höher begabt sind als sie; nur die Edelfalken dürfen ihnen vielleicht vorausgestellt werden. Leibliche und geistige Begabungen sind ihnen in gleicher Weise zu Theil geworden. An Bewegungsfähigkeit stehen sie allerdings den Edelfalken und Habichten nach, aber auch nur ihnen. Ihr Flug ist ausgezeichnet schön. Ihm fehlt das unruhige, welches der Flug des Edelfalken oder Habichts zeigt; die Flügel werden, wenn es sich darum handelt, vom Boden aufzusteigen, gewaltig, obschon verhältnismäßig langsam bewegt, sobald aber einmal eine gewisse Höhe gewonnen wurde, einfach ausgebreitet, und dennoch schweben die Adler ungemein rasch dahin. Man sieht von ihnen oft minutenlang nicht einen einzigen Flügelschlag, und doch entschwinden sie bald dem Auge. An dem kreisenden Adler bemerkt man, wie er durch Drehen und Wenden, durch Heben und Senken des Schwanzes steuert, wie er sich hebt, wenn er dem Winde entgegenschwebt, und wie er sich senkt, wenn das Gegentheil stattfindet. Beim Angriffe auf lebende Beute stürzt der gewaltige Räuber mit außerordentlicher Schnelle unter lautem, weit hörbarem Rauschen hernieder, allerdings nicht so schnell, daß er einen gewandt fliegenden Vogel zu ergreifen vermöchte, aber immer noch rasch genug, um eine fliegende Taube einzuholen. Der Gang auf dem Boden ist ungeschickt und besteht aus sonderbaren Sprungschritten, bei denen, unter Zuhülfenahme der Flügel, ein Bein um das andere bewegt wird. Der Adler erscheint in laufender Stellung am unedelsten. Viel schöner nimmt er sich aus, wenn er aufgebäumt hat. Dann hält er sich senkrecht wie ein sitzender Mann, und übt einen wirklich erhabenen Eindruck auf den Beschauer. Die stolze Ruhe seines ganzen Wesens prägt sich am deutlichsten im Sitzen aus.

Unter den Sinnen steht zweifelsohne das Gesicht obenan, wie schon das herrliche Auge bekundet. Nächstdem dürfte das Gehör am entwickeltsten sein. Der Adler vernimmt außerordentlich fein und gibt gegen grelle Töne entschiedenen Widerwillen zu erkennen. Ueber den Geruch ist viel gesprochen, aber, wie ich meine, auch viel gefabelt worden. Er ist gewiß nicht wegzuleugnen; doch glaube ich, daß er keineswegs so hoch ausgebildet ist, als man behauptet hat. Das Gefühl, Empfindungsvermögen sowohl wie Tastfähigkeit, steht auf hoher Stufe, und Geschmack beweist jeder gefangene Adler, welchem verschiedene Nahrung vorgeworfen wird, in nicht verkennbarer Weise. Ueber den Verstand ist schwer ein richtiges Urtheil zu fällen; soviel aber ergibt die Beobachtung bald genug, daß auch der Geist als wohlentwickelt bezeichnet werden darf. Im Freileben zeigt sich der Adler außerordentlich vorsichtig und scheu da, wo er Gefahr vermuthet, dreist und frech dort, wo er früher ungestraft raubte, richtet also sein Betragen nach den Umständen ein. Anderen Thieren gegenüber legt auch er zuweilen eine gewisse List an den Tag, und bei seinen Räubereien bekundet er beachtenswerthe Berechnung. In der Gefangenschaft schließt er sich nach kurzer Zeit dem Menschen an, welchen er früher ängstlich mied, und tritt mit ihm in ein Freundschaftsverhältnis, welches sehr innig werden kann. Wahrscheinlich würde man irren, wenn man annehmen wollte, daß dieses Verhältnis auf das Gefühl der Unterthänigkeit begründet sei; denn auch der gefesselte Adler ist sich seiner Kraft wohl bewußt und fürchtet sich durchaus nicht vor dem Menschen, falls dieser ihm feindlich entgegentreten sollte. Davon gaben mir die Adler, welche ich gepflegt habe, Beweise. Sie begrüßten mich mit freudigem Geschrei, wenn sie mich sahen; sie duldeten, daß ich mich in ihren Käfig begab, ertrugen aber durchaus keine Mißhandlung. Genau so benahmen sie sich ihrem Wärter gegenüber, während sie Fremde entweder nicht beachten, oder, wenn diese sich ihnen aufdrängen, ernst zurückweisen. Es ist festzuhalten, daß diejenigen Arten, welche wir Edeladler nennen, auch wirklich die edelsten sind. Der Name ist ihnen gegeben worden nach dem Eindrucke, welchen ihre äußere Erscheinung hervorrief; dieser Eindruck aber wird bestätigt und verstärkt durch Beobachtung ihres Wesens. Bei ihnen sind wirklich die edlen und großartigen Eigenschaften besonders ausgebildet.

Der freilebende Adler nährt sich, wie im Eingange bemerkt, vorzugsweise von selbst erbeuteten Thieren, namentlich von Wirbelthieren; keine einzige Art aber von denen, welche ich kenne, [609] verschmäht Aas, und gänzlich unbegründet ist es, wenn man behauptet hat, daß nur der Hunger den Adler zu solcher Speise zwinge. Er bevorzugt das lebende Thier, findet es aber bequem, an einem bereits gedeckten Tische zu schmausen. Ein Kostverächter ist er überhaupt nicht und mit wenigen Ausnahmen jedes höhere Wirbelthier ihm genehm. Fische gehören, wie es scheint, zu einem beliebten Beigericht, wogegen Lurche nur in wenigen Arten Liebhaber finden dürften. Der Adler raubt im Sitzen wie im Laufen und selbst im Fliegen, erhebt die Beute, welche er ergriff, und trägt sie, falls er dies vermag, einem bestimmten Futterplatze zu, um dort sie zu verzehren. Bei dem Angriffe entfaltet er seine ganze Kraft und beweist dabei außerordentliche Erregung, welche in förmliche Wuth übergehen kann. Durch Widerstand läßt er sich selten oder nicht von dem einmal gefaßten Vorsatze abbringen: was er einmal ins Auge gefaßt hat, sucht er mit Hartnäckigkeit festzuhalten. Er greift muthig starke und große Thiere an und begnügt sich mit sehr kleinen und schwachen. Sein Erscheinen bedeutet, wie Naumann sehr richtig sagt, den Tod aller Thiere, welche ihm nicht zu schwer oder zu schnell sind. Die stärksten Arten erheben den bissigen Fuchs vom Boden oder nehmen den wehrhaften Marder vom Aste weg. Unter den Säugethieren sind blos die kräftigsten, größten und schwersten, unter den Vögeln die gewandtesten vor ihm gesichert. Ein abgerichteter Adler würde sich ohne Besinnen auf den Strauß stürzen und diesen unzweifelhaft umbringen: fällt doch selbst der freilebende Menschen an.

Die Fortpflanzung unserer nordischen Adlerarten findet in den ersten Monaten des Jahres statt. Die Standvögel unter ihnen horsten selbstverständlich früher als die Zugvögel, welche erst gegen den Mai hin bei uns eintreffen. Der Horst ist im Verhältnisse zur Größe des Vogels ein gewaltiger Bau, von sehr übereinstimmendem Gepräge, regelmäßig niedrig, aber sehr breit und seine Nestmulde flach. Starke Reiser, bei den größten Arten armsdicke Knüppel, bilden den Unterbau, feinere Reiser den oberen, Reiser, welche zuweilen mit weichen Stoffen ausgekleidet werden, die Nestmulde. Ein und derselbe Horst dient dem einen Adlerpaare mehrere Jahre nach einander, wird aber alljährlich neu ausgebessert und dabei vergrößert, so daß er zuweilen auch zu bedeutender Höhe anwachsen kann. In den meisten Fällen steht er auf Bäumen, sonst auf einem möglichst unersteiglichen Felsvorsprunge, im Nothfalle auf dem flachen Boden. Das Gelege enthält ein einziges oder zwei, selten drei Eier, welche vom Weibchen allein bebrütet werden. Vor der Paarungszeit vergnügen sich auch die Adler durch prachtvolle Spiele in der Luft, und sie setzt das Männchen noch fort, während das Weibchen brütet. Die Jungen werden von beiden Eltern groß gefüttert. Sie leiden keinen Mangel; denn unter Umständen tragen ihnen die Alten von meilenweit her Futter zu. Nach dem Ausfliegen genießen sie eine Zeitlang sorgfältigen Unterricht; dann aber werden sie im eigentlichen Sinne des Wortes in die Welt hinausgestoßen und führen nun mehrere Jahre lang ein unstetes Wanderleben, bis auch sie sich einen Gatten und später einen Horstplatz erwerben.

Außer dem Menschen haben die Adler keinen Feind, welcher ihnen gefährlich werden könnte, wohl aber viele Gegner. Alle kleinen Falken, Würger, Raben, Schwalben, Bachstelzen hassen sie und bethätigen dieses Gefühl durch Angriffe, welche zwar machtlos sind, die stolzen Räuber aber doch so arg behelligen, daß sie gewöhnlich das weite suchen, um die lästige Rotte los zu werden. Der Mensch muß dem Adler feindselig entgegentreten, denn die meisten Arten fügen ihm nur Schaden zu; doch gibt es auch unter ihnen einzelne, welche sich nützlich erweisen und Schutz verdienen.

Quelle:
Brehms Thierleben. Allgemeine Kunde des Thierreichs, Vierter Band, Zweite Abtheilung: Vögel, Erster Band: Papageien, Leichtschnäbler, Schwirrvögel, Spechte und Raubvögel. Leipzig: Verlag des Bibliographischen Instituts, 1882., S. 607-610.
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