Arbeiterausschüsse

[199] Arbeiterausschüsse (committee of workmen; comité des ouvriers; comitati degli operai). Mit dem Fortschreiten der Technik hat sich im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts ein unwiderstehlicher Zug zur Großindustrie und zum Kapitalismus geltend gemacht. Die durch diese Entwicklung bedingte, immer weitergehende Arbeitsteilung und die Vermehrung der Arbeiterzahl in den einzelnen Betrieben hat das frühere patriarchalische Verhältnis zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer in fortgesetzt steigendem Maße unmöglich gemacht. Auf diesem Boden hat die sozialdemokratische Arbeiterbewegung ihre große Ausdehnung erlangt und durch rücksichtslose, einseitige Betonung der Arbeiterinteressen einen Zustand der Feindseligkeit zwischen Unternehmer und Arbeiter herbeigeführt, der für beide Teile viel Schaden angerichtet hat.

Die Erkenntnis der Notwendigkeit, zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer wieder eine engere Fühlung herzustellen, hat sich im Laufe der Zeit mehr und mehr Bahn gebrochen. Da es nicht mehr möglich ist, diese mit dem einzelnen Arbeiter aufzunehmen, ergab sich von selbst als einzig gangbarer Weg, der, die Gesamtheit oder größere Gruppen der Arbeiter Vertreter wählen zu lassen, die als Ausschüsse der Arbeiter, deren Interessen gegenüber dem Unternehmer zu vertreten haben.

Die Gesetzgebung hat sich bisher in dieser Frage zurückhaltend gezeigt und nur ganz vereinzelt – wie z.B. für Bergwerksbetriebe mit mehr als 100 Arbeitern – ist die Errichtung von A. vorgeschrieben. Im allgemeinen beschränkt sich die soziale Gesetzgebung darauf, für den Fall, daß A. bestehen, diesen eine gutachtliche Tätigkeit im Interesse der Arbeiterschaft zuzuweisen. Ob A. eingerichtet werden sollen, ist dagegen den Unternehmern im Einvernehmen mit den Arbeitern überlassen.

Die deutschen und österreichischen Staatseisenbahnen mit ihrem besonders zahlreichen Personal haben in Erkenntnis von der Notwendigkeit, über die Wünsche und Interessen ihrer Arbeiter fortlaufend unterrichtet zu sein, in umfassender Weise A. eingesetzt. Ein Mitbestimmungsrecht ist ihnen indessen nicht eingeräumt. Abgesehen von dem Recht der Verlautbarung ihrer Wünsche und Beschwerden haben sie sich nur auf Verlangen der Verwaltung gutachtlich zu äußern. Entsprechend dem Gedankengang, der zu ihrer Einrichtung[199] führte, werden sie auch nicht als Vertreter des einzelnen Arbeiters, sondern nur des ganzen Kreises, den sie vertreten, zugelassen. Die Entscheidung ist stets der Eisenbahnverwaltung allein vorbehalten.

Einen grundsätzlichen Schritt auf dem Wege, die Ausschüsse einer Mitbestimmung über die Arbeitsbedingungen zuzuführen, macht zum ersten Male ein Gesetzentwurf der französischen Regierung, der nach den Lehren, die der versuchte, aber mißglückte Generalstreik auf den französischen Bahnen, insbesondere auf der Nordbahn und der verstaatlichten Westbahn, im Oktober 1910 gegeben hat, den Streik der Eisenbahner unmöglich zu machen trachtete und als Korrelat dafür ein obligatorisches schiedsgerichtliches Verfahren für Streitigkeiten zwischen den Gesellschaften und den Angestellten einführen will, das seinen Unterbau in den Ausschüssen hat, die bereits die Aufgabe haben, bei Differenzen eine Einigung zwischen den Eisenbahngesellschaften und den Angestellten zu versuchen. Beide treten sich sonach schon hier als Parteien gegenüber. Welch Schicksal dieser Gesetzentwurf haben wird, läßt sich zurzeit nicht übersehen. Wird er Gesetz, so wird er voraussichtlich nicht den Erfolg haben, ein friedliches und gedeihliches Zusammenwirken zwischen den arbeitgebenden Verwaltungen und den Angestellten herbeizuführen. Die Syndikate der Arbeitnehmer, die nach wie vor unangetastet weiterbestehen, werden schon dafür sorgen, daß die Ansprüche nach Erreichung eines jeden Erfolges der Arbeitnehmer weiter gesteigert werden und daß die gewissermaßen gesetzlich organisierte Unzufriedenheit die Angestellten ihren Verwaltungen und dem Staat immer mehr entfremdet. Nimmt die Entwicklung diesen Lauf, so wird auch das Ziel, den Streik von den Eisenbahnen fernzuhalten, nicht erreicht werden.

Des Mittels der Errichtung von A. haben sich, wie bereits erwähnt, die Staatsbahnen Deutschlands und Östereichs bedient. In Aufbau und Organisation weichen sie mehr oder minder voneinander ab.

In Österreich und den deutschen Mittelstaaten Bayern, Sachsen, Württemberg und Baden fällt der örtliche Bereich der Ausschüsse im allgemeinen mit den behördlichen Verwaltungsbezirken zusammen. Der Ausschuß umfaßt also alle Arbeiter in Österreich einer Staatsbahndirektion, in Bayern einer Betriebs- und Bauinspektion oder einer Maschineninspektion, in Sachsen einer Betriebsdirektion, bzw. Maschinen- oder Werkstätteninspektion, in Württemberg und Baden einer Inspektion, sei es für Bau, Betrieb, Maschinen- oder für Werkstättendienst. Abweichend hiervon ist in Preußen der Gedanke maßgebend gewesen, daß, wie die Lohnfestsetzung sich den örtlichen Verhältnissen anzupassen hat, auch die Wünsche und Interessen der Arbeiter für größere Bezirke in der Regel nicht gleichmäßig sein, sondern sich aus den Verhältnissen der einzelnen Orte heraus verschieden gestalten werden. Dementsprechend ist für jeden Dienstort, an dem mindestens 50 Arbeiter derselben Dienstgruppe vorhanden sind, ein A. eingesetzt.

Im allgemeinen ist die Trennung der Ausschüsse nach Dienstgruppen durchgeführt. Aber auch die Einteilung der Dienstgruppen, für die je besondere Ausschüsse bestehen, weicht vielfach voneinander ab. In Preußen besteht vierfache Teilung nach Betrieb, Verkehr, Maschinendienst, Werkstättendienst. Wo für die Arbeiter eines Betriebs-, Verkehrs-, Maschinen- oder Werkstättenamts ein Ausschuß besteht, gehören ihm alle am Ausschußorte dem betreffenden Amt unterstellten Arbeiter an. In Bayern soll in der Regel für jeden Inspektionsbezirk nur ein Ausschuß gebildet werden. Es können jedoch getrennte Ausschüsse bei den Betriebs- und Bauinspektionen für die Betriebsarbeiter einerseits und die Bahnunterhaltungsarbeiter anderseits, bei den Maschineninspektionen für den Maschinenhausdienst einerseits und den Werkstättendienst anderseits eingerichtet werden. Die Schwellentränkanstalten erhalten je einen besonderen Ausschuß. Ähnlich ist die Organisation in Sachsen. Hier sind bei jeder Betriebsdirektion zwei Ausschüsse, einer für den Bahnbewachungs- und Bahnunterhaltungsdienst und einer für den gesamten Bahnhofs-Abfertigungs- und Zugbegleitdienst errichtet. Dazu kommt für jede Maschineninspektion ein Ausschuß für den Lokomotivdienst und für jede Werkstätteninspektion ein solcher für den Werkstätten- und Magazinsdienst. Endlich ist noch für sämtliche Telegraphen- und Elektrizitätsarbeiter des gesamten Staatsbahnnetzes ein besonderer Ausschuß gebildet. Württemberg hat fünffache Teilung nach den bestehenden Inspektionsarten für Bau, Betrieb, Maschinendienst, Werkstättendienst und Telegraphendienst. Baden wiederum begnügt sich mit Dreiteilung für die Bezirke der Betriebsinspektoren, der Bahnbauinspektoren und der Werkstätten. In Elsaß-Lothringen gelten in diesem Punkt wie in allen übrigen die gleichen Grundsätze wie in Preußen. In Österreich endlich besteht für jede Staatsbahndirektion nur ein Ausschuß, der jedoch in drei Sektionen nach a) Bau- und Bahnerhaltungsdienst, b) Zugförderungs- und Werkstättendienst, c) Verkehrsdienst[200] getrennt ist. Diesen Sektionen kommt aber große Selbständigkeit zu. Sie wirken in der Regel getrennt für sich, können jedoch auch zu gemeinsamen Sitzungen einberufen werden.

Während in Preußen eine gemeinsame Betätigung mehrerer Ausschüsse nicht zugelassen ist, ist in den übrigen Staaten eine gemeinschaftliche Beratung verschiedener Ausschüsse in geeigneten Fällen vorgesehen. Die Entscheidung ob und wann dies geschehen soll, ist aber den Verwaltungen vorbehalten. In Sachsen, Württemberg und Baden, wo nur eine Generaldirektion unter dem Ministerium die Verwaltung leitet, ergibt sich damit ohne weiteres die Möglichkeit, alle Ausschüsse zu gemeinsamer Beratung zusammenzufassen. In Bayern, wo mehrere Direktionen nebeneinander bestehen, hat jede das Recht, mehrere oder alle Ausschüsse ihres Bezirkes zusammentreten zu lassen. Hierbei sind aber nicht sämtliche Ausschußmitglieder, sondern nur Vertreter, die jeder Ausschuß wählt, heranzuziehen. Auch über den Bezirk einer Eisenbahndirektion hinaus ist die Möglichkeit gemeinsamer Beratung von Ausschüssen mehrerer oder sämtlicher Direktionen als Ausnahmemaßregel vorgesehen. Die Entscheidung hierüber trifft das Ministerium für Verkehrsangelegenheiten von Fall zu Fall.

Während in den deutschen Staaten nicht nur die Zusammenberufung, sondern auch Zahl und Auswahl der Vertreter bei gemeinsamen Beratungen mehrerer Ausschüsse von Fall zu Fall verfügt wird, ist in Österreich die Einberufung zu gemeinsamen Beratungen zwar ebenfalls dem Ermessen der Behörde überlassen, dagegen ist die Arbeitervertretung in diesen Fällen ein für alle Male geordnet. Bei den Staatsbahndirektionen ist schon durch die organisatorische Bestimmung, daß die drei Sektionen, die für gewöhnlich völlig getrennt beraten, zusammen einen Ausschuß bilden, für die Zusammenfassung der verschiedenen Arbeitergruppen der Rahmen gegeben. Aber auch für die Zusammensetzung eines Beratungskörpers für Fragen, die über den Bereich einer Staatsbahndirektion hinausgehen, ist eine feste Form geschaffen. Es ist ein besonderer Arbeiterzentralausschuß in Wien eingesetzt, dem ein vom Eisenbahnministerium bestimmter Beamter präsidiert und den dies Ministerium auch einberuft, wenn es Beratungsgegenstände hierzu für geeignet hält. Der Zentralausschuß besteht aus 15 Mitgliedern mit dreijähriger Amtsperiode, von denen 12 von den Sektionen gewählt, 3 vom Ministerium ernannt werden, dergestalt, daß jede der drei Sektionsgruppen durch 5 Mitglieder vertreten ist.

Die Anzahl der Ausschußmitglieder ist im allgemeinen nicht im voraus fest bestimmt und nur eine untere Grenze von 3, eine obere von 15 (in Sachsen 12) gezogen. Nur in Österreich ist entsprechend der Sektionseinteilung ein für alle Male die Zahl von 15–5 für jede Sektion – festgesetzt, von denen aber die Arbeiter nur 12 wählen, während 3 von der Staatsbahndirektion ernannt werden. Die Amtsdauer beträgt in Preußen und Sachsen 5, in den übrigen Staaten 3 Jahre.

Aktive und passive Wahlfähigkeit weisen ebenfalls eine gewisse Mannigfaltigkeit auf. Die aktive Wahlberechtigung ist bis auf Österreich, wo Zurücklegung des 24. Lebensjahres gefordert wird, mit dem 21. Lebensjahr zugestanden, daneben aber noch an die Bedingung der Zurücklegung einer gewissen Dienstzeit, die man im großen und ganzen auf ein Jahr beziffern kann, geknüpft. Die Wählbarkeit ist in Preußen, Sachsen und Baden nur den mindestens 30 Jahre alten Arbeitern zugestanden, während sie in Württemberg mit 25 Jahren, in Österreich mit 24 Jahren und in Bayern schon mit 21 Jahren gewährt wird. Daneben wird überall die Zurücklegung einer gewissen Dienstzeit zur Bedingung gemacht. Diese ist in Preußen, Württemberg und Baden auf 5 Jahre Eisenbahndienst, in Preußen und Württemberg dazu noch mindestens ein Jahr bei der Dienststelle, die der Gewählte vertreten soll, bemessen. In Österreich und Sachsen wird nur einjähriger Dienst in der Wählergruppe verlangt, in Bayern Mitgliedschaft bei der Abt. B der Arbeiterpensionskasse, was ungefähr auf dasselbe herauskommt.

Den Vorsitz führt überall der Leiter derjenigen Dienststelle, für deren oder in deren Dienstbezirk der Ausschuß eingesetzt ist. Die Zahl der Sitzungen ist nach oben nicht begrenzt. Als Mindestzahl der Sitzungen sind in Preußen, Württemberg und Baden jährlich zwei, in Bayern und Österreich eine Sitzung angeordnet. Während nach Bedarf von den Verwaltungen weitere Sitzungen überall anberaumt werden können, ist in Deutschland auch den Arbeitern das Recht eingeräumt, die Einberufung zu einer Sitzung zu verlangen. Dies muß geschehen, wenn zwei Drittel der Ausschußmitglieder es beantragen.

Das Recht, A. aufzulösen, ist den Verwaltungen überall vorbehalten, während aber hierfür in Deutschland die lokalen Aufsichtsbehörden (Direktionen) zuständig sind, ist in Österreich hierzu nur das Eisenbahnministerium befugt.

Aufgabe und Zuständigkeit der A. erstreckt sich überall auf die Behandlung allgemeiner, nicht nur[201] die Person einzelner berührender Angelegenheiten, wie Lohnfragen, Arbeitsbedingungen, Einrichtungen der Arbeitsstätten zur Unfallverhütung u. dgl., Wohlfahrtseinrichtungen u.s.w. Die Ausschüsse dürfen sowohl ihre Anträge, Wünsche und Beschwerden zur Verhandlung stellen, als auch können sie gutachtlich über derartige Fragen gehört werden. In Preußen, Sachsen, Württemberg und Baden haben die Ausschüsse daneben noch die Aufgabe der Schlichtung von Streitigkeiten der Arbeiter untereinander, wenn sie von beiden Teilen dazu angerufen werden.

Bei allen Verschiedenheiten in den Einzelheiten ist, wie sich aus den vorstehenden Darlegungen ergibt, der Gedanke, die Arbeiterschaft über ihre Interessen zu Worte kommen zu lassen und hierfür feste Einrichtungen in den A. zu schaffen, bei den Staatsbahnen in Deutsch land wie in Österreich gleichmäßig durchgeführt. In anderen Ländern bestehen solche Einrichtungen bisher noch nicht, insbesondere sind die seit 1901 für die öffentlichen Staats bahnen in Frankreich eingerichteten comités du travail nicht A. im Sinne der in diesem Artikel geschilderten. Ihnen liegt vielmehr im wesentlichen die Überwachung der Einhaltung der gesetzlichen Vorschriften über Arbeitszeit und Ruhepausen ob.

Leese.

Quelle:
Röll, Freiherr von: Enzyklopädie des Eisenbahnwesens, Band 1. Berlin, Wien 1912, S. 199-202.
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199 | 200 | 201 | 202
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