[72] Ein weiterer Grundbegriff ist derjenige der »Uebung«. Sie bedeutet: Steigerung der Leichtigkeit, Schnelligkeit, Sicherheit und Gleichmäßigkeit einer bestimmten Leistung durch deren oftmalige Wiederholung. Die »Uebung« in diesem Sinn ist nun schon bei einfachen, das heißt: praktisch nicht weiter zerlegbaren Leistungen ein komplexer Vorgang, bei welchem eine Reihe von Einzelursachen zusammenwirken, um jene Verbesserung der Kräfteökonomie zu erreichen, welche das Wesen des Uebungsvorgangs ausmacht2. Sein Effekt ist: sparsamere und erfolgreichere Ausnutzung des Kräftevorrats und der »Kraftkapazität« des gegebenen psychophysischen Apparats, also Erzielung einer (absolut) zunehmenden Leistung unter Aufwendung (mindestens: relativ) abnehmender Kräftequanta. Diese Kräfteökonomie wird nun vor allem bewirkt durch Ausschaltung oder Beschränkung[72] der Inanspruchnahme aller der Teile des psychophysischen Apparates, welche für die konkrete Leistung entbehrlich sind. »Körperlicher« und »geistiger« Arbeit gemeinsam ist in dieser Hinsicht vor allem der Vorgang der »Mechanisierung«, »Automatisierung« möglichst vieler, anfänglich in allen ihren Einzelheiten durch gesondert bewußtwerdenden Willensimpuls und unter konstanter Inanspruchnahme der Aufmerksamkeit vollzogenen Bestandteile der Leistung. Das heißt also: mit häufiger Wiederholung einer Leistung stellt sich allmählich die Fähigkeit ein, sie auch ohne jene bewußte Inanspruchnahme des Willens und der Aufmerksamkeit für die erforderlichen Einzelfunktionen des psychophysischen Apparates, schließlich sogar besser ohne Hinlenkung der Aufmerksamkeit auf sie, zu vollziehen. Abgesehen davon, daß dieser, aus der Alltagserfahrung ja genugsam bekannte Vorgang den bewußten Willen und die Aufmerksamkeit für anderweitige Inanspruchnahme disponibel macht, und daß er daher insbesondere die unentbehrliche Grundlage aller kombinierten und komplizierten Leistungen ist, bedeutet er vermutlich auch ganz direkt eine Kraftersparnis durch Entlastung des nervösen Zentralorgans. Die »Mechanisierung« scheint nun in hohem Grade durch »Rhythmisierung« der Arbeit gefördert zu werden, weil diese die Hervorbringung der typischen Reaktionen ohne artikulierten Willensimpuls wesentlich erleichtert, und zwar sowohl bei »körperlichen« als bei »geistigen« Leistungen. Die Zusammenhänge von physischer Arbeit und Rhythmus hat Bücher in seinem bekannten schönen Buch kulturgeschichtlich beleuchtet. Für die psychophysische Analyse kommt nun aber wesentlich in Betracht, daß die einzelnen Individuen sich 1. in dem Grade ihrer Beeinflußbarbeit durch Rhythmen ziemlich verschieden zu verhalten scheinen: wesentlich »muskulär« (s.u.) reagierende Personen werden von Aenderungen eines die Arbeit begleitenden Rhythmus nach den Beobachtungen von Specht unbewußt sehr stark beeinflußt, »sensorielle« Reaktionstypen dagegen unter Umständen gar nicht. Ferner aber scheint es 2. ein unter Umständen erheblicher Unterschied zu sein, ob der Rhythmus dem Arbeitenden von außen aufgenötigt wird, oder aber ein ihm, nach den individuellen Strukturverhältnissen seines psychophysischen Apparates, adäquates Tempo hat. Awranoff nimmt zur Erklärung dessen an, daß die Rhythmisierung der Arbeit ihren Erfolg wesentlich der Anpassung an die natürlichen Willens- und Aufmerksamkeitsoszillationen[73] (s.u.) verdankt. Jedenfalls ist die Bedeutung dieser individuellen Differenzen wohl verschieden je nach der Art der Leistung und des Rhythmus. Es scheint durchaus glaublich, daß es zahlreiche einfache Leistungen und zu ihnen gehörige Rhythmen: z.B. Marschrhythmen u. dgl. gibt, an welche sich die große Mehrzahl der Menschen leicht anpaßt. Dagegen ist andererseits auch die Behauptung plausibel, daß bei differenzierten und komplizierten Arbeiten der einzelne auf verschiedene Rhythmen sehr verschieden reagiert. Gerade bei kombinierten Leistungen ist die Rhythmisierung als Mittel der »Gewöhnung« (s.u.), und zwar insbesondere, um die – wie später zu erörtern sein wird, für den Vollzug komplizierter Leistungen sehr wichtige – Möglichkeit zu gewinnen, die einzelnen miteinander kombinierten Teilleistungen gegenseitig in ihre kleinsten, unmerklichen Pausen hineinzupassen, anscheinend von Wichtigkeit.
Die Mechanisierung der Leistung scheint ferner, wenn auch nicht immer, so doch häufig, und zwar gerade da, wo sie den höchsten Grad erreicht, mit einer Umgestaltung des Reaktionsablaufes Hand in Hand zu gehen, welche, physiologisch gesprochen, die Ausnutzung der »Reiznachwirkungen« durch »Summation« ermöglicht. Der Vorgang findet, scheint es, bei allen Arten von Arbeit statt. Auf dem Gebiet der Muskelinanspruchnahme bedeutet er in einfachster Form: daß, durch Beschleunigung des Aufeinanderfolgens der einzelnen Reize, derjenige Reiz, welcher die folgende Muskelzuckung hervorruft, vor dem vollen Ablauf der voraufgehenden Zuckung wirksam wird, womöglich im Moment der Maximalhöhe der ersten Zuckung oder sogar schon vor ihrem Beginn (im sog. »Latenz«zustande des ersten Reizes). Ist dies letztere der Fall, so kann die starke, stets mehr als proportionale Mehranstrengung, welche eine so starke Beschleunigung der Leistung erfordert, dennoch mehr als aufgewogen werden durch den Effekt der »Superposition der Reize«. Das heißt praktisch: eine Summe kleiner, unter Umständen unmerklicher, und daher nicht artikuliert zum Bewußtsein gelangender Reize kann dann eine summierte, kontinuierliche Wirkung ausüben, welche selbst von (summiert gedacht) wesentlich stärkeren Reizen, wenn sie in größeren Zeitintervallen erfolgen, nicht erreicht werden könnte, weil im ersten Falle weit weniger von den Wirkungen der Einzelreize ungenutzt verloren geht als in letzteren. Solche tetanus-(krampf-)artigen[74] Muskelzustände, – deren arbeitsökonomische Wirkung man, wie es scheint, auch am Ergographen bei großer Beschleunigung des Tempos an den Arbeitskurven beobachten kann, – scheinen nun auf dem Gebiet des vorwiegend nicht »muskulären«, »geistigen« Arbeitens eine Parallele zu finden in der Ausnutzung des ebenfalls »krampfartigen« Erregungszustandes, welcher bei größtmöglichster Beschleunigung z.B. des Zahlenaddierens entsteht, überhaupt aber in dem Ablauf, welchen der Vollzug sehr einfacher Arbeitsverrichtung bei sehr hohem Grade der »Uebung« nimmt. Die Arbeitsleistung wird dann in hohem Maße stetig: die Leistung scheint von einer kontinuierlichen Anspannung getragen: – v. Voß beobachtete, daß diese Gleichmäßigkeit als Folge der Uebung sowohl (und namentlich) auf Kosten der langsamsten, als auch auf Kosten der allerschnellsten Reaktionen, die bei unstetigerer Arbeit vorkommen, entsteht. – Daß sie in Wahrheit auch dann von lauter einzelnen, stoßweise sich folgenden, Willensimpulsen hervorgebracht wird, kommt bei der großen Schnelligkeit, mit welcher diese aufeinanderfolgen, nicht zum Bewußtsein. Ebenso nicht, daß die »kontinuierliche« Aufmerksamkeit in Wahrheit aus einer Serie von stets neuen Impulsen zur Einstellung auf diese konkrete Leistung besteht. Beides läßt sich aber, scheint es, experimentell wahrscheinlich machen, und gewisse im Experiment nachweisbare, kleine Oszillationen, welche sowohl die Willensspannung, als die Aufmerksamkeit bei hoch geübten und möglichst einfachen Arbeiten zeigen, scheinen zu ergeben, daß dabei eine Art von »Rhythmisierung« des Stärkegrades der einzelnen Willens- und Aufmerksamkeitsimpulse sich entwickelt3. Die arbeitsökonomische Zweckmäßigkeit der Arbeitszerlegung beruht, wie angenommen wird, zum nicht geringen Teil auch darauf, daß bei den einfachsten Leistungen jene krampfartige Ausnutzung der Reiznachwirkungen und ihrer »Superposition« die vollständigste sein kann, vollständiger als bei Leistungen, von denen jede eines anders gerichteten Impulses bedarf, und daher jede, infolge der Verlangsamung durch[75] die erforderliche Einschaltung anders gerichteter Reize und Reaktionen, Verluste an Ausnutzung der »Reiznachwirkungen« erleiden muß.
Mit diesen Vorgängen gehen nun bei der »Uebung« eine Reihe von anderen Prozessen parallel, welche gleichfalls der Kräfteökonomie des psychophysischen Apparates dienen. So zunächst bei der Uebung der für eine bestimmte Reaktion verwendeten Muskeln. Schon an sich ist der Muskel – nach Munks Ausdruck – die »vollendetste Dynamomaschine, die wir kennen«, weil er unter Umständen bis zu 40% von den chemischen Spannkräften der verbrauchten Stoffe in Arbeitsleistung umzusetzen vermag (während der als unbenutzte Wärme entweichende Bruchteil bekanntlich bei jeder »Maschine« bis 9/10 und mehr beträgt). Die fortschreitende Uebung bedeutet nun die stets fortschreitende Reduktion der ohne Nutzen für die betreffende Leistung verbrauchten Spannkräfte, oder, anders ausgedrückt, die stete Verbesserung des Verhältnisses zwischen physiologischer (Arbeits-)Leistung zur physikalischen (Energie-)Leistung. Dies geschieht vor allem durch die möglichste Beschränkung der Bewegung 1. auf die an der betreffenden Arbeit direkt mitbeteiligten Muskeln: Ausschaltung der im Anfang der Uebung massenhaft auftretenden unwillkürlichen Mitbewegung anderer, für die Leistung entbehrlicher, Muskeln, welche ja das äußerlich charakteristische Symptom der »Ungeschicklichkeit« und, vor allem, eine Verletzung der Kräfteökonomie ist, 2. auf diejenigen unter den, nicht selten, mehreren möglichen Muskeln, welche die betreffende Arbeit unter dem kleinstmöglichen Kräfteaufwande vollbringen können. Ob bei diesen Vorgängen ferner auch eine allmähliche Beseitigung irgendwelcher gegenseitiger innerer physischer Hemmungen des möglichst freien Spiels der Muskeln durch diese selbst untereinander wirksam wird, scheint vorerst seitens der Fachmänner nicht entschieden zu sein. – Von den beiden erwähnten Richtungen, in welchen bei der Uebung die Kräfteökonomie fortschreitet, ist nun die Verschiebung der Leistung auf diejenigen Muskeln, welche den geringsten Kräfteaufwand erfordern, die prinzipiell interessanteste. Ueber sie hat neuerdings – soviel ich sehe, unter dem Gesichtspunkt der Arbeitsökonomie zuerst – Gerson in einem geistreich geschriebenen Essay ansprechende, teilweise auch der Laienerfahrung entsprechende, natürlich aber in allem einzelnen und in ihrer Tragweite nur durch den physiologischen[76] Fachmann nachprüfbare Theorien entwickelt. – Die Mechanisierung und Beschleunigung, welche Bedingungen der Kräfteersparnis sind, sollen darnach ihr Maximum bei solchen Bewegungen erreichen, die von kleineren Muskeln ausgeführt werden, deren »Reizschwelle«4 niedrig sei und deren Kraftverausgabung bei der einzelnen Zuckung leicht unterhalb der Bewußtseinsschwelle bleibe. Von den Bewegungen der größeren Muskeln erfordere dagegen im allgemeinen jede einzelne einen starken Reiz, um überhaupt in Betrieb zu kommen (»hohe Reizschwelle«). Es erfolge ferner sowohl die Wirkung des Reizes als der Ablauf der Reaktionen bei den großen Muskeln so langsam, und es stelle jede Einzelbewegung einen so bedeutenden Kraftaufwand dar, daß sie schwerer automatisiert werde (z.B. die Bewegungen etwa des Schmiedes oder des Ruderers; anders steht es mit den Gangbewegungen, solange die Gangart nicht besonders anstrengend ist), als dies bei Bewegungen kleinerer Muskeln (z.B. Schreibbewegungen usw.) gelinge. Die Verschiebung möglichst aller Leistungen, welche ein bestimmter Arbeitszweck erheischt, auf die möglichst kleinsten Muskeln, namentlich die Muskeln der Hand, und die Entlastung der größeren Muskeln bedeute daher, selbst wenn der von den kleinen Muskeln insgesamt für einen Arbeitszweck zu leistende Kraftaufwand nicht geringer ist, als ihn (für den gleichen Zweck) die großen zu leisten hätten, dennoch eine vollständigere Ausnutzung der umgesetzten Spannkräfte, weil die Ausnutzung der Reizwirkungen und die Mechanisierung dabei vollständiger sein könne. – Daß die modernen Maschinen, im großen und ganzen, die Entlastung speziell der großen Muskeln zu Lasten der kleinen besorgt haben, wird nicht bestritten werden können. Es wäre durchaus fruchtbar, die Entwicklung der Technik unter diesem Gesichtspunkt eingehender zu analysieren, so wenig es natürlich angeht, die ganze Kulturgeschichte oder auch nur die ganze Geschichte der Technik sozusagen aus einem »Prinzip des kleinsten Muskels« erklären zu wollen. Noch mehr der näheren Untersuchung bedürftig erscheint, inwieweit diese, wohl innerhalb gewisser, a priori nicht sicher feststellbarer, Grenzen, für die Kulturgeschichte zutreffende Entwickelung auch für die individuellen Uebungsvorgänge eine Rolle spielt. Soweit überhaupt die Möglichkeit einer annähernd[77] gleichwertigen Verwendung verschiedener Muskelgruppen zu der gleichen Arbeitsverrichtung besteht (wo und wie oft dies überhaupt der Fall ist, könnte nur die Einzelanalyse der Fachmänner zeigen), da wird auf die Dauer zweifellos die möglichste Ausschaltung aller übrigen mit Ausnahme des unter der größten Kraftersparnis verwendbaren Muskels stattfinden. In vielen Fällen wird dies vermutlich zugleich der möglichst kleinste Muskel sein. Ob immer, könnte nur fachmännische Untersuchung entscheiden. Jedenfalls findet nicht selten, – so in der Arm- und Handmuskulatur – im Wege der »Uebung« in Wahrheit eine Verschiebung in den für eine Leistung aufgewendeten Mitteln statt.
Eine solche Verschiebung in der Art der Leistungsmittel findet sich nun, in charakteristischer Weise, auch auf dem Gebiet des »geistigen« Arbeitens. In nicht wenigen Fällen kann eine und dieselbe Leistung mit sehr verschiedenen Mitteln vollzogen werden. Man pflegt z.B. die Art des Gedächtnisses zu unterscheiden, je nachdem die Einprägung etwa von Zahlen- oder Silbengruppen unter Benutzung visueller Mittel (Gesichtsbilder der Zahlen bzw. Silben) oder akustisch (Gehörsbilder: man hört sich »innerlich« sprechen) oder aber motorisch (man fühlt sich »innerlich« flüstern) erfolgt, bzw., da sehr oft nur von einem Ueberwiegen des einen Mittels über das andere die Rede sein kann: je nachdem vorwiegend das eine oder das andere von ihnen sich im Betrieb befindet. Kraepelin wollte darnach überhaupt »Erlernung« (sensorische Einprägung) von »Uebung« (motorische Einschulung) grundsätzlich scheiden (denen beiden, wie er andeutete, vielleicht die »assoziative Uebung« als dritter Typ zuzugesellen sei). Praktisch scheint bei Gedächtnisleistungen meist nur ein mehr »visueller« und ein mehr akustisch-motorischer Typ leicht unterscheidbar: das bekannteste und oft angeführte Beispiel waren die beiden Rechenkünstler Inaudi und Diamandi, von denen der letztere nur mit Gesichtsbildern, der erstere (bis zum 20. Jahre Analphabet) rein akustisch-motorisch sich die Zahlengruppen einprägte. Es handelt sich hier um »Anschauungstypen«, die zwar in einem gewissen, oft vielleicht hohen Maße, auf angeborener Anlage ruhen, andererseits aber auch, – wie Henry betont hat, – in ziemlich erheblichem Maße durch die faktisch einmal eingeschlagene Richtung der »Uebung« ausgeprägt und oft geradezu geschaffen werden. Die Zugehörigkeit zum einen oder anderen Typus und vor allem die, bei der Mehrzahl der Individuen in[78] irgendeinem Grade vorhandenen Möglichkeit, zwischen der Art der »Auffassung« zu wechseln, ist, wie später zu erörtern, für die Möglichkeit der Kombination mehrerer Teilleistungen miteinander vermutlich ziemlich wichtig. In ähnlicher Art pflegt man auch »Reaktionstypen« zu unterscheiden, je nachdem bei dem Ablauf der Reaktion auf einen Reiz die Aufmerksamkeit vornehmlich auf den Reiz oder auf die auszuführende Bewegung gerichtet ist: »sensorielle« oder »motorische« Reaktionsweise vorherrscht. Man hat (Baldwin) diese Gegensätze mit den Anschauungs- und Sprachtypen kombinieren und, da man auf Grund einiger Beobachtungen annahm, daß die Reaktion bei »sensorischem« Ablauf langsamer erfolge, deren Zeitdauer für das entscheidende Merkmal der Eigenart eines jeden Individuums hinstellen wollen. In der Tat hängt jener Gegensatz der Reaktionsweise, obwohl auch er in der Mehrzahl der Fälle relativ ist, anscheinend oft mit praktisch weitgehenden Unterschieden der Persönlichkeiten (der »Temperamente«) zusammen. Die größere Fähigkeit zur »Kritik« z.B. pflegt, bei gleichzeitig größerer »Passivität«, den »sensorischen«, die größere Promptheit und »Aktivität«, Vielseitigkeit, den »motorischen« Typ auszuzeichnen. Allein schon der Umstand, daß »sensorische« Sprachtypen bestimmter Art (auditive) häufiger sind als sensorische Reaktionstypen, scheint es auszuschließen, daß man einfach »sensorische« und »motorische« Persönlichkeiten scheidet. Auch »Anschauungstypen« und »Reaktionstypen« decken sich nicht. Und ebenso glaubt Flournoy gezeigt zu haben, daß die sensorische Reaktionsweise zwar häufig, aber nicht immer, die langsamere sei, – eine Behauptung, die von anderer Seite als durch die stets nur relative »Reinheit« der Typen (»Uebergangstypen«: Götz-Martius) veranlaßt angesehen wird. Es scheint immerhin möglich, daß zahlreiche Individuen gerade darnach klassifiziert werden könnten: welche von beiden Reaktionsarten bei ihnen schneller und leichter abläuft, daß es ferner auch Individuen gibt, die keinen von beiden Typen angehören oder dic sich zu beiden indifferent verhalten, das heißt: bei denen die Reaktion gleich schnell abläuft, mögen sie nun ihre Aufmerksamkeit dem Reiz, der Reaktion oder keinem von beiden vorwiegend zuwenden. Gleichwohl bleibt in sehr vielen Fällen der Unterschied der einem Individuum gewohnten Reaktionsweise, ebenso die Art seines »Anschauungstyps« und[79] vor allem: die größere oder geringere Fähigkeit, mit der Art der Benutzung seines psychophysischen Apparates in diesen Hinsichten zu wechseln, eine wichtige Komponente seiner Leistungsfähigkeit, und zwar speziell seiner Fähigkeit, kombinierte Leistungen zu vollbringen. Es zeigt sich nun, daß durch die »Uebung« nicht selten bei einer und derselben Person ein Wandel in diesen Verhältnissen eintritt, namentlich dann, wenn die Uebung in besonders starkem Maße auf die steigende Schnelligkeit der Leistung abgestellt wird. Es findet sich dann namentlich oft, daß der Uebende unvermerkt von der »sensorischen« zur »motorischen« Uebung übergeht, um auf diese Weise die Beschleunigung und Mechanisierung der Leistung zu erleichtern. Denn wenn auch, wie gesagt, in Abrede gestellt wird, daß »motorische« Leistung an sich schon größere Schnelligkeit bedeute, so hängt doch wohl allerdings die möglichste Verdrängung der Leistung aus dem Bereich der bewußten Aufmerksamkeit und Willensimpulse (die »Automatisierung«) mit dem Ueberwiegen der motorischen Reaktionsweise ziemlich eng zusammen, und ebenso hat die motorische Reaktionsweise für die Schnelligkeit der Leistung (im Gegensatz zur Präzision derselben) den Vorteil, die allgemeine (»psychomotorische«) Erregung, welche jede vorwiegend »motorisch« zu vollziehende Arbeit hervorbringt, als »Anregung« (s.u.) für die Steigerung der Leistungskurve verwerten zu können. Ueber die Bedeutung derjenigen Fälle von Wechsel in den technischen Mitteln der Erzielung einer Leistung, welche durch die Notwendigkeit, diese mit andern Leistungen zu kombinieren und also diese verschiedenen Leistungen möglichst auf verschiedene Mittel des psychophysischen Apparates zu verteilen, geschaffen werden, wird weiter unten zu handeln sein. In jedem Falle zeigt das Vorkommen solcher Aenderungen des psychophysischen Charakters einer Arbeit bei Gleichbleiben ihres Leistungseffekts, daß man sich hüten muß, diesen Effekt und also den »Sinn« und »Zweck« einer Leistung zur Grundlage einer Klassifikation der Arbeit nach ihrer psychophysischen Eigenart zu machen. Und ebenso zeigt sich: daß die »Uebung« einer Leistung unter Umständen deren qualitative Aenderung, ja geradezu: die Substitution eines dem Wesen nach anderen psychophysischen Geschehens bedeuten kann.
[80] Die Wirkung der Uebung äußert sich in erkennbarer Weise am unmittelbarsten natürlich in den Fortschritten des Leistungsmaßes in der Zeiteinheit im Verlauf einer kontinuierlichen Arbeit. Allein in diesem Fall »wirkt«, vom Standpunkt der Kraepelinschen Betrachtungsweise aus gesehen, die stetig fortschreitende Ermüdung ihr »entgegen«. Während anfangs die zunehmende Uebung die beginnende Ermüdung überwiegt und also die Arbeitskurve, im ganzen, sich aufsteigend bewegt, beginnt, bei immer weiterer Fortsetzung der Arbeit, die Ermüdung gegenüber der Uebungszunahme im Effekt auf die Arbeitsleistung mehr und mehr zu überwiegen. Man pflegt daher den Uebungsfortschritt zu messen nach dem Maß des Zuwachses, den die Leistungsfähigkeit bei Beginn einer neuen, durch eine zur Erholung ausreichende Pause von der vorangehenden getrennten, Arbeitsperiode, insbesondere eines neuen Arbeitstages gegenüber dem Niveau bei Beginn des vorhergehenden, aufweist. Als erfahrungsgemäß (und experimentell) feststehend wird aber andererseits angesehen, daß das erreichte Niveau der Geübtheit sich mit Aufhören der kontinuierlichen Wiederholung der Leistung sofort, zunächst schnell, dann langsamer, zu senken beginnt (»Uebungsverlust«); es wird also auf diese Weise nur der bei Beginn der neuen Arbeitsperiode noch verbliebene Rest des Uebungszuwachses (»Uebungsrückstand«) gemessen. Der Uebungsverlust während des Schlafs scheint geringer zu sein als derjenige während des Wachens, offenbar weil der Einfluß andersartiger Einstellungen des psychophysischen Apparates die Spuren der Uebung alteriert. Durchweg nimmt ferner im Verlauf immer weiter fortgesetzter Uebung und immer höheren Niveaus der Geübtheit der Uebungszuwachs, relativ betrachtet, ab, bis zur Erreichung eines Maximums von Geübtheit, welches natürlich für jede Person und jede Leistung verschieden sein kann. Je mehr sich das Maß der Geübtheit diesem Maximum annähert, desto früher muß in den Arbeitskurven der einzelnen Tage, – die nunmehr infolge des hohen Standes der Geübtheit ja mit viel höheren Anfangsleistungen einsetzen als die Arbeitskurven Ungeübter (aber dafür auch weniger steigerungsfähig sind) – die Ermüdung die Arbeitskurve zum Sinken bringen. Andererseits scheint die experimentelle Erfahrung zu lehren, daß bei hohem Uebungsstande diesem früheren Manifestwerden des Einflusses der Ermüdung eine größere Langsamkeit in der Senkung der Arbeitskurve also eine geringere [81] Ermüdbarkeit entspricht. Die Arbeitskurve des »Geübten« setzt also höher ein, steigt mäßiger an, beginnt früher zu sinken, sinkt aber langsamer und verläuft also im ganzen 1. auf höherem Niveau, 2. flacher und stetiger, als die des »Anfängers«.
Das Tempo des Uebungszuwachses stellt nach Kraepelins Terminologie das Maß der »Uebungsfähigkeit« dar. Das bei verschiedenen Personen sehr verschiedene Tempo des Uebungsverlustes oder vielmehr das Maß des nach Pausen, insbesondere nach dem Nachtschlaf, noch verbliebenen Uebungsrückstandes, bezeichnet er als »Uebungsfestigkeit«. Die Uebungsfestigkeit äußert sich zunächst in dem Grade der Stetigkeit, mit welcher, infolge der zunehmenden Uebung, die Lei stungsfähigkeit beim Arbeitsbeginn von Tag zu Tag zunimmt, bis die maximale Geübtheit erreicht ist. Alsdann in der Stetigkeit, mit der dies Maximum bestehen bleibt. Endlich aber auch in der Schnelligkeit, mit welcher nach lange dauernden Perioden der Arbeitsunterbrechung das früher erreichte Niveau der Geübtheit wieder erlangt wird. Es scheint, daß, während die Geübtheit bei Unterbrechung der Arbeit zunächst ziemlich schnell zu sinken beginnt, dieses Sinken sich allmählich verlangsamt und auf sehr lange Perioden hinaus eine Disposition zu beschleunigter Wiedererlangung des einmal vorhanden gewesenen Grades der Geübtheit haften bleibt. Ein (amerikanischer) Versuch an Schreibmaschinen zeigte z.B., daß dasjenige Maß der Geübtheit, welches beim erstmaligen Erlernen des Maschinenschreibens am 50. Tage erreicht wurde, nach einer Pause von mehr als 2 Jahren, während deren die Versuchsperson sich des Maschinenschreibens völlig entwöhnt hatte, schon am 13. Tag wieder erreicht war. In der Verkürzung der erforderlichen Uebungszeit auf ca. 1/4 zeigt sich der »Uebungsrest«. Andererseits scheint auch durch experimentelle Nachprüfung bekannter Alltagserfahrungen festzustehen, daß selbst ein noch so hoher Grad von Geübtheit niemals gegen »Uebungsverlust« immun macht, vielmehr jede Unterbrechung auch des höchstgeübten Arbeiters (Setzer, Buchhalter, Klaviervirtuose) in der fortdauernden Uebung alsbald sich fühlbar macht, – was für die Frage der Arbeitsabwechslung (s.u.) von praktisch erheblicher Bedeutung ist.
Die Arbeiten der Kraepelinschen Schule haben nun, nach Ansicht ihres Leiters, auch gewisse wichtige Aufschlüsse über die gegenseitigen Beziehungen zwischen Ermüdung und Uebung und[82] die Dispositionen zu beiden gegeben. Zunächst hält Kraepelin es für experimentell wahrscheinlich gemacht, daß »Ermüdungsarbeit«, d.h. Arbeit im Zustande starker Erschöpfung, geringe oder keine Uebungsrückstände hinterlasse, also spezifisch geringeren Uebungswert habe. Und ferner – was noch wichtiger wäre – hält er für ziemlich sicher, daß das Maß der »Ermüdbarkeit« und das Maß der »Uebungsfähigkeit« bei ein und derselben Person einander annähernd zu entsprechen scheinen. Die Allgemeingültigkeit dieser Beobachtung ist zwar von anderer Seite in Abrede gestellt worden. Kraepelin seinerseits hält es aber ferner auch für wahrscheinlich, daß großer »Uebungsfähigkeit« geringe »Uebungsfestigkeit« zu entsprechen pflege, so daß also durch die häufige Kombination der Dispositionen zu: rascher Uebung, rascher Ermüdung, raschem Uebungsverlust, ein spezifischer, labiler, psychischer Typus konstituiert würde. – Jedoch ist auch dies, wenigstens wenn man darunter eine einheitliche Klassifikation der möglichen Verhaltungsweisen menschlicher Konstitution verstehen soll, noch nicht unbestritten. Festzustehen scheint andererseits, daß Uebungsfähigkeit und absolute Leistungsfähigkeit nicht in Beziehung zueinander stehen. Ein Mensch von (für eine bestimmte Arbeit) eng begrenzter Maximalleistungsfähigkeit kann dies Maximum sowohl schneller als auch langsamer erreichen, als ein anderer mit höherem Maximum.
»Ermüdung« und »Uebung« verhalten sich in ihrem Gesamtablauf in mehreren Hinsichten gegensätzlich zueinander. Die Wirkungen der Ermüdung sind – pathologische Fälle beiseite gelassen – ihrem Wesen nach flüchtige. Hingegen sind die Wirkungen der Uebung stets, nur dem Grade nach individuell verschieden, dauernde. Von der Ermüdung scheint, wie erwähnt wurde, festzustehen, daß sie mindestens bei stärkeren Graden und bei »geistigen« Leistungen universell wird, den gesamten Organismus beeinflußt und die Höhe aller, nicht nur der speziell in Anspruch genommenen, Leistungen, wenn auch wohl in verschieden starkem Maße, herabsetzt. Die Uebung dagegen ist ihrem Wesen nach spezialistisch und »einseitig«. Sie vollzieht sich ja bei rein physischen Leistungen teils durch Ausschaltung der anfänglichen, unökonomischen Mitbewegungen möglichst vieler für die beanspruchte Leistung entbehrlichen Muskeln, durch Begrenzung der Inanspruchnahme auf diejenigen[83] Muskeln, welche im gegebenen Falle mit der günstigsten Kräfteökonomie arbeiten, dann bei fortgesetzter Uebung durch Wachstum dieser, und daneben durch möglichste »Automatisierung« ihres Funktionierens, d.h. Ersparnis von Inanspruchnahme bewußter Willensimpulse, – durchweg also auf dem Wege der Außerbetrieb setzung des möglichen Maximums von Organen. Und bei der Einübung »geistiger« Leistungen handelt es sich gleichfalls um die Aufsuchung derjenigen Art der Inanspruchnahme des psychophysischen Apparates, welche den Vollzug der Leistung mit dem Minimum von Anstrengung gestattet, und, nachdem diese Art und Weise – z.B. die »auditiv-motorische« Form des Lernens – einmal gefunden ist, ebenfalls um möglichst maximale »Automatisierung«. In allen Fällen also wird durch die »Uebung« einer bestimmten Leistung das Feld derjenigen psychophysischen Funktionen, welche zu ihrem Vollzug in Anspruch genommen und beschäftigt werden, verengt. Fraglich und vorerst anscheinend nicht zu entscheiden ist nur, wieweit diese Einengung der Inanspruchnahme im Einzelfall gehen kann. Diese Frage kann man nun auch in umgekehrter Form stellen und sie gewinnt alsdann erhebliche Wichtigkeit, weil die Mitinanspruchnahme anderer Funktionen unter Umständen vielleicht auch deren Mitübung bedeuten könnte.
Man hat vielfach versucht, »Uebung« entweder mit »Gedächtnis« zu identifizieren oder unter diesen Begriff als Spezialfall zu subsumieren, oder umgekehrt von ihm zu scheiden. Diese Fragen können uns hier unberührt lassen. Denn soviel steht fest: versteht man unter »Gedächtnis« nur die Aufbewahrung von Eindrücken und die Fähigkeit der absichtlichen oder zufälligassoziativen Reproduktion dieser selben speziellen Eindrücke, dann greift der Effekt der »Uebung« darüber hinaus: es steht, ganz unbeschadet des über den Unterschied der spezialisierenden Wirkung der Uebung im Verhältnis zu dem der Ermüdung soeben Gesagten, dennoch durchaus fest, daß die Uebung jedenfalls in manchen Fällen, und speziell für gewisse geistige Leistungen, nicht nur der Wiederholung der speziell geübten Einzelleistung, sondern der ganzen betreffenden Richtung psychischer Tätigkeit, deren Einzelfunktion jene war, zugute zu kommen pflegt. So wird durch Uebungen im Reproduzieren bestimmter konkreter Eindrücke nicht nur die Merkfähigkeit für diese Eindrücke, sondern nach unzweideutigen experimentellen[84] Erfahrungen die Merkfähigkeit überhaupt gesteigert, also: »geübt«. In einzelnen Fällen von Gedächtnisleistungen hat man sogar nach einer längeren Zwischenepoche (mehrere Monate) diesen generellen »Uebungsrückstand« anscheinend größer gefunden als das am Schluß der früheren Uebungspe riode erreichte Uebungsniveau. Die Deutung dafür ist bestritten: »Latente Fortbildung einmal geweckter Dispositionen« in Verbindung mit Erholung (so G. E. Müller) oder: »Ueberfütterung« des Gedächtnisses am Schluß der ersten Uebungsperiode mit konkretem Material, welches assoziativ hemmend auf die Aufnahme weiteren Materials wirkte, so daß jenes erst vergessen sein mußte, ehe die Fortbildung der generellen Disposition durch die Uebung zur Wirksamkeit gelangen konnte (so: die Experimentatoren, Ebert und Meumann, selbst).
Bei jeder von beiden Interpretationen ist es jedenfalls eine Disposition zu Leistungen bestimmter genereller Qualität, welcher die »Uebung« zugute kam. Wegen ihrer, in Maß und Art, wie gesagt, nicht unbestrittenen Wirkung über die direkt geübte Leistung hinaus hat man die Uebung gelegentlich mit einer (sachlich vielleicht nicht ganz einwandsfreien) Terminologie: »eine Art von Generalgedächtnis« genannt und versucht, jenen Effekt als eine Ausbreitung der psychophysischen Erregung auf Gebiete, die von der ersten Erregung nicht direkt betroffen waren, zu deuten. Ob diese, ebenfalls nicht unbestrittene, Annahme eine für die naturwissenschaftliche Theorie adäquate Interpretation ist, kann weder der Nichtfachmann beurteilen noch interessiert es für die Aufgaben, um die es sich bei Untersuchungen über die Tragweite der Uebung handelt. Dagegen wäre es von der allereinschneidendsten Bedeutung, wenn festgestellt werden könnte, wieweit der Uebungseinfluß sich, je nach dem Objekt der Einübung, über die eingeübte Spezialleistung hinaus erstreckt, wo also die Grenze des Einflusses der Uebung in dieser Hinsicht liegt. Denn dies erst würde zeigen, welche anderen konkreten Leistungen an dem erleichternden Effekt der Einübung einer oder mehrerer bestimmter Leistungen partizipieren, durch sie sozusagen »vorgeübt« oder »mitgeübt« werden, also mit der oder den geübten Originalleistungen sozusagen in psychophysischer Uebungsgemeinschaft stehen? – wobei es selbstverständlich wäre, daß die »Vorübung« einer Leistung durch eine andere niemals die direkte »Uebung« der ersteren selbst ersetzen[85] könnte. Hierfür scheinen nun, abgesehen davon, daß es, wie gesagt, an prinzipiellen Ablehnungen der ganzen Formulierungsweise nicht fehlt, kaum die ersten Anfänge von Untersuchungen vorzuliegen5 und (außerhalb der erwähnten Experimente über das Lerngedächtnis) gar keine solchen, die ausdrücklich gerade auf diese Frage abgestellt wären, – begreiflich genug schon bei den ungeheuren technischen Schwierigkeiten, welchen derartige Experimente begegnen würden. Die Behauptung, daß auf dem Gebiet der Merkfähigkeit die Mitübung sich gradweise, je nach dem Maß der Verwandtschaft der »mitgeübten« Leistungen mit der direkt eingeübten, abstufe, ist auf Widerspruch gestoßen. Man hat demgegenüber behauptet, daß wesentlich die generell gesteigerte »Konzentrationsfähigkeit«, die Verbesserung der »Lerntechnik« und die Verbesserung der subjektiven »Gefühlslage« als Ursachen der generell gesteigerten Leistungsfähigkeit in Betracht kämen. Wie dem sei, – jedenfalls werden auch bei dieser letzteren Annahme durch konkrete Leistungen bestimmte, über diese Einzelleistungen übergreifende »Fähigkeiten«, welche der Vollziehung auch anderer, als der direkt geübten Leistungen, zugute kommen, mitgeübt, und es käme nun eben darauf an, welche Leistungen von diesem indirekten Uebungseffekt im Einzelfall betroffen werden könnten. Wüßte man darüber Genaueres, so wäre das für die mannigfachsten Probleme von Bedeutung. Die teils beobachtete, teils behauptete weitgehende Abhängigkeit der Berufsqualifikation von den in der Zeit größter Plastizität des Individuums: in der frühen Jugend, erfahrenen Einflüssen könnte man z.B. zum erheblichen Teil unter einen weitesten Begriff der »Vorübung« subsumieren. Die Bedeutung, welche die Art der Schulbildung auf die Qualifikation für die moderne gewerbliche Arbeit anscheinend ausübt, ferner die auch für die Gegenwart nicht selten behauptete und in einzelnen Fällen wahrscheinliche Beeinflussung dieser Qualifikation durch die von den religiösen Konfessionen »eingeübten« Lebensstile, dann die Beeinflussung industrieller Leistungsfähigkeit durch städtische Aufzucht oder Herkunft aus bestimmten ökonomischen Milieus, endlich die Art der Jugendbeschäftigung, speziell z.B. im hausindustriellen[86] Betriebe der Eltern, und andere derartige generelle Jugendeinflüsse, – zu denen vor allem auch der moderne Militärdienst zu zählen ist, – betrachtet man wohl mit Recht als in hohem Grade entscheidend für die Entwicklung derjenigen Fähigkeiten, welche auch für die industrielle Brauchbarkeit einer Bevölkerung von Belang sind. Sehr zweifelhaft ist freilich, ob, oder vielmehr: wie man die Art des Einwirkens solcher Umwelteinflüsse unter die Begriffe der »Vorübung« und »Mitübung« wird unterbringen können, wenn man die letzteren einigermaßen streng, im Sinne der Fachpsychologie, auffaßt. Denn es fehlt bisher durchaus an einigermaßen exakten Kenntnissen gerade darüber, welche Fähigkeiten eigentlich in ihrer »Vorgeübtheit« und »Mitgeübtheit« durch solche Einflüsse bestimmt und »bestimmbar« sind, und daher kommt man dabei über vage Allgemeinheiten in dieser Hinsicht vorerst kaum hinaus.
Die Untersuchungen, welche dies Thema wenigstens berühren, bewegen sich auf dem allerdings sehr wichtigen Gebiet der rein intellektuellen Leistungsfähigkeit. Es wurde (durch Bolton) experimentell einigermaßen wahrscheinlich (?) zu machen versucht, daß bestimmte Arten von motorischen Leistungen, speziell bestimmte Bewegungen, welche Schnelligkeit und Exaktheit des Reagierens erfordern (z.B. Einstechen einer Nadel in die Lücken eines sich bewegenden Bandes), bei Kindern verschiedener sozialer Provenienz mit dem Maß der Entwicklung des Intellektes in Korrelation stehen. Aus solchen und ähnlichen Beobachtungen wird dann gelegentlich z.B. etwa geschlossen: Die stärkere Anreicherung des psychophysischen Apparates mit motorischen Fähigkeiten führe zu einer entsprechend stärkeren Anreicherung des Geisteslebens mit »Bewegungsvorstellungen« und dadurch zu dessen Entwicklung (»Uebung«) in der Richtung lebhaften Reagierens überhaupt. Mit einiger Phantasie könnte man daraus die Psychologie der Völker auf bergigem und welligem Terrain im Gegensatz zu den Ebenenvölkern ableiten – und das bekannte »Körnchen Wahrheit« würde dabei vielleicht nicht fehlen; – aber wissenschaftlich wertvoll wäre nur, wie groß dieses »Körnchen« etwa sein könnte. In dem obigen Beispiel dürfte nun das Kausalverhältnis doch wohl so liegen: daß die Schulung des Intellektes, speziell: die Uebung der Aufmerksamkeit und Konzentrationsfähigkeit, für welche die Kinder der sozial höher stehenden Schichten so viel bessere Chancen haben, die Ursache jener höheren[87] Leistungsfähigkeit für exakte Bewegungen ist, nicht aber umgekehrt. Neben diesem »Schulungs«effekt der intellektuellen Anreicherung kommen aber in solchen Fällen sicherlich auch die Unterschiede der Ernährung und des hygienischen »Milieus« mit ihren Konsequenzen für die Leistungsfähigkeit in Betracht: die ungünstige Relation der Ermüdbarkeit gegenüber der Uebungsfähigkeit, welche bei den ärmeren Kindern beobachtet wurde, kommt sicherlich ebenso auf ihre Rechnung, wie ihre von Bolton, nach seiner Angabe, experimentell ermittelte Neigung zu Entwicklungsrückständen im 8. und 9. Lebensjahre, soweit sie wirklich eine allgemeine Erscheinung sein sollte. Wie die allgemeine Schulung gewisser intellektueller Fähigkeiten – es wäre noch zu untersuchen: welcher? –, so ist natürlich noch spezieller die jugendliche Beschäftigungsart ein, für die Entwicklung bestimmter Leistungsfähigkeiten, auch anderer, als des speziell benützten, »vorübender« Faktor, wie auch umgekehrt ein Moment, welches für die Nichtentwicklung und Verkümmerung bestimmter Qualitäten mitbestimmend werden kann. Zuweilen freilich fällt ihr Einfluß nicht unter dieses Schema (»Vorübung«, »Mitübung« einer Fähigkeit oder umgekehrt: Schwund infolge Nichtübung), sondern stellt einfach eine direkte Veränderung des physiologischen Habitus dar. Die Disqualifikation aller Männer, die in ihrer Jugend anhaltende Ackerarbeit getan haben, für die Verwendung an gewissen modernen Textilmaschinen z.B. ist wohl einfach direkte Folge der, infolge der Art und des Milieus der Feldarbeit, eintretenden Verdickung der Epidermis, welche ihrerseits die Spezialisierung und Anpassung der in Betracht kommenden Muskeln im Sinn der physiologischen Kräfteökonomie hindert. – In jedem Fall bleibt auch in allen obigen Fällen der Begriff der »Vorübung« ein ziemlich vager. Denn es fallen alle jene entscheidend wichtigen Einflüsse, welche die Jugendschicksale durch Entwicklung oder Nichtentwicklung der allgemeinen physischen und intellektuellen Fähigkeiten ausüben, eben nicht unter den spezifischen Begriff, von dem oben ausgegangen wurde, wo es sich fragte: welche speziellen andern Leistungen durch anhaltende Uebung in einer bestimmten speziellen Leistung mitgeübt werden bzw. ob ein solcher mitübender Einfluß überhaupt allgemein besteht und sich über seine Tragweite Aussagen machen lassen. – Darüber stehen eben Untersuchungen exakter Art vorerst m. W. nicht zur Verfügung. Denn die Wirkung der vorhergehenden[88] Leistung auf die nachfolgende beim Arbeitswechsel, von der später die Rede sein wird, fällt unter ganz andere Gesichtspunkte.
Buchempfehlung
Das kanonische Liederbuch der Chinesen entstand in seiner heutigen Textfassung in der Zeit zwischen dem 10. und dem 7. Jahrhundert v. Chr. Diese Ausgabe folgt der Übersetzung von Victor von Strauß.
298 Seiten, 15.80 Euro
Buchempfehlung
1799 schreibt Novalis seinen Heinrich von Ofterdingen und schafft mit der blauen Blume, nach der der Jüngling sich sehnt, das Symbol einer der wirkungsmächtigsten Epochen unseres Kulturkreises. Ricarda Huch wird dazu viel später bemerken: »Die blaue Blume ist aber das, was jeder sucht, ohne es selbst zu wissen, nenne man es nun Gott, Ewigkeit oder Liebe.« Diese und fünf weitere große Erzählungen der Frühromantik hat Michael Holzinger für diese Leseausgabe ausgewählt.
396 Seiten, 19.80 Euro