Anstand

[71] Anstand. (Redekunst)

Die Uebereinstimmung der Stellung, der Gebehrden und der Stimme des Redners in einer Rede von gemäßigtem Inhalt, mit dem Charakter der Rede. Der Anstand hat blos in dem gemäßigten Inhalt statt; denn wo dieser heftig ist, und starke Leidenschaften zum Grunde hat, daß der Vortrag feurig wird; da wird der vollkommensten Uebereinstimmung des Vortrages mit dem Inhalt niemals der Name des Anstandes gegeben. Er bleibet dem gesetzten Wesen und einer ruhigen Gemüthsfassung eigen.

In einer Rede von ernsthaftem Inhalt zeiget sich der Anstand in einer ernsthaften und ruhigen Stellung, in mäßigen Bewegungen, einer männlichen und etwas langsamen Stimme, und einer geraden Kopfstellung und etwas niedergezogenen Augenbrahmen. Ist der Inhalt vergnügt, aber von gemäßigter Freude; so bestehet der Anstand in einer mäßig muntern Stellung, in angenehmen und sanften Bewegungen des Körpers, in einem etwas mehr aufgerichteten Kopf, offenen und fröhlichen Bliken und einer angenehmen hellen Stimme. Ueberhaupt sind Bescheidenheit, Mäßigung der Stimme und aller Bewegungen, die wesentlichsten Stüke des Anstandes: hingegen hebt alles weit getriebene und heftige den Anstand auf. Eine stille Größe, die uns beständig in einer ruhigen Fassung läßt, und alle Aufmerksamkeit, ohne die geringste Zerstreuung, auf das Wesen der Sache heftet, machet die Vollkommenheit des Anstandes aus.

Daß der Anstand eine große Kraft auf die Gemüther der Zuhörer habe, ist eine bekannte Sache, aber sie wird nicht allemal in genugsame Ueberlegung gezogen. Der Mangel desselben vermindert die Würkung der Rede so sehr, daß er sie bey nahe ganz auf hebt.

Eines der vornehmsten Mittel, den Anstand im Reden zu erreichen, ist die Sicherheit des Redners. Wenn er seine Rede mit der besten Sorgfalt so ausgearbeitet hat, daß er sich ihrer versichern kann; so erwekt dieses ein Zutrauen auf seinen Vortrag: dieses aber überhebt ihn aller ängstlichen Bestrebung, [71] es läßt seine Seele in der Ruhe, die dem Anstand wesentlich ist. Wenn aber der Redner in die Stärke seiner Vorstellungen ein Mißtrauen setzet, alsdenn sucht er die ihr mangelnde Kraft durch den Vortrag zu ersetzen; er will mit Stimme und Gebehrden die Würkung erzwingen, und verlieret darüber den Anstand.

Der Redner bedenke allemal, daß die Hauptsache der Rede in der Materie liegt, und daß der Vortrag sie nur verstärkt, aber ihren Mangel niemals ersetzet. Deswegen vermeide er die unnütze Bestrebungen, seinen Worten durch den Vortrag eine Kraft zu geben, die ihnen mangelt. Der Pantomime, der kein ander Mittel hat, verständlich zu seyn, als die Gebehrden, muß darin die ganze Kraft der Vorstellung setzen; der Redner aber muß dadurch eine schon vorhandene Kraft blos unterstützen.

Große Fehler gegen den Anstand sind, eine übertriebene Stimme auf einer Seite, und eine ganz nachläßige auf der andern; ein zu schneller Vortrag schadet ihm mehr, als wenn er zu langsam ist. Am allermeisten aber schadet ihm die Unbescheidenheit des Redners, wenn er seine Zuhörer mit dreisten Bliken gleichsam mustert, oder zu seiner Bewundrung auffodert; wenn er einen zu dreisten oder zu kühnen Ton annimmt. Der Anstand will, daß der Redner seine Sache, und nicht seine Person sehen lasse; daß er bescheiden und gerade vor sich hin sehe, und wenn es nöthig ist, sich sanft und bescheiden gegen eine andre Seite hinwende. Doch muß er auch nicht zaghaft seyn, sondern ein mäßiges Zutrauen in seine Vorstellungen von sich bliken lassen. Er muß seine Zuhörer als eine Versammlung ansehen, welcher er Hochachtung schuldig ist, aber nicht als unerbittliche Richter, die ihn ungehört verurtheilen.

Ein angehender Redner, der dieses wol und ernstlich überlegt, wird bald zu einem gewissen Anstand in seinem Vortrage kommen. Aber die Vollkommenheit desselben ist vielleicht der schwerste Theil dessen, was zum Vortrage gehört.

Quelle:
Sulzer: Allgemeine Theorie der Schönen Künste, Band 1. Leipzig 1771, S. 71-72.
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