Anständig

[72] Anständig. (Schöne Künste)

Die Uebereinstimmung des Zufälligen in sittlichen Dingen, mit dem Wesentlichen derselben. Jede Uebereinstimmung des Zufälligen mit dem Wesentlichen ist eine nothwendige Eigenschaft der Werke des Geschmaks; sie vermehrt ihre Vollkommenheit und das Gegentheil hat allemal etwas unangenehmes: in sittlichen Gegenständen aber ist diese Uebereinstimmung um so viel nothwendiger, da das Gegentheil anstößig ist. Es ist darin, was das übliche (il costume) in den Gebräuchen und Moden ist. Die Fehler gegen das übliche streiten gegen die zufällige Wahrheit unsrer Vorstellungen; aber die Fehler gegen das Anständige beleidigen unsre Empfindungen, und sind darum um so viel wichtiger. Der Mahler, welcher bey der Einsetzung des Abendmahls unter der Tafel einen Hund und eine Katze vorstellt, die sich um einen Knochen zanken, erwekt zufällige Empfindungen, welche der Ernsthaftigkeit der Hauptsache ganz zu wider sind und sehr anstößig werden. Eben so anstößig ist es, wenn bey ernsthaften Handlungen, Personen von poßirlichem Wesen, Kinder die mit Hunden spielen, oder diese Thiere, welche die Scene verunreinigen, mit eingeführt werden; wie dieses vielfältig von unbedachtsamen Mahlern geschehen ist.

Ungeachtet dergleichen Fehler gegen das Anständige meistentheils von Mahlern begangen werden, so sind die andern Künste gar nicht frey davon. In der Baukunst sieht man ofte christliche Tempel mit Zierathen des heidnischen Götzendienstes, oder Häuser gemeiner Menschen mit Tropheen behangen; Gebäude von einem ernsthaften Charakter, mit Verziehrungen der ausschweifendsten und wollüstigsten Einbildungskraft. Auch große Dichter fallen bisweilen in diesen Fehler. Ein Beyspiel davon giebt uns Milton, der dem erhabensten Wesen eine Sprache in den Mund legt, die einem finstern Schultheologen besser anstünde, wie Pope sehr richtig angemerkt hat. Von dem unanständigen der geistlichen Redner, so wol in Sachen, als in Worten und dem ganzen Vortrag, bedürfen wir keiner Beyspiele, deren eine Menge jedem Menschen von Geschmak bekannt seyn müssen.

Das anständige wird nicht blos durch Vermeidung des unanständigen erhalten, ob gleich auch hier die Anmerkung des Horaz gilt:


Virtus est vitio caruisse.


Es muß sich durch Einmischung so vollkommen übereinstimmender Zufälligkeiten bemerken lassen, daß die Würkung desselben lebhaft empfunden wird.

[72] Dieses geschieht, wenn durch das zufällige die Würkung des wesentlichen verstärkt wird, welches die bloße Vermeidung des unanständigen niemals thut. Einen solchen Erfolg hat es, wenn es dem Künstler gelingt, durch das zufällige eine unerwartete Empfindung zu erweken, die mit der, worauf das wesentliche geht, übereinstimmt; denn dadurch bekommt unsre Aufmerksamkeit einen neuen Stoß, welcher uns das ganze lebhafter macht. Eine solche Würkung thut ein zufälliger Umstand in einem Gemählde von Raphael, welches die Anbetung des Heilandes von den Hirten vorstellt. Einer dieser geringen, dem Ansehen nach der einfältigste und schlechteste, welcher sich kaum getraut nahe heran zu treten, bezeuget seine Ehrfurcht dadurch, daß er seine Mütze abnimmt. Dieses ist vielleicht gegen das Uebliche; aber für diese Personen von der größten Anständigkeit, und thut die beste Würkung auf das Ganze.

So wissen Künstler von glüklichem Genie und gründlicher Beurtheilung dem wesentlichen zufällige Dinge an die Seite zu setzen, durch welche sie den Ausdruk verstärken, indem sie das höchst Anständige dabey beobachten.

Einige Neuere haben an den Alten manches unanständig gefunden, was keinem von den Alten anstößig gewesen. Das heftige Betragen einiger Helden der Ilias gegen andre, scheinet vielen unanständig, weil sie es nach unsern Sitten, nicht nach den Sitten jener Helden beurtheilen. Eben dieses Urtheil muß man von der höchst unanständig scheinenden Vermahnung des Nestors fällen, die wir in dem Artikel über die Alten angeführt haben. Es streitet keinesweges gegen die Art der Sitten, welche durch die ganze Ilias zum Grund aller Vorstellung gelegt worden. Das Betragen des Herkules in dem Trauerspiel des Euripides Alcestis, da er in dem Hause des Adrastus, zu der Zeit da dieser in der höchsten Trauer war, munter zecht, ist nicht ganz anständig, wie wol doch verschiedenes zu dessen Vertheidigung kann gesagt werden.

Nur Künstler von großem Verstand erreichen das Anständige überall; denn das bloße Genie ist dazu nicht hinreichend. Homer ist der größte Meister darin. Vermuthlich ist es deßwegen, daß Horaz ihn denjenigen nennt, qui nil molitur inepte. Denn in Wahrheit; man findet bey der unendlichen Menge der Gegenstände, die er beschreibt, nicht nur nichts unanständiges; sondern alles, bis auf die kleinsten Nebenumstände, ist immer so, wie es seyn mußte. Dieses gehört unstreitig mit zum höchsten der Kunst. Und da eine starke Beurtheilungskraft vielleicht seltener ist, als ein starkes Genie; so ist die völlige Beobachtung des Anständigen in Werken der Kunst seltener, als irgend eine andre gute Eigenschaft derselben.

Quelle:
Sulzer: Allgemeine Theorie der Schönen Künste, Band 1. Leipzig 1771, S. 72-73.
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