Entwurf

[329] Entwurf. (Schöne Künste)

Ein Werk das nur nach seinen Haupttheilen zusammengesetzt, in keinem einzeln Stük aber ausgearbeitet worden, so daß darin nichts, als die Vereinigung der Haupttheile ins Ganze zu sehen ist. Dem Entwurf muß die Erfindung des Ganzen und der dazu gehörigen Haupttheile vorhergehen. Er ist die erste sichtbare Darstellung des ganzen Werks, und wird zu dem Ende vorgenommen, daß man von der Vollkommenheit des Ganzen ein sicheres Urtheil fällen könne, ehe jeder einzele Theil ausgearbeitet wird.

In der Rede ist die Anordnung der Hauptsätze, wodurch der Endzwek der Rede erhalten wird, der Entwurf. Wenn der Redner diese Sätze ohne Ausführung und Beweise derselben, ohne die Uebergänge, welche die Verbindungen anzeigen, kurz hinschreibt; so hat er seine Rede entworfen. So entwirft der Mahler sein Gemählde, wenn er die Hauptgegenstände in der Ordnung oder Verbindung, wie er sie in der Phantasie sich vorstellt, anzeiget und obenhin zeichnet, ohne auf die Ausführung der Zeichnung dabey zu achten. Der Dichter entwirft ein Trauerspiel, wenn er die Hauptumstände der Handlung der Ordnung nach anmerkt.

Bey jedem Entwurf muß demnach die Hauptaufmerksamkeit beständig auf das Ganze gerichtet seyn, damit man sehe, wie jeder Haupttheil darauf abziele, da man bey der Ausarbeitung seine Gedanken hauptsächlich auf die Vollkommenheit der Theile richtet. Und hieraus erhellet die Nothwendigkeit, daß ein Künstler sein Werk entwerfe, eh' er es ausführt. Denn die Aufmerksamkeit, die er bey der Ausführung auf so viel einzele Dinge richtet, welche unmittelbar nur die besondern Theile angehen, würde nothwendig die, welche er dem Ganzen schuldig ist, schwächen.

Ohne den Entwurf wird der Künstler gar ofte bey der Ausführung einzeler Theile eine unnütze Arbeit vornehmen, indem es sich vielleicht finden wird, daß die schon sorgfältig ausgearbeiteten Sachen wieder müssen verworfen werden, weil sie zum Ganzen nicht passen. Der Entwurf dienet auch dazu, daß die gemachte Erfindung, die man leicht wieder verlieren könnte, dadurch festgehalten wird.

Aus allen diesen Ursachen ist dem Künstler zu rathen, daß er sich angewöhne, jedes Werk, nachdem er es in seinem Kopf erfunden und angeordnet hat, so flüchtig und geschwind zu entwerfen, als ihm möglich ist. Die geringste Zerstreuung der Aufmerksamkeit, die er auf das Ganze bey der Zusammensetzung gerichtet hat, kann ihm einige Theile in der Phantasie auslöschen, die er vielleicht hernach nicht wieder findet. Es geschiehet ofte, daß man, ohne Vorsatz, durch gegebene Gelegenheiten, oder zufällige Verbindungen gewisser Vorstellungen in glüklichen Augenbliken Dinge von großer Schönheit erfindet. Diese glüklichen Augenblike muß der Künstler nicht versäumen. Er muß sogleich das, was er erfunden hat, entwerfen, wenn er auch gleich nicht alsobald einen Gebrauch davon machen könnte; sonst läuft er Gefahr, daß das schöne Ganze, welches sich so glüklicher als zufälliger Weise in seiner Phantasie gebildet hat, plötzlich wieder verschwindet, oder daß sich wenigstens Haupttheile daraus verlieren, deren Mangel die ganze Erfindung zernichtet.

Dazu ist gut, daß ein Künstler sich eine schnelle Art zu entwerfen angewöhne, damit er, wenn seine Einbildungskraft glüklich erhitzt ist, sogleich [329] sich dies Feuer zu Nutze mache, eh' es auslöscht. Von diesen glüklichen Augenbliken sind in dem Art. Begeisterung verschiedene hieher gehörige Anmerkungen.

Damit aber der Künstler eine desto grössere Fertigkeit im schnellen Entwerfen erlange, so muß er sich fleißig darin üben. So oft ihm eine gute Erfindung einfällt, so entwerfe er dieselbe, wenn er gleich sich nicht vorgesetzt hat, das Werk auszuführen, nur damit er sich auf künftige Fälle übe.

Dieses thun alle großen Meister, und daher kommen diese häufigen, blos flüchtig gezeichneten Entwürfe der besten Mahler, die man in den Cabinetten der Liebhaber findet, und die niemals in würklich ausgeführten Gemählden angetroffen werden. Dergleichen Entwürfe, wenn sie von großen Meistern sind, werden ofte höher geschätzt als ausgeführte Arbeiten, weil das ganze Feuer der Einbildungskraft darin anzutreffen ist, das oft in der Ausführung etwas geschwächt worden. Der Entwurf ist das Werk des Genies, die Ausarbeitung aber ist vornehmlich das Werk der Kunst und des Geschmaks.

Quelle:
Sulzer: Allgemeine Theorie der Schönen Künste, Band 1. Leipzig 1771, S. 329-330.
Lizenz:
Faksimiles:
329 | 330
Kategorien: