Hymne

[552] Hymne. (Dichtkunst)

Die Griechen nannten die Lobgesänge auf die Götter, welche gemeiniglich bey feyerlichen Opfern abgesungen und durch den Ton der Flöten, oder der Leyer unterstützt wurden, Hymnos, und man ist schon gewohnt, dieses Wort auch im Deutschen zu brauchen. Die Hymne macht eine besondere Gattung der Ode. Der darin herrschende Affekt ist Andacht, und anbethende Bewundrung; der Inhalt eine in diesem Affekt vorgetragene Beschreibung der Eigenschaften und Werke des göttlichen Wesens; der Ton feyerlich und enthusiastisch. Die Hymnen der Griechen scheinen meistentheils die heroische Versart gehabt zu haben, welche sich vorzüglich zu dem feyerlich erzählenden Ton, in dem sie abgefaßt sind, schiket. So wol die, welche dem Homer zugeschrieben werden, als die von Callimachus, sind von dieser Art; doch hatten sie vermuthlich auch solche, die in lyrischen Strofen gesetzt waren1, von welcher Art das Carmen seculare des Horaz ist. Die prächtigsten und erhabensten Hymnen sind die, welche wir in der Sammlung der Psalmen Davids antreffen. Unter unsern heutigen gottesdienstlichen Gesängen, oder geistlichen Liedern, kommen auch einige vor, die man zu den Hymnen rechnen kann. Woher es aber kommt, daß wir bey den hohen Begriffen von den Gegenständen unsrer Anbethung, in den Kirchengesängen so gar wenig Hymnen haben, die dem gegenwärtigen Zustand der Erkenntnis, des Geschmaks und der Dichtkunst angemessen sind, verdiente eine ernstliche Ueberlegung. Sollte die Hymne, die den höchsten Gegenstand unsrer Verehrung besingt, auch das schweerste Werk der Dichtkunst seyn? Unsre Vorstellungskraft kann mit keinem höhern, mit keinem einnehmendern Gegenstand angefüllt seyn, als dem, den die Hymne besingt; das Herz kann von keinen erquikendern Rührungen getroffen werden, als denen, die durch gottesdienstliche Gegenstände erwekt werden; die Seele kann keinen höhern Schwung bekommen, als der ist, den die Hymne ihr geben könnte. Aber es ist höchst schweer von einem so hohen Gegenstand mit Einfalt, und zugleich mit der höchsten Würde zu sprechen; das Höchste, dessen unsre Vorstellungskraft und unsre Empfindung fähig ist, popular auszudrüken. Dieses aber wird zu den Hymnen erfodert. Vielleicht denkt auch der große Haufe der Diener der Religion zu niedrig über die Gegenstände unsrer gottesdienstlichen Verehrung, als daß er eine Verbesserung der festlichen Lieder suchen sollte. So viel ist gewiß und in die Augen fallend, daß die wahre Feyerlichkeit und Andacht bey unsern meisten heiligen Festen fehlet. Es ist zu viel kleines und bisweilen gar niedriges da, wo alles groß und feyerlich seyn sollte. Würden bey feyerlichen Gelegenheiten gottesdienstliche Versammlungen mit der gehörigen Würde veranstalltet, [552] dabey nur Hymnen von wahrer Kirchenmusik begleitet, abgesungen würden; so müßten sie nothwendig die rührendsten und erwünschtesten Feyerlichkeiten seyn, die Menschen von edlen Empfindungen suchen könnten.

1In ipsis quoque hymnis Deorum per stropham et antistropham metra canoris versibus adhibebantur. Macrob. in somn. Scip. L. II. c. 3.
Quelle:
Sulzer: Allgemeine Theorie der Schönen Künste, Band 1. Leipzig 1771, S. 552-553.
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