Moral

[776] Moral. (Schöne Künste)

Eine Vorstellung aus der Classe der sittlichen Wahrheiten, oder Lehren, in so fern sie durch ein Werk der Kunst, als durch ein Bild anschauend erkennt wird. So ist die Lehre der äsopischen Fabel die Moral derselben; die Fabel selbst das Bild wodurch sie anschauend erkennt wird. So hat auch die sittliche Allegorie und jedes sittliche Sinnbild seine Moral. Es hat Kunstrichter gegeben, welche die Epopee als ein sittliches Bild ansehen, das seine Moral hat; der Pater Le Boßü hat behauptet, die Ilias sey blos ein Bild an dem verbündete Fürsten lernen sollen, wie nöthig ihnen die Eintracht ist. Mit eben so viel, oder noch mehr Recht hätte er sagen können, die Moral dieses Gedichts sey der Saz: Quidquid delirant reges, plectuntur Achivi: und wenn die Epopee auf eine Moral abziehlen sollte so müßte die Tragödie derselben Regel unterworfen seyn. Das hieße mit gewaltigem Aufwand verrichten, was durch unendlich einfachere Mittel zu bewerkstelligen wäre. Wir haben schon anderswo1 angemerkt, daß nicht einmal jede äsopische Fabel eine Moral enthalte.

1S. Fabel äsop.
Quelle:
Sulzer: Allgemeine Theorie der Schönen Künste, Band 2. Leipzig 1774, S. 776.
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