Singstimme

[1078] Singstimme. (Musik)

So benennt man in der Vocalmusik diejenige, oder diejenigen Stimmen1, die gesungen werden. Durch die Singstimme wird die Instrumental- von der Vocalmusik unterschieden.

Die menschliche Stimme hat vor allen Instrumenten in Ansehung ihres wahrhaftig leidenschaftlichen Tones, der so mannichfaltig ist, als es mannichfaltige Leidenschaften giebt; und fürnemlich wegen der Bequemlichkeit mit dem Gesang zugleich Worte zu verbinden, die den Gegenstand der Leidenschaft schildern, einen so großen Vorzug, daß die Singstimme in allen Tonstüken, wo sie vorkömmt, mit Recht die Hauptstimme ist, der die Instrumente nur zur Begleitung dienen. Wer daher eine vollkommen gute Singstimme sezen kann, kann das Vornehmste in der Musik. So leicht dieses aber zu seyn scheinet, wenn man eine Graunische Singstimme ansieht, so viel Schulen müssen doch vorher durchgegangen werden, ehe man die Kunst so in seiner Gewalt hat, daß man den Zwang der Worte nicht mehr fühlet, und sie in einem fließenden leichten Gesang auszudrüken im Stand ist, der dieselbe rhythmische Abtheilung, und denselben Ton und Charakter habe, die in den Worten liegen. Wer nicht selbst singen kann, und von Natur einen fließenden schönen Gesang und feines Gefühl hat, ob er gleich Concerte, Fugen und Contrapunkte zu machen im Stande seyn würde, der ist zur Singcomposition untüchtig. Seine Singstimme wird eher das Ansehen eines Solfeggio zur Uebung, als eines leidenschaftlichen Gesanges haben, und seine Melodie entweder steif oder gemein seyn. Zur Singstimme taugt nur fließender, ausdruksvoller, mit den Worten übereinstimmender Gesang; dies aber ist nicht Jedermanns Sache. Wer darin glüklich seyn will, muß außer den Künsten des Sazes das Singen selbst wie Graun und Hasse völlig in seiner Gewalt haben. Außer dem aber wird eine gute Kenntnis der Sprach, der Prosodie und der metrischen Einrichtung des Textes erfodert. Denn es ist ungemein anstößig, wenn[1078] auch nur hier und da in einzeln Stellen die metrische und rhythmische Beschaffenheit des Gesanges der, die im Texte liegt, wiederspricht. Im folgenden Artikel wird dieses ausführlicher gezeiget.

1S. Stimme.
Quelle:
Sulzer: Allgemeine Theorie der Schönen Künste, Band 2. Leipzig 1774, S. 1078-1079.
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