Venedische Schule

[1205] Venedische Schule.

Ist von den Schulen der Mahlerey diejenige, die sich durch einen großen Geschmak im Colorit hervorgethan hat. Die Lebhaftigkeit sowol, als die Wahrheit der Farben, die vollkommene Austheilung des Lichts und Schattens, die Kühnheit des Pensels, der wahre Ton der Natur, sind vorzügliche Eigenschaften dieser Schule, die aber weniger Größe und weniger Richtigkeit der Zeichnung hat, als die römische oder die lombardische Schulen. Eine kurze Geschichte der Mahlerkunst in Venedig findet man in dem Werk, welches alle in und um Venedig befindliche vorzügliche Gemählde beschreibt.1 Es dienet auch denen, die alle in öffentlichen Gebäuden befindliche Gemählde sehen wollen, zum Wegweiser.

Titian ist ohne Wiederrede der erste Meister dieser Schule, und der größte Colorist, der vielleicht jemals gewesen. Ob man ihm gleich in verschiedenen Stüken den Rubens, und den Van Dyk an die Seite sezet, so muß man doch gestehen, daß das Bezaubernde in seinen Farben mehr Wahrheit hat, als das Colorit des Rubens, und mehr Bewundrung erwekt, als das von Van Dyk. Man findet in allen großen Gallerien etwas von ihm, aber um ihn recht zu kennen, muß man die Gemählde sehen, die in Venedig von ihm sind. Tintoret ein andrer großer Mahler dieser Schule, kann nur in Venedig gekannt werden. Sein großes Talent war im Grossen mit vollkommener Kühnheit zu mahlen.

Paul von Verona eines der größten Genien, wegen vollkommen verständiger Anordnung der Gemählde, sowol in Absicht auf die geschikte Verbindung aller Theile, als auf die Austheilung des Lichts. Wahrheit und Stärke sind überall in seinem Colorit. Man wirft ihm vor, daß alle seine starke Schatten etwas Violettes haben, aber seine Halbschatten sind desto fürtreflicher. Die Leichtigkeit seines Pensels geht über alles, und die Pracht in Kleidung seiner Personen giebt seinen Gemählden einen Reichthum, der ihnen eigen ist. Aber das Große in den Charaktern findet man nicht bey ihm; er hat allezeit sich genau an die Natur gebunden, und kein Mahler hat das Uebliche so sehr aus den Augen gesezt, als er.

Von den neuern venedischen Mahlern sind vorzüglich zu merken. Tiepolo, ein Mann von schönem Genie, der ein sehr angenehmes Colorit mit einer großen Leichtigkeit in seiner Arbeit verbindet; Pellegrini, Piazetta, Lazarini, Molinari, Celesti, Bombelli, Liberi.

1Deserizione di tutte le publiche pitture della citta di Venetia ed Isole circonvicine Venet. 1733. @
Quelle:
Sulzer: Allgemeine Theorie der Schönen Künste, Band 2. Leipzig 1774, S. 1205.
Lizenz:
Faksimiles:
Kategorien: