Veränderungen. Variationen

[1205] Veränderungen. Variationen. (Musik)

Man kann zu einer Folge von Harmonien, oder Accorden mehrere Melodien sezen, die alle nach den Regeln des harmonischen Sazes richtig sind. Wenn also eine Melodie von Sängern, oder Spiehlern wiederholt wird, so können sie das zweytemal vieles ganz anders, als das erstemal singen oder spiehlen, ohne die Regeln des Sazes zu verlezen; geübte Tonsezer aber verfertigen bisweilen über einerley Harmonien, mehrere Melodien, die mehr oder weniger den Charakter der ersten beybehalten: für beyde Fälle braucht man das Wort Variation, das wir durch Veränderungen ausdrüken.

Die ältern Tonsezer pflegten insgemein ihre Melodien in einfachen, oder etwas langen Noten zu sezen, und also nur das Wesentliche auszudrüken. Dieses gab denn besonders in Stüken von langsamer Bewegung, geschikten Spiehlern und Sängern Gelegenheit, diese einfachen Töne mit Geschmak und Empfindung etwas zu verziehren. Weil aber viel Sänger und Spiehler dieses nicht ohne Verlezung der Harmonie, oder des Ausdruks zu thun vermochten; so gewöhnten sich die Sezer nach und nach an, die schiklichsten Verziehrungen, schon als wesentlich zur Melodie gehörige Verschönerungen, selbst zu sezen. Nun werden diese Verziehrungen von üppigen Sängern wieder mit neuen Verziehrungen, die bey der Wiederholung noch vielfältig verändert werden, verbrämt. Dadurch entsteht denn der, zwar eine sehr fertige und bis zur Verwundrung künstliche Kehle anzeigende, aber aller wahren Kraft und alles Nachdruks gänzlich beraubte Gesang, der izt beynahe überall gesucht wird. [1206] So wie die meisten Melodien der so genannten galanten Musik gegenwärtig von Tonsezern ausgearbeitet und verziehrt, geschrieben werden, sollten sie, wenigstens das erstemal, ohne weitere Zusäze gesungen, oder gespiehlt werden. Bey der Wiederholung stünde dem geschikten Sänger noch immer frey, schikliche Veränderungen anzubringen. Es ist aber kaum nöthig zu erinnern, daß dieses nur solche Sänger und Spiehler thun können, die wahre Kenntnis der Harmonie und des melodischen Ausdruks haben. Da diese etwas selten sind, so höret man insgemein in Operen Veränderungen, wodurch Melodie und Harmonie nicht blos verdunkelt, sondern völlig verdorben werden. Es giebt so gar Sänger, die gewisse Veränderungen, die sie von ihren Sangmeistern gelernt haben, bey jeder Gelegenheit, selbst da, wo sie sich am wenigsten schiken, wieder anbringen. Dieses ist ein Mißbrauch, dem sich die Capellmeister aus vollen Kräften wiedersezen sollten; weil in der That der theatralische Gesang dadurch völlig verdorben wird. Die meisten Arien werden izt so gesungen, daß sie den reichen gothischen Gebäuden der mittlern Zeiten gleichen, an denen das Aug nichts glattes sieht, sondern überall durch geschnizte Zierrathen, die alle Theile wie im Spinngeweb überziehen, gleichsam gefangen wird.

Die Sangmeister sollten es sich zur Pflicht machen, ihre Schüler zu überzeugen, daß das wahre Verdienst eines Sängers in dem richtigen, jeder Empfindung angemessenen Vortrag der vom Tonsezer vorgeschriebenen Töne bestehe, und daß sie bey verständigen Zuhörern, dadurch mehr Ruhm erwerben, als durch die künstlichsten Veränderungen.

In Liedern kann es nothwendig werden, Veränderungen anzubringen; denn es trift sich ofte, daß die auf einerley Töne fallenden Worte in einer Strophe etwas mehr Nachdruk und einen empfindsamern Ausdruk erfodern, als in einer andern. Alsdenn kann ein Sänger durch schikliche Veränderungen die Melodie, die der Tonsezer für alle Strophen gleich gemacht, für jede besonders nach Erfodernis abändern.

Instrumentisten schweiffen insgemein in Veränderungen eben so aus, wie die Sänger. Mancher glaubt, die Kunst des Spiehlens bestehe blos darin, daß zehenmal mehr Töne gespiehlt werden, als auf dem Papier ausgedrukt sind, oder daß er die Arbeit des Tonsezers als einen Text anzusehen habe, über dem er eine Zeitlang spiehlen soll. Wir empfehlen den Spiehlern das, was der fürtrefliche Bach in seinem Werke von der wahren Art das Clavier zu spiehlen über die Veränderungen angemerkt hat, wol zu überlegen.1

Kleine Melodien für Instrumente, als Sarabanden, Couranten und andre Tanzstüke, sind zu kurz, um ohne Veränderung etlichemal hintereinander gespiehlt zu werden. Daher haben verschiedene berühmte Tonsezer dergleichen Stüke mit mancherley veränderten Melodien gesezt, die immer auf dieselbe Folgen von Harmonien passen. Die besten Veränderungen in dieser Art, die man als Muster anpreisen kann, sind die von Couperin, und von dem grossen J. Seb. Bach. Eine noch höhere Gattung von ganz veränderten Melodien, sind die Sonaten mit veränderten Reprisen. Hr. C. P. Em. Bach, hat deren sechs für Clavier herausgegeben, die er der Prinzeßin Amalia von Preußen dedicirt hat. Der Vorbericht zu diesem Werk enthält einige nüzliche Anmerkungen über die Kunst zu verändern.

Die höchste Gattung von Veränderungen ist unstreitig die, da bey jeder Wiederholung andere auf den doppelten Contrapunkt beruhende Nachahmungen und Canons vorkommen. Von J. Seb. Bach hat man in dieser Art eine Arie für das Clavier mit dreyßig solcher Veränderungen; und eben dergleichen über das Lied, Vom Himmel hoch, da komm ich her, die man für das Höchste der Kunst ansehen kann. Bewundrungswürdig ist dabey dieses, daß bey jeder Veränderung die erstaunliche Kunst der harmonischen Versezungen fast durchgängig mit einem schönen und fließenden Gesang verbunden ist. Von eben diesem großen Mann hat man auch eine gedrukte Fuge aus dem D mol, die einige zwanzigmal verändert ist, wobey alle Arten des einfachen, zwey- drey- und vierfachen Contrapunkts in gerader und verkehrter Bewegung, auch mancherley Arten des Canons vorkommen. In dieser Art verdienen auch die Fugen des französischen Tonsezers d'Anglebert, ingleichen verschiedene Arbeiten eines Frobergers, Johann Kriegers2, deßgleichen aus den fürtreflichen 12 Violinsolo, [1207] und die folie d'Espagne des berühmten Corelli, als Muster angeführt zu werden.

Wir wollen hier nur noch anmerken, daß bey Symphonien und Ouverturen, selbst die ersten Violinisten sich schlechterdings aller Veränderungen enthalten, und sich nicht einmal durchgehende Noten zu Ausfüllung einer Terz, erlauben sollen; weil dadurch in dergleichen Stüken gar leicht Quinten und Octaven entstehen. Begleitende Instrumentisten, besonders die Ripienisten, sollen sich aller Veränderungen gänzlich enthalten.

1In dem Cap. vom Vortrage. §. 31.
2 Dieser war Musikdirektor in Zittau. Die Stüke von denen hier die Red ist, sind im Jahr 1699 unter dem Titel: anmuthige Clavierübungen; bestehend in unterschiedenen Ricercarien, Präludien, Fugen etc. herausgekommen.
Quelle:
Sulzer: Allgemeine Theorie der Schönen Künste, Band 2. Leipzig 1774, S. 1205-1208.
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