Ouvertüre

[873] Ouvertüre. (Musik)

Ein Tonstük, welches zum Eingang, zur Eröffnung eines großen Concerts, eines Schauspiehls, oder einer feyerlichen Aufführung der Musik dienet. Dieses, und daß diese Art in Frankreich aufgekommen sey, zeiget der Name der Sach hinlänglich an, der im Französischen eine Eröffnung, oder eine Einleitung bedeutet. Lülli verfertigte solche Stüke um vor seinen Opern gespiehlt zu werden, und nachher wurde dieses Schauspiehl meistentheils mit einer Ouvertüre eröffnet, bis die Symphonien aufkamen, die sie aus der Mode brachten. Doch nennet man in Frankreich noch izt jedes Vorspiehl vor der Oper, eine Ouvertüre, wenn es gleich gar nichts mehr von der ehemaligen Art dieser Stüke hat.

Weil diese Stüke Einleitungen zur Oper waren, so suchte man natürlicher Weise ihnen viel Pracht zu geben, Mannigfaltigkeit der Stimmen, und beynahe das Aeußerste, was die Kunst durch die Instrumentalmusik vermag, dabey anzubringen. Daher wird noch izt die Verfertigung einer guten Ouvertüre nur für das Werk eines geübten Meisters gehalten.

Da sie nichts anders als eine Einleitung ist, die den Zuhörer für die Musik überhaupt einnehmen soll, so hat sie keinen nothwendigen und beständigen Charakter. Nur könnte davon überhaupt verlangt werden, daß er den Charakter der Hauptmusik, der die Ouvertüre zur Einleitung dienet, angemessen, folglich anders zu Kirchenstüken, als zu Opern, und zur hohen tragischen Oper, anders, als zum angenehmen Pastoral seyn sollte.

Zuerst erscheinet insgemein ein Stük von ernsthaftem aber feurigem Charakter in 4/4 Takt. Die Bewegung hat etwas stolzes, die Schritte sind langsam, aber mit viel kleinen Noten ausgeziehret, die feurig vorgetragen, und mit gehöriger Ueberlegung müssen gewählt werden, damit sie in andern Stimmen in strengern, oder freyeren Nachahmungen wiederholt werden können. Denn dergleichen Nachahmungen haben alle gute Meister in Ouvertüren immer angebracht; mit mehr oder weniger Kunst, nachdem der Anlas zur Ouvertüre wichtig war. Die Hauptnoten sind meistentheils punktirt, und im Vortrag werden die Punkte über ihre Geltung ausgehalten. Nach diesen Hauptnoten folgen mehr oder weniger kleinere, die in der äußersten Geschwindigkeit und so viel möglich, abgestoßen müssen gespiehlt werden, welches freylich, wenn 10, 12 oder mehr Noten auf einen Vierteltakt kommen, nicht immer angeht.

Zuweilen kommen mitten unter dem feuerigsten Strohm der Ouvertüre etliche Takte vor, die schmeichelnd [873] und piano gesezt sind, welches sehr überraschend ist, und wodurch hernach die Folge sich wieder desto lebhafter ausnihmt. Gar ofte wird dieser Theil in einzelen Stellen fugirt. Zwar nicht wie die förmliche Fuge, daß nothwendig alle Stimmen nach einander eintreten; dieses geschieht wol bisweilen in sehr kurzen Säzen, von einem, oder einen halben Takt; sondern so, daß der Hauptsaz, oder das Thema bald in der Hauptstimme, bald im Baße vorkommt. Dieser erste Theil schließt, wenn er in der großen Tonart ist, insgemein in die Dominante; in der kleinen Tonart geschieht der Schluß auch wol in die Mediante.

Hierauf folget eine wolgearbeitete Fuge, welche in Bewegung und Charakter allerley Arten von Balletten und Tanzmelodien ähnlich seyn kann. Nach der Fuge kommt zuweilen noch ein Anhang von etlichen Takten, der wieder in der Taktart des ersten Theils ist, womit die ganze Ouvertüre, wenn sie zu einer Oper, oder andern großen Gelegenheit dienen soll, sich endiget. Wenn man aber die Ouvertüre für Concerte macht, wo sie unter andern Gattungen der Instrumental oder Singstüke vorkommt, folgen nach der Fuge die meisten Arten der Tanzmelodien. Dergleichen Ouvertüren sind zuerst von Lülli als Einleitungen in die Ballette gemacht worden. Daher wurden hernach solche Tanzmelodien, ohne Rüksicht auf das Tanzen, folglich auch weit länger als die gewöhnlichen in diese Art der Ouvertüre eingeführet.

Die Ouvertüren sind in den neuern Zeiten selten geworden; weil sowol die Fuge, als die verschiedenen Tanzmelodien, mehr Wissenschaft, Kenntnis und Geschmak erfodern, als der gemeine Haufe der Tonsezer besizet. Hiedurch aber ist der gute Vortrag, der jedes Stük vor dem andern unterscheiden sollte, und zu dessen Uebung die Ouvertüren sehr vortheilhaft waren, an manchem Orte sehr gefallen.

Im vorigen Jahrhundert hat man die besten Ouvertüren aus Frankreich erhalten, wo sie wie gesagt worden, zuerst aufgekommen sind. Nachher wurden sie auch anderwerts nachgeahmt, besonders in Deutschland, wo außer dem großen Bach, noch andre seines Namens, ingleichem Händel, Fasch in Zerbst und unsre beyden Graun, besonders aber Teleman sich hervorgethan haben.

Quelle:
Sulzer: Allgemeine Theorie der Schönen Künste, Band 2. Leipzig 1774, S. 873-874.
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