Vierstimmig

[1239] Vierstimmig. (Musik)

Der Saz, der aus vier verschiedenen Stimmen besteht. Weil der vollständige consonirende Dreyklang, außer dem Grundtone noch drey andere Töne in sich begreift1, so gründet sich die Kunst des vierstimmigen Sazes in so fern er von andern Arten des Sazes verschieden ist, darauf, daß durchaus die volle Harmonie genommen, und die verschiedenen Töne derselben so in die vier Stimmen vertheilt werden, daß jede einen reinen und fließenden Gesang habe.

Doch geht es nicht allemal an, die Töne der vier Stimmen aus der vollständigen Harmonie zu nehmen; man muß bald wegen der Auflösung der Dissonanzen, bald des leichtern und schönen Gesanges halber, bisweilen ein Intervall daraus weglassen, und dafür ein anderes verdoppeln. Selbst bey dem Septimenaccord, der einen Ton mehr hat, als der Dreyklang, ist es bisweilen nothwendig, daß die Quinte weggelassen, und dagegen die Octave des Basses verdoppelt werde.

Wo bey dem vierstimmigen Saze Verdoppelungen nothwendig werden, muß man sich nach den Regeln richten, die im vorhergehenden Artikel hierüber gegeben worden.2

Uebrigens ist anzumerken, daß zur Fertigkeit der Kunst des reinen Sazes, überhaupt eine fleißige Uebung in vierstimmigen Sachen, das nothwendigste sey. Wer in dem vierstimmigen Saz so geübet ist, daß er alle Stimmen nicht nur rein, sondern zugleich leicht und singbar zu machen weiß, hat die meisten Schwierigkeiten der Sezkunst überstiegen.

Die wahre Vollkommenheit eines vier und mehrstimmigen Tonstüks bestehet darin, daß würklich jede Stimme einen schon an sich wolklingenden, leichten und von den andern würklich verschiedenen Gesang enthalte. Denn wo eine Stimme mehr die Art einer bloßen Ripienstimme hat, oder öfters mit einer andern im Unisonus, oder in der Octave fortgeht, da wird der Gesang mehr drey, als vierstimmig. Diese Vollkommenheit trift man in den Werken der Neuern weit seltener an, als bey den ältern Tonsezern, die strenger auf den guten Gesang jeder der vier Stimmen hielten, als man gegenwärtig zu thun pflegt. Die besten Muster, die man den angehenden Tonsezer empfehlen kann, sind unstreitig die Kirchenlieder des unnachahmlichen J. S. Bachs.

1S. Dreyklang.
2S. auch Verwechslung S. 1234.
Quelle:
Sulzer: Allgemeine Theorie der Schönen Künste, Band 2. Leipzig 1774, S. 1239.
Lizenz:
Faksimiles:
Kategorien:
Ähnliche Einträge in anderen Lexika