Sibyllen

[411] Sibyllen, begeisterte Frauen, welche nach der Meinung der Griechen und Römer den Rathschluss der Götter offenbarten. Man hielt sie für gottgeweihete Jungfrauen, und nicht selten errichtete man ihnen Altäre. Die erste griechische S. war durch die Musen selbst erzogen, und ihre Sprüche waren in Hexametern verfasst, was vielleicht von den Priestern geschah, welche auch später Sammlungen solcher Sprüche verkauften. (Sibyllinische Bücher.) Von solchen ward eine hochberühmte Sammlung, neun Bücher an der Zahl, wie man sagt durch die cumäische S., dem römischen Könige Tarquinius Priscus zum Kauf angetragen. Der König fand die geforderte Summe viel zu hoch, da warf sie drei der Bücher in das Feuer und forderte für die sechs übrigen denselben Preis; auf abermalige Weigerung warf sie wieder drei Bücher in das Feuer, und verlangte für das letzte Drittel noch immer den ersten hohen Preis. Verwundert über das seltsame Beginnen, berieth sich Tarquinius mit den Grossen seines Reiches, und darauf wurden die drei übrigen Bücher gekauft; eine eigene Priesterschaft, die Quindecimviri sacris faciundis, erhielt die Aufsicht darüber, und sie wurden ein bleibendes Orakel für den Staat, indem sie bei jeder wichtigen politischen Gelegenheit zu Rathe gezogen wurden, und so die Mächtigeren, die Senatoren und Priester, zu alleinigen Lenkern der Begebenheiten machten, weil ihnen die Deutung der für jeden gegebenen Fall aufgeschlagenen Sprüche überlassen blieb. Die als ächt anerkannten sibyllinischen Bücher befanden sich auf dem Capitol, im Tempel des Jupiter, verschlossen in einen steinernen Kasten, und der Erde anvertraut, um sie vor Feuer zu schützen; aber sie gingen dennoch im marsischen Kriege beim Brande des Tempels zu Grunde, und wurden nur mit vieler Mühe aus einzelnen Sprüchen, welche sich im Munde des Volks befanden, und aus Privatsammlungen wieder so weit zusammengesetzt, dass man tausend Verse erhielt, die als ächt betrachtet und in Staatsangelegenheiten so behandelt wurden, wie die früheren. Kaiser Augustus veranstaltete eine genauere Durchsicht derselben, und liess nach der[411] Prüfung durch die Quindecimviri eine Abschrift machen, welche in einer goldenen Kapsel unter dem Fussgestell des palatinischen Apollo vergraben wurde. Noch im fünften Jahrhundert christlicher Zeitrechnung waren sie vorhanden und in hohem Ansehen, bis Stilicho aus Hass gegen das Römerreich, für deren Palladium er sie ansah, dieselben vernichtete. - Was die Personen betrifft, welche man S. nannte, so gaben die alten Schriftsteller bald vier, bald zehn an; die ersteren sind: die ägyptische, die eryträische, die samische und die sardische; die andere Reihe ist folgende: die chaldäische, Sabba oder Sambethe genannt, aus Babylon, schon zu Noahs Zeiten lebend und vermählt mit einem von dessen Söhnen; sie prophezeihete den babylonischen Thurmbau, den Eroberungszug Alexanders nach Indien, Christi Erscheinung etc.; die libysche, Jupiters und der Lamia Tochter, die eigentlich älteste S., von welcher die anderen alle den Namen entlehnten; die delphische, im Tempel des Apollo geboren, lebte lange vor dem trojanischen Kriege und prophezeite diesen; die italische, auch cimmerische, aus Cimmerium bei Cumä, kurz nach der Eroberung von Troja lebend; die erythräische, vor Troja's Fall; die samische, zu Numa's Zeiten; die cumäische aus Cumä, häufig mit der cimmerischen verwechselt; sie schrieb ihre Weissagungen auf Blätter, welche sie am Morgen ordnete, aber dann den Winden übergab; sie soll tausend Jahre alt geworden sein; bei ihr erholte sich Aeneas Rathes, als er in Italien landete; die hellespontische, in der Mitte des sechsten Jahrhunderts vor Chr. blühend, und in einem Tempel des Apollo zu Gergithium begraben; die phrygische, und endlich die tiburtinische, Albunea genannt. Sie alle werden mehr oder weniger durch einander geworfen, und ihre Aussprüche sind vollends nicht zu entwirren.

Quelle:
Vollmer, Wilhelm: Wörterbuch der Mythologie. Stuttgart 1874, S. 411-412.
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