Sibyllen

[953] Sibyllen (Sibyllae, v. gr., Gottesratherinnen, welche den Willen, den Rath der Götter enthüllten), begeisterte Weiber des frühen Alterthums, deren es mehre gab u. welche man nach den Orten, wo sie bes. prophezeiht hatten, unterschied; zur Zeit Varros nannte man 10 S. Nach Eustathios war die erste S. eine Tochter des Dardanos u. der Neso, nach Plutarch aber hieß die erste Libyssa, war eine Tochter des Zeus u. der Lamia u. weissagte auf einem Felsen bei Delphi; die berühmteste war Herophile, die Erythräische S., sie war aus Erythrä in Lydien, stand in Verwandtschaft mit Apollo u. lebte vor dem Trojanischen Kriege. Sie ist identisch mit den Trojanischen (Sardianischen, Samischen, Delphischen u. Kymäischen od. Cumanischen S.) u. führte die Namen Amalthea, Deïphobe, Demo, Demophile. Von Troas auswandernd kam sie nach Klaros, Samos, Delos, Delphi, wo sie überall weissagte, u. kehrte dann in den Hain des Apollo Smintheus in Troas zurück. Aus ihrer Vaterstadt Erythrä od. aus Kyme soll sie nach Cumä in Italien gekommen sein u. daselbst in einer Höhle gelebt u. geweissagt haben; als Äneas zu ihr kam, um ein Orakel vor seinem Hinabstieg in die Unterwelt von ihr zu erhalten, war sie schon 700 Jahre alt u. hatte deren noch 300 zu leben. Ihre Weissagungen schrieb sie auf Baumblätter, legte sie am Morgen in Ordnung u. übergab sie dann den Winden. Die Chaldäische od. Babylonische (Ägyptische, Jüdische) S. hieß Sabba od. Sambethe, sie soll aus Babylon gewesen sein, nach Ein. schon zu Noahs Zeiten gelebt, ja sogar einen seiner Söhne geheirathet haben u. bei der Sündfluth in der Arche gewesen sein. Sie prophezeihte den Thurmbau, Alexanders Zug u. Glück in Asien u. auch Christi Erscheinen. Die S. sprachen ihre Weissagungen in begeistertem Zustand aus, ein strenger Geist wehte in ihren Sprüchen, mit rasendem Munde, sagt Heraklitos, verkündeten sie freudlose, ungezierte u. ungesalbte Reden, aber des Gottes voll. Ja sogar nach ihrem Tode meinten sie fortzuleben u. die Zukunft anzuzeigen theils mit ihrem Geist, welcher mit der Luft vermischt u. in derselben künftige Ereignisse andeuten werde, theils mit ihrem Körper, welcher nach seiner Verwesung die weissagenden Kräfte den Pflanzen u. Kräutern ertheilen sollte, u. wenn heilige Thiere diese genössen, so würden sie im Stande sein die Zukunft zu enthüllen. S. waren heilige u. reine Jungfrauen u. wurden daher von Ein. göttlicher Ehre gewürdigt (so die Tiburtische S., Namens Albunea, welche sich in dem Haine bei Tibur aufhielt). Die Gräcisirung der orientalischen S. ist in der Mythe bei Plutarchos angegeben, wo die Musen auf dem Helikon die erste S. erziehen; die griechischen ermangelten jener wilden, orientalischen Begeisterung, gemildert durch die poetische Ausbildung. Denn in Versen sprachen sie sich hier aus, welche dann die ihnen dienenden Priester ordneten u. in gebundene Rede fügten (Χρησμοὶ σιβυλλιακοί, Sibyllinische Orakel). In Griechenland schrieb man sie in Hexametern, im Orient in dem dort gewöhnlichen Parallelismus der Versglieder. Solche Sprüche wurden an heiliger Stätte gesucht, u. später wurde es Sitte, daß Priester umhergingen u. solche Weissagungen verkauften, bisweilen in Büchern gesammelt (Sibyllinische Bücher), Dergleichen gab es bes. seit Plato im Orient u. Griechenland mehre. Man legte in denselben mehr moralische Aussprüche, fast nur strafende Zurechtweisungen an die bösen Menschen der Zeit, nieder. Ins Unglaubliche wuchs die Masse der S. seit dem Aufkommen der Neuplatoniker (s.d.), u. man bemühte sich diese selbst mit dichterischem Feuer abzufassen. Die berühmteste Sammlung solcher [953] Orakel war die, welche nach der gewöhnlichen Erzählung die Cumäische S. selbst dem König Tarquinius Priscus nach Rom zum Verkauf brachte. Sie hatte neun Bücher, verlangte aber eine so hohe Kaufsumme, daß der König sie damit abwies; nach Kurzem kam sie zurück, drei hatte sie davon verbrannt u. verlangte für die noch übrigen sechs dieselbe Summe; wiederum abgewiesen, kam sie noch einmal, hatte wieder drei den Flammen übergeben u. verlangte für die letzten drei den ersten Preis noch immer. Der König, verwundert hierüber, befahl nun den Ankauf der Bücher u. setzte zwei Männer (Duumviri sacris faciundis) ein, welche dieselben, wenn der Staat in Gefahr schwebte, nachschlugen u. die dort vorgeschriebenen Opfer brachten. Durch den Vorschlag der Volkstribunen C. Licinius u. L. Sextius wurden 367 v. Chr. deren 10 (Decemviri), theils Patricier, theils Plebejer, wahrscheinlich seit Sulla aber 15 (Quindecimviri Sibyllini), ihr Amt war lebenslänglich, sie selbst frei von Kriegsdienst u. Abgaben u. bestanden durch die ganze Kaiserzeit bis ins 4. Jahrh. Der Vorsteher des Collegiums, Magister, amtirte als solcher nur ein Jahr. Die Sibyllinischen Bücher, welche auch in der Folgezeit über alle politischen Veränderungen befragt wurden, wurden auf dem Capitolium im Tempel des Jupiter in einem steinernen Kasten unter der Erde aufbewahrt. Als im Marsischen Krieg der Tempel verbrannte, gingen auch die Sibyllinischen Bücher zu Grunde, doch wurde auf Befehl des Senats 77 v. Chr. Alles, was sich in italienischen, griechischen u. sicilianischen Städten von Sibyllinischen Orakeln vorfand, gesammelt u. eine Anzahl von 1000 Versen als echt befunden u. nach denselben wieder die Staatsverhältnisse behandelt. Augustus ließ eine Revision derselben von den Quindecimviri vornehmen u. die neue Abschrift in zwei goldenen Kapseln unter dem Fußgestell des Palatinischen Apollo beilegen. Hier blieben sie bis 363 n.Chr., wo der Tempel des Apollo abbrannte, die beiden Kapseln aber gerettet wurden. Noch im 5. Jahrh. waren sie vorhanden u. in Ansehen, u. dem Stilicho wurde es erst zur Last gelegt, daß er sie aus Haß gegen das Römerreich, für deren Palladium sie angesehen wurden, vernichtet habe. Nichts desto weniger blieben aber Sibyllinische Weissagungen im Umlauf, denn trotz einem alten Verbote wurden sie von Privatleuten gesammelt u. gebraucht; noch in der Mitte des 6. Jahrh., da Rom von den Gothen belagert wurde, wollten Senatoren aus Sibyllinischen Orakeln die Befreiung der Stadt als gewiß behaupten. Der religiöse Geist, welcher in diesen Flugblättern herrschte, veranlaßte die alexandrinischen u. später die griechischen Juden ähnliche Orakel in ihrem Sinne abzufassen, um jüdische Ideen den Hellenen bekannt zu machen u. zu empfehlen. Auch diese Schriften, gleichfalls in Hexametern geschrieben, enthielten Strafpredigten an die verderbte Zeit, schilderten historische Ereignisse in allerlei Ländern in prophetischer Form zur Warnung für die Gegenwart, riefen bes. Gottes Rache gegen die römischen Herrscher u. gegen die Ptolemäer, welche das Volk Gottes drückten, herab u. drohten mit Strafen der Hölle, so wie mit dem bald einbrechenden letzten (jüngsten) Gericht. Eine Hauptrolle spielt in den jüdisch-sibyllinischen Büchern die Ankunft des Messias, dessen Kampf mit dem Belial (Antichrist) u. die Herstellung des Gottesreichs für die bei dem Jüngsten Gerichte bewährten Frommen. Auch in den christlichen Kreisen erschienen, aus dem Judenthum herübergekommen, bald solche Sibyllinische Orakel, welche die Leichtgläubigkeit des gemeinen Volkes begierig aufnahm, welche aber auch Glauben bei Kirchenschriftstellern wie Justinus, Athenagoras, Theophilus, Clemens Alexandrinus, Lactantius etc. fanden, welche dieselben als vorchristliche Offenbarung zur Apologie des Christenthums gegen das Heidenthum gebrauchten, dafür aber auch von Gegnern des Christenthums Sibyllisten genannt wurden. Die Abfassung solcher Sibyllinischen Orakel wurde selbst dann, als die Polemik nach außen aufgehört u. im Innern der Kirche begonnen hatte, bis in das 5. Jahrh. fortgesetzt. Ob es damals schon Sammlungen der Sibyllinischen Orakel gab, ist unbekannt; im Mittelalter wurde die Sache fast ganz vergessen, erst im 16. Jahrh. tauchten Manuscripte auf u. es erschienen seitdem heidnische, jüdische u. christliche Orakel der Art in 8 Büchern, herausgeg. von Xystus Betulejus, Basel 1545, 2. Ausg. 1546, in der 3. Ausg. mit latein. Übersetzung von Castalio, Basel 1555; von J. Opsopöus, Paris 1589–1607 in 3 Ausg.; von Servatius Galläus, Amsterd. 1689. Außerdem in Monumenta sanctorum patrum orthodoxograph., Basel 1555, 1569, u. im 1. Th. von Gallandi Bibliotheca patrum, Vened. 1788, Das 14. Buch entdeckt u. wurde herausgeg. alsΣιβύλλης λόγος ιδ von Angelo Mai, Mail. 1817; ebenso das 11., 12. u. 13. im 3. Th. der Scriptorum veterum nova collectio, Rom 1828; dann sämmtlich herausgeg. von C. Alexandre als Χρησμοὶ σιβυλλιακοί (mit metrischer latein. Übersetzung), Par. 1841–53, 2 Bde., als Oracula Sibyllina, von Friedlieb mit metrischer deutscher Übersetzung, Lpz. 1852; die bei Lactantius vorkommenden Fragmente sammelte C. L. Struve, Königsb. 1818. Eine deutsche Übersetzung erschien schon von I. Ch. Nehring, Essen 1702, 2. A. Halle 1719. Vgl. Dav. Blondel, Des Sibylles célébres tant par l'antiquité payenne que par les S. Pères, 1649; Fr. Schmid, De sibyllinis orac., 1618; R. Boyle, De Sibyllis, 1661; Heidbreede, De Sibyllis, Berlin 1835; J. von Mark, De Sibyllis et Sibyllinis carminibus, Franeker 1680; Serv. Galläus, De Sibyllis earumque oraculis, Amsterd. 1688; J. Floder, Vestigia poeseos homericae et hesiodeae in orac. sibyll., Ups. 1770; B. Thorlacius, Libri Sibyllistarum veteris ecclesiae crisi subjecti, Kopenhagen 1815; Thorlacius, Conspectus doctrinae christ. qualis in Sibyllicarum libris continetur, 1816 (im 1. Bd. der Miscell. Hafn.); Fr. Bleek, Über die Entstehung u. Zusammensetzung der uns in acht Büchern erhaltenen Sammlung Sibyllinischer Orakel, 1820 (in Schleiermachers Theologischer Zeitschrift Heft 1 u. 2); Besançon, De l'emploi que les Pères de l'Eglise ont faint des miracles Sibyllins, 1851; R. Volkmann, De oraculis sibyllinis, Lpz. 1853; Ewald, Über Entstehung, Werth u. Inhalt der 14 Sibyllinischen Bücher, Göttingen 1858.

Quelle:
Pierer's Universal-Lexikon, Band 15. Altenburg 1862, S. 953-954.
Lizenz:
Faksimiles:
953 | 954
Kategorien:

Buchempfehlung

Schnitzler, Arthur

Anatol / Anatols Größenwahn

Anatol / Anatols Größenwahn

Anatol, ein »Hypochonder der Liebe«, diskutiert mit seinem Freund Max die Probleme mit seinen jeweiligen Liebschaften. Ist sie treu? Ist es wahre Liebe? Wer trägt Schuld an dem Scheitern? Max rät ihm zu einem Experiment unter Hypnose. »Anatols Größenwahn« ist eine später angehängte Schlußszene.

88 Seiten, 4.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Große Erzählungen der Hochromantik

Große Erzählungen der Hochromantik

Zwischen 1804 und 1815 ist Heidelberg das intellektuelle Zentrum einer Bewegung, die sich von dort aus in der Welt verbreitet. Individuelles Erleben von Idylle und Harmonie, die Innerlichkeit der Seele sind die zentralen Themen der Hochromantik als Gegenbewegung zur von der Antike inspirierten Klassik und der vernunftgetriebenen Aufklärung. Acht der ganz großen Erzählungen der Hochromantik hat Michael Holzinger für diese Leseausgabe zusammengestellt.

390 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon