Delphi [1]

[822] Delphi, 1) (a. Geogr.), kleine, aber wegen des dasigen Tempels u. Orakels wichtigste Stadt in Phokis, die sich am Südabhange des Parnassos nach Kirrha hin amphitheatralisch erhob u. vom Berge Kirphis durch ein Thal geschieden war, durch welches sich der Fluß Plistos (jetzt Sicaliska) nach dem Krissäischen Meere wand, u. wo die Pythischen Spiele gefeiert wurden. Auf dem Wege von Kirrha nach D. lag rechts die Quelle Kastalia (s.d.), links die Quelle Kassotis, woraus die Pythia trank, um sich zu begeistern. Oberhalb der Kastalia war die Hyampeia, eine Kuppe des Parnassos, von wo die Tempelräuber herabgestürzt wurden, dabei die Phädriaden, eine Felsengruppe. Unter den Vorstädten war die merkwürdigste Pythia, nordöstlich, auf dem höchsten Punkt, mit Tempeln des Apollo, der Leto, Artemis u. Athene u. einem Stadion; von hier gelangte man zum Tempel (Delphinion). Dieser lag angeblich in der Mitte Griechenlands u. der Erdscheibe. Der älteste Tempel war aus Zweigen des heiligen Lorbeerbaumes in Tempe gewölbt; der 2. war von Hyperboräern od. dem Kreter Pteras aus Schwanenfedern gebildet u. mit wächsernen Flügeln zusammengekittet; der 3. ein eherner, der 4., von Trophonios u. Agamedes erbaute, von Stein; der letzte endlich, von Spintharos erbaut, wurde immer mehr erweitert u. geschmückt, mit Kunstwerken, Tropäen u. Weihgeschenken, welche die um Orakel fragenden Völker u. Privatpersonen hierher geschenkt od. auch zur Verwahrung hier niedergelegt hatten. Diese Schätze waren in den zahlreichen, die Tempelrotunde umgebenden Gebäuden aufbewahrt. Das Allerheiligste (Adyton) enthielt das Pytheion, wo die Pythia (Anfangs ein Mädchen, nachher eine Frau, über 50 Jahre alt, in jungfräulicher Kleidung) die Orakelsprüche ertheilte, eine Grotte, in deren Mitte die, einen Schwefeldampf (eigentlich kohlensaures Wasserstoffgas) ausströmende Öffnung, über diese der berühmte Dreifuß (Tripus), der mit einem Deckel (Holmos) überdeckt war. Auf diesen Dreifuß wurde die Pythia, nachdem sie aus der Quelle Kassotis getrunken hatte, in langem, fließendem Gewand, mit einem Lorbeerkranz geschmückt, von den Priestern gesetzt. Dann kaute sie Lorbeerblätter (vgl. Daphnephagoi), gerieth in die heftigsten Verzuckungen u. stieß endlich einzelne, unzusammenhängende Wörter aus, die von den Priestern (Hypophetä) aufgenommen u. in Hexameter gebracht wurden, deren Sinn gewöhnlich verschiedene Deutung zuließ (s. Orakelspruch). Vorher war der Fragende (Pythaistes), nachdem er durch Opferreinigungen etc. geweiht, in Procession u. unter rauschender Musik, mit verhülltem u. lorbeerbekränztem Haupte, in der einen Hand einen Lorbeerzweig, in der anderen ein die Fragen enthaltendes Täfelchen tragend, in die Halle vor dem Pytheion geführt worden. In das Adyton gingen blos die Priester. Die Zeit der Orakelertheilung war Anfangs ein bestimmter Monat, Pysios (Orakelmonat); später, als das Orakel zum politischen Institut geworden war, in jedem Monate ein bestimmter[822] Tag. Außer den Orakelpriestern waren auch noch Opferpriester (Hosioi) u. Tempeldiener (Periegetai), welche die Fremden zur Beschauung des Tempels u. der Schätze führten. 2) (Gesch.). Das Orakel soll von dem Hirten Koretas entdeckt worden sein, indem er seine dort weidenden Ziegen in ekstatischen Zustand gerathen sah u. Gleiches an sich bemerkte, da er sich über die Offnung, woraus Dünste stiegen, bog. Die erste Besitzerin des Orakels war Gäa (Erde, von welcher der begeisternde Dampf kam) u. Poseidon, dann deren Tochter Themis, u. nachdem diese es verlassen, übernahm es Apollon, nachdem er den Drachen Python (Delphine, Delphines), welcher das Orakel bewachte, getödtet hatte. Apollo setzte Kreter aus Knossos als seine Priester hier ein. Lange war das Orakel nur für die Umwohner zugängig u. ohne Wichtigkeit; aber nach der Rückkehr der Herakliden war es von Bedeutung, weil die Dorier, welche das Delphische Orakel in politischen Angelegenheiten befragten, das Hauptvolk in Griechenland wurden. Der von Trophonios u. Agamedes erbaute steinerne Tempel brannte ab, worauf er 545 v. Chr. auf Kosten Griechenlands u. des Königs Amasis von Ägypten, unter Spintharos Leitung, neu u. überaus prächtig aufgeführt wurde. Die Heiligkeit u. Unzugängigkeit des Ortes schützte ihn lange vor Raub, wie die, von Xerxes zur Plünderung des Tempels abgeschickten 4000 durch Regen u. Gewitter umkamen, bis auf die Heiligen Kriege (s.d.), welche zwischen Delphern u. Phokern über das Schutzrecht des Tempels geführt wurden, in Folge deren der Tempel 357 v. Chr. durch den phokischen Feldherrn Philomelos geplündert wurde. 278 v. Chr. zogen die Celten unter Brennus auf ihrem Raubzuge durch Griechenland auch nach D., doch wurde das 65,000 Mann starke Heer derselben von 4000 Phokern u. anderen Griechen, unterstützt von Gewittern, Erdbeben u. Felsstürzen, geschlagen. Was nach jener Plünderung der Phoker an Schätzen dem Tempel verblieben war u. was der schon geschwächte Glaube späterer Zeiten in denselben als Weihgeschenke lieferte, kam 86 v. Chr. in Sullas Hände. Mit dem Beginn der religiösen Aufklärung, um die Zeit des Peloponnesischen Krieges, sank auch das Ansehen des Orakels, noch mehr in der christlichen Zeit, u. Kaiser Theodosius ließ es förmlich schließen. Mit dem Schicksal des Tempels war das der Stadt genau verbunden, welche angeblich von Delphos, einem Sohn des Apollo u. der Keläno, erbaut, sich wahrscheinlich erst nach Krissa's Untergange erhob u. welche in alter Zeit eigene Herren aus dorischen Geschlechtern hatte, welche Prytanen hießen u. deren 1 od. 2 waren. Früher hatte der Tempeldienst dem größten Theil der Einwohner Beschäftigung gegeben, u. der große Zusammenfluß von Fremden aus allen Gegenden trug der Stadt, welche mit mehreren Theatern u. Leschen geschmückt war, namentlich durch die in Folge dessen entstandenen vielbesuchten Märkte, großen Gewinn ein. Jetzt heißt D. Kastri, wo man, außer einigen beträchtlichen Trümmern des Stadiums, nur wenige armselige griechische Kirchen u. Klöster sieht. Die Höhle, über welcher die Pythia saß, wollte man in neuerer Zeit wieder aufsuchen; Einige suchten sie oberhalb der Kastalischen Quelle, wo sich entzündliche Strömungen von kohlensaurem Wasserstoff finden. Vgl. Curtius, Anecdota delphica, Berl. 1843.

Quelle:
Pierer's Universal-Lexikon, Band 4. Altenburg 1858, S. 822-823.
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