Mittelalter

[328] Mittelalter 1) überhaupt in der Geschichte der zu einem der verschiedenen Culturkreise gehörigen Völker derjenige Zeitraum, welcher etwa dem Jünglingsalter des Menschen vergleichbar, zwischen dem Zeitalter des Ursprungs der Entwickelung u. dem der Reise u. der Vollendung mitten inne liegt; 2) gewöhnlich der große Zeitraum der Weltgeschichte, welcher zwischen dem Alterthum od. der antiken Welt u. der neueren Zeit od. modernen Welt, liegt u. die Zeit des Werdens u. des Übergangs bildet, dabei aber sein eigenthümliches, charakteristisches Gepräge trägt. Da welthistorische Ideen, welche ganze Epochen u. Zeiträume charakterisiren, nie plötzlich, ohne lange Vorbereitung u. andauernde Kämpfe vermittelst eines einzigen Ereignisses, sondern allmälig mittelst einer Reihe von Entwickelungen u. Begebenheiten ins Leben treten, sich zu einem Ganzen gestalten u. die Herrschaft gewinnen können, so läßt sich mit chronologischer Bestimmtheit weder Anfang, noch Ende des M-s in diesem, auf den wahrhaft weltgeschichtlichen Schauplatz (s. Geschichte) beschränkten Sinne angeben, weshalb auch die Grenzpunkte von verschiedenen Historikern sehr verschieden angenommen worden sind. Die meisten derselben lassen dasselbe mit dem Sturze des Weströmischen Reichs (476 n.Chr.) beginnen u. mit der Entdeckung von Amerika (1492) schließen. Im Allgemeinen zeigt das M. ein Vorwalten der rohen, der persönlichen Kraft, des Gefühls, der Abenteuerlichkeit, der Schwärmerei, einer gewissen gesteigerten u. vergeistigten Sinnlichkeit. Während sich in Europa auf den Trümmern des Römischen Reichs die politische Welt der Germanen, des wichtigsten Volks des ganzen Zeitraums, erhob, verbreiteten die Araber ihre Macht im Orient; an die Stelle des alten Heidenthums traten zwei neue geoffenbarte Religionen, das Christenthum u. der Islam; während der Orient nach vielen Erschütterungen, Bewegungen u. Veränderungen unter religiös-kriegerischem Despotismus erlag, bildeten sich im Abendland Nationalitäten u. Staaten, traten das kirchliche u. politische Leben unter den eigenthümlichen Gestaltungen des Feudalsystems u. der Hierarchie in die Erscheinung. Nachdem die Verhältnisse der germanischen Eroberer zu den eroberten Ländern sich geordnet u. fester bestimmt hatten, bildeten sich die innewohnenden mitgebrachten Eigenthümlichkeiten des germanischen Volkscharakters mit den vorgefundenen Formen der Cultur u. des Lebens zu einem neuen selbständigen Ganzen aus; die den Germanen eigenthümliche Achtung für das Weib wurde die Grundlage eines edleren Familienlebens, Rittergeist u. Bürgersinn erzeugten fromme Kraft u. biderbe Männlichkeit; der schwärmerische, auf das Unendliche gerichtete Sinn der Zeit zeigte sich theils in der Neigung für abenteuerliche, kriegerische Unternehmungen (Kreuzzüge), theils in dem Erblühen eines großartigen Styls der Baukunst u. der Malerei (Gothischer, Germanischer Kunststyl), wie in den unsterblichen Werken einer phantastischgewaltigen Dichtkunst (Wolfram von Eschenbach). In den einzelnen Epochen des M-s treten wieder verschiedene besondere u. eigenthümliche Richtungen mehr od. minder hervor. Gewöhnlich u. am zweckmäßigsten nimmt man deren drei an. Die erste Periode zeigt den Kampf zwischen den alten römischen u. den neuen germanischen Elementen des Lebens; sie reicht von dem durch die Völkerwanderung hervorgerufenen Umsturze des Weströmischen Reichs (476) bis zur Theilung der Fränkischen Monarchie (843). Im Zusammenhang mit dem Feudal- od. Lehnswesen bildete sich das Kaiserthum; gleichzeitig beginnen die Kämpfe einer stolzen Aristokratie nach oben wider das Königthum, nach unten wider die Freiheiten des Volks; in der Kirche entwickelt sich die Hierarchie zugleich mit dem Bestreben des Apostolischen Stuhls, an die Spitze derselben u. somit zur Herrschaft über die Wen zu gelangen. In der zweiten Periode, welche von der Theilung des Reichs der Karolinger bis gegen Ende des 13. Jahrh. reicht, treten neben die feudalistische Aristokratie als mächtiges Element die Städte, mit deren Hülfe es der königlichen Gewalt hier mehr, dort weniger möglich wurde, eine centrale Staatsgewalt zu begründen, so daß ein gewisses Gleichgewicht der Gewalt u. Macht zwischen Königthum, Adel u. Volk eintrat, obgleich Letzteres fast nur durch die Städte repräsentirt wurde. Nur in den Verhältnissen dieser Zeit waren Erscheinungen, wie Städtebündnisse (Hansa), Landfrieden u. Fehmgerichte möglich. In der Kirche erreichte die Hierarchie die Höhe ihres Glanzes, vermochte jedoch nicht, sich die höchste Staatsgewalt in dem Abendlande zu unterwerfen, wußte aber[328] alle freieren Regungen auf dem Gebiet des Glaubens zu unterdrücken. Mit der fortschreitenden Bildung des Zeitraums beginnt die Cultur der Nationalsprachen, namentlich wandte sich die feudalistische Aristokratie der Poesie u. dem Gesange zu; zugleich entwickelte sich, vor Allem in Italien u. Deutschland, eine neue bildende Kunst, während die Wissenschaft, namentlich die Philosophie, nur erst als Scholastik auftrat. In der dritten Periode bereiteten sich die Ereignisse vor, mit welchen gegen Ende des 15. u. im Anfange des 16. Jahrh. der Umschwung des Lebens u. der Ideen, die moderne Zeit, in die Erscheinung trat. Im Allgemeinen ging die Wichtigkeit des Lebens von der sinkenden Feudalaristokratie auf das Bürgerthum über, während sich über beide hinweg ständische Staatsformen zu höherer u. allgemeinerer Freiheit ausbildeten od., wie in Frankreich, das autokratische Königthum begann. Die Anwendung des Schießpulvers, die Auffindung des Seewegs nach Ostindien, die Entdeckung von Amerika, die Erfindung der Buchdruckerkunst waren die wichtigsten Factoren, welche diese Umwandelungen förderten u. beschleunigten. In der Kirche riefen die Mißbräuche, welche Päpste u. Hierarchie mit der errungenen Gewalt trieben, eine immer mächtiger werdende Opposition hervor, welche theils von der Kirche selbst (Concile von Basel u. Constanz), theils von einzelnen kühnen u. talentvollen Männern, namentlich Lehrern an den Universitäten (Wicliffe, Huß), theils von den sogenannten Mystikern (s.d.) ausging u. die Reformation vorbereitete. Allerwärts erhob sich in Folge seines kräftigen Volksgeistes, seiner Betriebsamkeit u. seiner gereiften Einsicht der Mittelstand, wogegen am Ende der Epoche das Kaiserthum, die Hierarchie, das Feudalwesen immer mehr verfiel; mit der überwiegend werdenden Neigung zur Reflexion u. der höheren sittlichen Reise beginnt die neuere Zeit. Das Griechische Kaiserthum kennt kein Mittelalter in dem angegebenen Sinne; im Orient läßt sich der Zeitraum bis zum Sturze des Khalifats u. dem Aufkommen der Osmanen nur entfernt damit vergleichen. Völlig entbehren einer solchen abgeschlossenen Periode des Übergangs die Völker des ostasiatischen Culturkreises; in Indien hat man die Zeit von der Ausbreitung des Buddhismus bis zum Einbruch der muhammedanischen Eroberer das Indische M. nennen wollen. Hauptwerke über die Geschichte des M-s verfaßten Rühs (Berl. 1818), Nehm (Handbuch, Marb. 1820–38, 4 Bde.; Lehrbuch, ebd. 1826, 2 Bde.; Abriß, Kass. 1840), Leo (Lehrbuch der Geschichte des M-s, Halle 1830, 2 Bde.), Kortüm (Berl. 1836, 2 Bde.) u. Rückert (Stuttg. 1853).

Quelle:
Pierer's Universal-Lexikon, Band 11. Altenburg 1860, S. 328-329.
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