Wahlreich

[360] Wahlreich. Man nennt überhaupt einen Staat oder ein Reich eine Verbindung von Menschen, unter einer gemeinschaftlichen Oberherrschaft oder Regierung, die der allgemeinen Sicherheit wegen geschieht; einen Staat selbst, im Verhältniß gegen andere Staaten, nennt man ein Volk oder Nation. In jedem Staate muß theils die Regierungsform (d. h. die von der Nation getroffene Bestimmung, wer in dem Staate die Regierung führen soll), theils die Art und Weise, durch welche dem Oberherrn oder Regenten die Regierung übertragen wird, festgesetzt [360] sein. Die gewöhnlichsten Regierungsformen (die zuweilen in einem Staate mit einander vermischt sind, z. B. in England) sind folgende drei: 1) Demokratie (s. dies. Art.), 2) Aristokratie (s. Aristokrat), 3) Monarchie, d. h. diejenige Staatsverfassung, in welcher einem Einzigen die Regierung überlassen ist. Die Art und Weise, durch welche die Regierung übertragen wird, kann entweder Erbfolge oder Wahl, mithin ein Reich entweder ein Erbreich, oder Wahlreich sein. Erbreich heißt derjenige Staat, in welchem die Nation dem Regenten die Regierung für sich und seine Nachkommen überläßt; Wahlreich hingegen der Staat, in welchem der Oberherr, oder diejenigen, denen die Ausübung der höchsten Gewalt im Staate übertragen ist, durch eine jedesmahlige neue Willenserklärung der Nation, oder ihrer Stellvertreter, bestimmt werden. Uebrigens kann auch der Oberherr des Staats in Ansehung seiner Gewalt entweder von einer höheren Entscheidung abhängig, oder an die Miteinwilligung eines Andern gebunden, oder ihm auch die höchste Gewalt nicht in allen ihren Theilen überlassen sein; in allen diesen Fällen ist seine Regierung eingeschränkt, im Gegenfalle uneingeschränkt. So war z. B. das Deutsche Reich nach Abgang der Carolinger ein Wahlreich, ungeachtet man nicht leicht von dem einmahl regierenden Hause abging, und zwar war es eine eingeschränkte Monarchie, weil der Kaiser bei allen Staatshandlungen, die entweder das Wohl des gesammten Deutschen Reichs betrafen, oder auf die einzelnen Rechte der Fürsten Einfluß hatten, die Reichsstände befragen mußte. So war Pohlen eine eingeschränkte Wahlmonarchie (s. Revolution von Pohlen). Eben so ist noch jetzt England eine eingeschränkte Erb-Monarchie (s. die Englische Constitution, Th. I. S. 288.).

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Brockhaus Conversations-Lexikon Bd. 6. Amsterdam 1809, S. 360-361.
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