Lehrgedicht

[718] Lehrgedicht oder didaktisches Gedicht (das) umfaßt die Dichtgattung, in der nicht, wie in den übrigen Arten der Poesie, erst nach Abschluß der freien Gestaltung des Ganzen und unwillkürlich sich irgend eine Wahrheit für den aufmerksamen Leser ergibt, sondern wo von vorn herein mit sichtbarer Absicht die Darstellung einer solchen als directer Zweck des Gedichts erscheint. Der Streit, ob diese Art von Poesie überhaupt zur wahren Dichtkunst zu rechnen sei, geht noch fort. Denn wenn auch das Äußere des Lehrgedichts sich in poetischer Form bewegt, so ist doch der Inhalt immer mehr ein Erzeugniß der Reflexion über irgend einen allgemeinen Gedanken oder Gegenstand, als der freie Aufschwung und reine Erguß des Gefühls oder der gestaltenden Phantasie. Das Lehrgedicht ist immer eine Erscheinung solcher Literaturepochen, in denen die Poesie in ihrer ersten Entwickelung oder in ihrer ersten Auflösung begriffen ist, bezeichnet also immer die erste, aus der Vermischung von Religion, Philosophie und Poesie zu der Reinheit der letztern sich heraussondernde Stufe derselben, oder ihre letzten von wahrer Poesie sich wieder ins Chaotische verlierenden Schritte. So ist die morgenländische Poesie [718] überhaupt reich an Spruchweisheit, daher das Lehrgedicht ihre Hauptgattung und die religiöse Poesie der Griechen gehört der vorhomerischen Zeit an. Die Römer sind fast nur stark in der didaktischen Poesie, indem selbst des Horaz Oden meistens den Vortheil und Genuß einer angenehmen Lebensweisheit feiern. Strenger freilich stellen sich als Lehrgedichte des Lucrez poetische Behandlung des Epikurischen Systems in seinem Gedichte: »De rerum natura« (die Natur der Dinge) und Virgil's »Georgica«, welche den Landbau behandelt; des Ovid's »Ars amandi« (Kunst zu lieben) ist mehr spielender als ernster Art. Unter den Engländern haben sich als Lehrdichter ausgezeichnet: Akenside, Dryden, Pope, Young und Darwin; unter den Franzosen: Racine, Boileau, Lacombe und Delille; unter den Deutschen: Opitz, Haller, Hagedorn, Utz, Tiedge, Neubeck u. A. m. Eine besondere Mischgattung von Lyrik und Lehrgedicht bilden die Heroide (s. Heros) und die poetische Epistel (s.d.), welche dem Ergusse des Gefühls einen größern Spielraum gewähren.

Quelle:
Brockhaus Bilder-Conversations-Lexikon, Band 2. Leipzig 1838., S. 718-719.
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