Orakel

[25] Orakel. Der tiefgewurzelte Glaube an eine höhere Lenkung der menschlichen Geschicke, und die kluge Benutzung dieses Glaubens für selbstsüchtige Zwecke von Seiten der Priester, hob die Orakel der Alten zu einem großen Ansehen, verschaffte ihnen eine ungemeine Geltung. Dazu kam der Drang, ferne Ereignisse voraus wissen zu wollen, von einer, und geheimnißvolle Inspirationen einzelner Individuen, die sich in Prophezeihungen äußerten, von der andern Seite, um den Orakeln, die nun bald an besondern Orten dauernd hafteten, den bedeutendsten Einfluß auf das Volks- wie auf das Staatsleben zu verschaffen. Man nennt als die ältesten dieser Orakelorte Meroe, Theben und Ammonium in Aegypten, und Dodona in Griechenland. Als aber Delphi aufkam, traten alle andere vor dem Glanze seiner Weltberühmtheit in Schatten, [25] und die Vorhöfe seines Apollotempels wurden nimmer von fragenden Wallern leer. Die weissagende Pythia saß auf einem heiligen Dreifuß über dem Schlunde einer Höhle, aus welcher begeisternde Dünste stiegen, und sprach ihre meist doppelsinnigen, immer in einiger Ungewißheit lassenden prophetischen Sentenzen in Hexametern und unter convulsivischen Bewegungen aus. Die Fragenden mußten sich vielen Ceremonien unterwerfen, ehe sie in das Tempelheiligthum eintreten durften, um vom goldenen Dreifuß die Sprüche der begeisterten Pythia zu vernehmen. Immer noch bezeichnen wir mit dem im Sprachgebrauche beibehaltenen Worte Orakel einen Ausspruch, der kurz und dunkel mancherlei Deutung zuläßt, oder eine auf Befragen gegebene Weissagung künftiger Ereignisse.

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Damen Conversations Lexikon, Band 8. [o.O.] 1837, S. 25-26.
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