Cardinaltugenden

[160] Cardinaltugenden heißen jene Tugenden (s. d.), die zuhöchst gewertet und als Grundlagen aller anderen Tugenden betrachtet werden. PLATO unterscheidet ihrer vier, die in Beziehung zu den Seelenteilen und deren Einheit stehen: Weisheit (sophia) = Tugend des erkennenden Seelenteiles, Tapferkeit (andreia) = Tugend des »mutigen« Seelenteiles, Maßhalten oder Besonnenheit (sôphrosynê) und Gerechtigkeit (dikaiosynê); daneben wird auch die Frömmigkeit (hosiotês, Protag.) erwähnt. Im Staate sind diese Tugenden in den verschiedenen Ständen der Herrscher, Krieger, Handwerker, Gewerbetreibenden vertreten (Rep. IV 10, 433). ARISTOTELES gibt eine ausführliche Gliederung der Tugenden (s. d.). Die Stoiker erblicken in der Einsicht (phronêsis) die Haupttugend (Stob. Ecl. II, 6, 102 ff.; Plut., De Stoic. rep. 7); so auch die Epikureer (Diog. L. X, 132). Die christlichen Cardinaltugenden sind Glaube, Liebe, Hoffnung (AMBROSIUS). ALBERTUS MAGNUS verbindet sie (als »virtutes infusae«) mit den »virtutes acquisitae«, deren wichtigste »prudentia«, »iustitia«, »fortitudo«, »temperantia« sind (Sum. th. II, 103, 1). THOMAS: »Virtus aliqua dicitur cardinalis, quasi principalis, quia super eam aliae virtutes firmantur, sicut otium in cardine« (De virt. 1, 12 ad 24). Als Cardinaltugenden nennt er Einsicht, Gerechtigkeit, Mäßigkeit, Seelengröße (Sum. th. II, 61, 2). TELESIUS nennt als solche »sapientia« »sollertia«, »fortitudo«, »benignitas«. GEULINCX definiert die Cardinaltugenden als »proprietates virtutis, quae proxime et immediate ab illa dimanant et ad nullam externam circumstantiam speciatim referuntur« (Eth. I, 2, § 3), »tales virtutes, quae necessario concurrunt ad omne virtutis exercitium« (Eth. annot. p. 153). Sie sind »filiae virtutis« (Eth. § 3), heißen: »diligentia«, »oboedientia«, »iustitia«, »humilitas« (Demut, die Haupttugend, l.c. p. 7). Nach SCHLEIERMACHER sind die Cardinaltugenden: Weisheit, Besonnenheit, Liebe, Beharrlichkeit (Syst. d. Sittenl. § 296); nach NATORP: Wahrheit, sittliche Stärke, Tapferkeit, Reinheit, Gerechtigkeit.

Quelle:
Eisler, Rudolf: Wörterbuch der philosophischen Begriffe, Band 1. Berlin 1904, S. 160.
Lizenz:
Faksimiles:
Kategorien: