Sinnestäuschung

[365] Sinnestäuschung ist ein Ausdruck für die Irrtümer, welche aus der falschen Interpretation von Sinnesdaten durch das Urteil entspringen, wobei physiologisch-psychologische Momente von Bedeutung sind. Nicht die Sinne täuschen, sondern sinnliche Empfindungen veranlassen zu Täuschungen, die erst im deutenden Urteilen liegen. Zu den Sinnestäuschungen gehören falsche, abnorme Localisationen (s. d.) und Projectionen (s. d.), Verwechselung von Erinnerungs- und Phantasiebildern mit Wahrnehmungen, unrichtige Schätzungen von Größen u. dgl.

Auf abnorme Bewegungen des Gehirns führt die Sinnestäuschungen ALKMAEON zurück (Theophr., De sens. 26). Daß die Sinne (s. d.) vielfach tauschen, betonen verschiedene griechische Philosophen, so PLATO (Rep. VII, 523. X, 602. Theaet. 154 squ.. Phileb. 37 C, 39). Nach ARISTOTELES liegen den Sinnestäuschungen irrige Aussagen des Gemeinsinnes und der Urteile zugrunde (De an. II, 6. III 1, 425 b 4. III 3, 427 b 1 squ.. Met. IV 6, 1011 a 3 squ.. De sens. 4. De insomn. 1). Nur auf die irrige Meinung führt die[365] Sinnestäuschung EPIKUR zurück: hête gar homoiotês tôn phantasiôn hoionei en eikoni lambanomenôn ê hypnous ginomenôn ê kat' allas tinas epibolas tês dianoias ê tôn loipôn kritêriôn, ouk an poth' hypêrche tois ousi te kai alêthesi prosagoreuomenois, ei mê ên tina kai toiauta pros ha ballomen. to de diêmartêmenon ouk an hypêrchen, ei mê elambanomen kai allên tina kinêsin en hêmin autois synêmmenên men, dialêpsin d' echousan. kata de tautên tên synêmmenên tê phantastikê epibolê, dialêpsin d' echousan, ean men mê epimartyrêthê ê antimartyrêthê, to pseudos ginetai. ean d' epimartyrêthê ê mê antimartyrêthê, to alêthes (Diog. L. X, 51. vgl. 32). CICERO erklärt: »Opinionis mendacium est, non oculorum.« Vgl. Sext. Empir. Pyrrh. hyp. I, 14, 90 squ.

Nach TERTULLIAN sind es nicht die Sinne, welche täuschen (De an. 17 f.). 630 auch nach AUGUSTINUS, nach welchem die Täuschung im Urteil liegt: »Quidquid autem possunt videre oculi, verum vident.« »Noli plus assentiri quam ut ita tibi apparere persuadeas, et nulla deceptio est« (Contr. Acad. III, 26. De ver. relig. 62). Ähnlich lehren L. VIVES (De an. I, 30 f.), DESCARTES, GASSENDI (Philos. Epic. synt. p. 368. vgl. obi. ad med. V, 6), MALEBRANCHE (Rech. I, 6 ff.), LOCKE (Ess. II, ch. 9, § 8), LEIBNIZ (Erdm. p. 497 a. Théod. I A, § 65), CONDILLAC, HELVETIUS, REID (Inquir. I, 6, 3 ff.), BAUMGARTEN (Met. § 407), LAMBERT (Neues Organ. II, 1, 2), REIMARUS (Vernunftlehre, S. 100 ff.) MENDELSSOHN: »Unvollständige Induction ist eine Hauptquelle des Sinnesbetrugs. Wir verbinden die Eindrücke verschiedener Sinne und erwarten den Eindruck des einen, so oft wir den Eindruck des andern gewahr werden.« »Alles dieses sind Folgen des unrichtigen Gebrauchs unserer Kräfte, eigentlich Fehler des Denkvermögens« (Morgenst. I, 3). KANT bemerkt gleichfalls: »Die Sinne betrügen nicht. Dieser Satz ist die Ablehnung des wichtigsten, aber auch, genau erwogen, nichtigsten Vorwurfs, den man den Sinnen macht, und dieses darum nicht weil sie immer richtig urteilen, sondern weil sie gar nicht urteilen, weshalb der Irrtum immer nur dem Verstande zur Last fällt« (Anthropol. I, §10). So auch FRIES (Syst. d. Log. S. 83), MAASS (Üb. d. Einb. S. 202) u.a. – Untersuchungen über die Sinnestäuschungen bei J. MÜLLER, PURKINJE (Physiol. d. Sinne, 1823), HAGEN (Die Sinnestäuschungen, 1837), LOTZE (Med. Psychol. S. 435 ff.), nach welchem sowohl das Urteil als auch das Sinnesmaterial selbst täuscht (l. c. S. 436). Auf unbewußte Schlüsse führt die Sinnestäuschungen des Gesichtssinnes HELMHOLTZ, (zum Teil) auf Änderungen im Empfindungsinhalte selbst HERING zurück. Nach VOLKMANN besteht die eigentliche Sinnestäuschung darin, »daß wir entweder eine Vorstellung localisieren oder projicieren, die... weder localisiert noch projiciert werden soll, oder eine Vorstellung, die zwar localisiert oder projiciert werden soll, nicht so localisieren oder projicieren, wie es im Zusammenhange mit der gesamten Localisation und Projection geschehen soll« (Lehrb. d. Psychol. II4, 145 f.). HAGEMANN bemerkt: »Eigentliche Sinnestäuschungen finden nur dann statt, wenn wir durch gewisse Umstände bei den Sinneseindrücken veranlaßt werden, diese unrichtig auszulegen« (Psychol.3, S. 63). Nach E. MACH zeigen die Sinne weder falsch noch richtig. »Das einzig Richtige, was man von den Sinnesorganen sagen kann, ist, daß sie unter verschiedenen Umständen verschiedene Empfindungen und Wahrnehmungen auslösen« (Anal. d. Empf.4, S. 8). Nach KREIBIG ist Sinnestäuschung »das Zustandekommen einer Sinneswahrnehmung deren primäres Wahrnehmungsurteil als empirisch falsch qualificiert worden ist« (Üb. d. Begr. Sinnesteuschung Zeitschr. f. Philos. 121. Bd., S. 197 ff., 199).[366] Vgl. WUNDT, Grdz. d. phys. Psychol. II4. SULLY, Die Illus. 1884. HOPPE, Erklär. d. Sinnestäusch.4, 1888. KÜLPE, Gr. d. Psychol., u.a.

Quelle:
Eisler, Rudolf: Wörterbuch der philosophischen Begriffe, Band 2. Berlin 1904, S. 365-367.
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