1. Der gegenseitige Kampf und die Kräfte der nationalen Einigung

[270] Daß die Griechen eine so mächtige einheitliche Kultur haben entwickeln können, ist besonders deshalb ein starker Beweis ihrer ursprünglichen nationalen Einheit, weil sie politisch stets eine Vielheit gewesen und es später so lange als möglich geblieben sind. Unter einzelnen Staaten aber, mögen sie groß oder klein sein, waltet im Altertum Feindschaft. In einem großen Kontinent wie Asien ringt ein besonders kräftiges Volk die andern zu Boden, und es entstehen Weltmonarchien, welche so lange dauern, bis eines der unterworfenen Völker sich erhebt und seinerseits das Prinzipat an sich reißt. Eine eudämonistische Geschichtsanschauung mag die mit jeder Bildung einer solchen Weltmonarchie verbundene Kulturausgleichung rühmen; andere mögen finden, daß die von fremder Knechtung unzertrennliche Entwürdigung vieler Einzelvölker ein etwas teurer Preis hiefür gewesen. Bisweilen befiehlt ein Gott einem erobernden Volke die Zernichtung der Vorgefundenen und ergrimmt, sobald irgend SchonungA1 geübt wird. Entschlossene Seefahrer wie die Phönizier erlauben sich das Äußerste, um Alleinherren ferner Außenposten und Alleinkenner ferner Wasserpfade zu bleiben, und vollends die Karthager sind dann Meister im Lahmlegen der Unterworfenen und im vorsorglichen Zernichten dessen, was andere Kräfte anlocken könnte1. Die Griechen aber bieten das besondere Schauspiel einer alten und dauernden Feindschaft zwischen vielen kleinen Einzelteilen einer und derselben Nation, so daß dieser Anblick, im ganzen genommen, schon gewissermaßen wieder einheitlich wirkt und für das Auge eine Gruppe bildet.

In der heroischen Zeit ist der Held hier ein Eroberer von Königsburgen, wo er den Herrscher tötet und die Tochter freit oder als Sklavin mitnimmt; im wirklichen frühern Altertum aber ist der Grieche überhaupt,[270] wenn man ihn machen läßt, ein Pirat, und in mehrern Gestalten trifft beides zusammen. Man hätte wahrlich nicht nötig gehabt, den Phönizier insbesondere als »Gaudieb2« zu brandmarken. Die Zeit ist eine jugendlich wilde; unversehens greift das Schwert zum Mann und reißt ihn nach sich3; auch der Hader unter den Nächsten wird frühe symbolisch ausgedrückt: Eteokles und Polyneikes streiten schon im Mutterleib; außerdem wimmelt der Mythus von freiwilligen und unfreiwilligen Mordtaten, und der Spleen jener Zeit besteht wesentlich darin, daß man deshalb in der Welt herumzieht. Fahrende Heroen mit Mannschaft aber können nicht anders als vom Raube leben, nur gehen sie dabei über das Notwendige weit hinaus. Bevor der trojanische Krieg alles an sich zieht, führen Mächtige wie Achill, Rhesos u.A. ein Vorleben von lauter Überfall und Städteverwüstung. In der ganzen Odyssee ist dann der Seeraub, d.h. das plötzliche Landen und Plündern die allgemeine Voraussetzung, selbst bei den löblichsten Helden. Menelaos bekennt (IV, 82. 90) ziemlich offen, seine Schätze zusammengeraubt zu haben, Nestor traut dem Telemach (III, 72) ganz naiv ähnliche Geschäfte zu, und bei der Ankunft der Freier in der Unterwelt vermutet der Schatten Agamemnons unter Mehrerem auch, sie möchten beim Rinderdiebstahl erschlagen worden sein, gerade wie es früher (XI, 400) auch in Betreff seiner vermutet worden ist. Vor allem aber ist Odysseus groß im Seeraub; er verheert (IX, 38) die thrakische KikonenstadtA2 Ismaros, tötet die Männer, raubt Weiber und Habe und verteilt »gerecht« unter die Genossen, ohne nur ein Wort darüber zu verlieren, ob ihm die Kikonen das Geringste zu Leide getan; was ihm durch die Freier verloren gegangen ist, getraut er sich durch Raub wieder zu ersetzen (XXIII, 358); auch in seinen ersonnenen Lebensläufen nimmt er Mord und Raub ohne Bedenken auf sich (XIII, 259; XIV, 262; XVII, 425). Die ganze Kyklopengeschichte (IX) ist nichts als der Reflex uralter böser Händel zwischen arglistigen Seeräubern und wilden Hirten; Polyphem, welcher anfangs merkt, mit wem er zu tun hat, ist der ins Groteske gemalte furchtbare Hirt, wie ihn das Seevolk kannte, behaftet mit einem vielleicht völlig historischen Rest von Kannibalismus, wie er ja auch noch bei den Lästrygonen (X, 116. 124) vorkommt. – Andere Helden rauben Vieh, in der Absicht, mit solcher GabeA3 um eine Fürstentochter zu werben4; eine besonders kräftige Piratennovelle5 erzählte von der Schar des Boreaden Butes, welche Weiber von verschiedenen Küsten[271] raubte und nach Naxos zusammenschleppte; hier streiten sich zwei ihrer Häuptlinge um die schöne Pankratis und töten einander, worauf sie einem dritten zufällt. Ein Gutes hatte diese heroische Zeit: das systematische Verwüsten der Gegend, namentlich das Ausrotten von Pflanzungen, kam noch nicht vor, vielmehr blieb dies den Griechen der höchsten Bildungsstufe vorbehalten. Der Seeraub behauptete sich dann bei manchen Bevölkerungen bis tief in die historische Zeit hinein und hing z.B. bei den Phokäern mit allen ihren sonstigen Kühnheiten zusammen6; vom Seeraub eines Polykrates ist schon die Rede gewesen, und sein Bruder führte den hoffnungsvollen Piratennamen Syloson. Daneben war auch der Landraub noch bis ins V. Jahrhundert bei zurückgebliebenen Bevölkerungen, bei Ozolern, Akarnanen, Aetolern üblich, und man fand, dies sei eben nur die altertümliche Lebensweise7.

Die Ausschließlichkeit der Widerwille gegen alle andern Poleis, besonders die benachbarten, ist hier nicht nur ein vorherrschendes Gefühl, sondern beinahe ein Teil der Bürgertugend. Alle gegenseitigen Antipathien moderner Städte (welche doch hauptsächlich auf den Geschäftsneid hinauslaufen) geben keinen Begriff von dem bald mehr heimlichen, bald mehr offenbaren Groll, welchen griechische Städte gegeneinander hegten. Das Wenigste waren noch die übeln Nachreden und Spöttereien, womit man einander im Verlauf der Zeit zusetzte8; oft erhob man sich zur Zernichtung des Nachbars, und Argos hat Mykenä aus der Welt geschafft.

Es war noch das größte Verdienst der aristokratischen Zeit, daß sie im Ganzen den Frieden behauptete und für ihren Ehrgeiz den Ausweg der agonalen Siege fand. Von dem unruhigen V. Jahrhundert an nehmen die gewaltsamsten Ausbrüche des Städtehasses ihren Gang9.

Zwar hat das Bewußtsein der Gemeinsamkeit des dorischen oder ionischen Stammes bei großen Stürmen, wie der Perserkrieg und der peloponnesische Krieg, noch teilweise darüber entschieden, zu welcher Gruppe eine Polis sich schlagen sollte, aber in der nächsten Nähe und zwischen den nächsten Stammesgenossen kannte man von jeher keine[272] Rücksicht. Die lakedämonischen Dorer haben die messenischen nach Kräften vertilgt, bloß weil sie deren Landgebiet wünschbar fanden. Den Göttern und Heroen aber einer anzugreifenden Stadt machte man etwa ein Kompliment, indem man sie einzuwilligen bat, daß die, welche zuerst Unrecht begangen, bestraft würden und die gesetzlichen Angreifer ihre Genugtuung erhielten.10

Inzwischen aber hatte die Polis ihre Lebenszüge und Konsequenzen zu entwickeln Zeit gehabt. Wir sprechen nicht von der Schutzlosigkeit des Einzelnen in einer Stadt, wo er nur als Fremder verweilte, denn dies mag sich überall nicht viel anders verhalten haben, und wer möchte sich mit Kleinigkeiten dieser Art aufhalten neben dem großen und furchtbaren Hauptphänomen, welches sich im Verhalten von Staat gegen Staat kundgibt?

Wer die Polis in ihrem Innern, in ihrer Härte gegen unterdrückte Parteien, dann in ihrem nächsten Umkreise als Unterdrückerin alter griechischer Landbevölkerungen kennen gelernt hat, der wird in ihrem Benehmen nach außen nichts als eine Fortsetzung derselben Logik erkennen. Je fieberhafter aber mit dem V. Jahrhundert das Leben innerhalb der Poleis sich gestaltete, desto häufiger wurden auch ihre Fehden nach außen, desto kürzer die Friedenspausen, desto unsicherer die Verträge; mehr und mehr wurde der einzelne Staat sich bewußt, daß alle andern seine Lebenskonkurrenten seien11, und benahm sich jetzt erst recht danach, so daß die Zeit der höchsten Kulturblüte auch die der greulichsten Exekutionen ist.

Zwar, wenn man den Griechen hört, hätte es heilige Gesetze der Milde im Sieg gegeben12: Die Städte nicht von Grund aus zu zerstören, solche, die sich mit ausgestreckten Händen ergeben, nicht zu töten, die Gefangenen um bestimmten Loskauf freizugeben, die Leichen der Gefallenen auszuliefern, gefangene Jungfrauen nicht zu schwächen usw. Ja die Nation bildete sich zuletzt wirklich ein, hellenisch und menschenfreundlich seien gleichbedeutend13, und schon bei der Einnahme von Ilion hätten die Sieger ganz in hellenischer Art (πάνυ Ἑλληνικῶς) ausrufen lassen: Jeder dürfe[273] sein Liebstes mitnehmen, worauf Aeneas die Hausgötter und den Vater forttrug14. Der Mythus verwies den Fremdenmord gerne ins weite Ausland, an die taurische Küste zur Artemis, nach Thrakien zu jenem König, der die Leute seinen Rossen vorwarf, nach Libyen zum König Lykos, der die Fremden seinem Vater Ares opferte, oder an den Strand von Ägypten zum Busiris; nur übte man jetzt daheim etwas häufig den Griechenmord. Jene angeblichen Bräuche der Milde gingen, wo sie beobachtet wurden, nur aus ganz praktischen Absichten, aus Furcht vor Vergeltung und Begier nach Loskaufsummen hervor, und mit dem Ansuchen um Herausgabe der Leichen gestand ein Heer, wie sich zeigen wird, seine Niederlage ein; öfter aber werden eben jene Bräuche bei solchen Anlässen genannt, da man sie mit Füßen trat. Das Schonen von Tempeln endlich wirkt nur wie ein Frevel mehr, wenn daneben eine ganze Bevölkerung vertilgt wird. Dasjenige, wovon nun zu berichten ist, geschieht zum Teil gleichzeitig mit Phidias, Iktinos, Zeuxis, Parrhasios und allen Finessen der chorischen Metrik und der Konversation, und wenn die großen Tragiker (wie bekannt) Mykenä und Argos durcheinander mischen, so hatte dies wenig zu sagen, daA4 die Argiver im Jahr 468 v. Chr. die Mykenäer teils als Sklaven verkauft, teils in ferne Lande zersprengt und deren Stadt, wie auch Tirynth, wüste gelegt hatten15.

Im Kriege galt es zwar bei allen alten Völkern als ein ewiges Gesetz, daß Menschen und Habe, σώματα καὶ χρήματα, dem Sieger irgendwie gehörten16. Aber bei den Griechen kam hinzu, daß eine Menge kleiner Staaten nebeneinander lebten, jeder in unbedingtem Egoismus von dem Wunsche und der Absicht beseelt, alles zu tun, nicht nur was zu seiner Erhaltung notwendig wäre, sondern auch was in weiterm Bezug wünschbar und bequem erscheinen würde. Sparta sagt es sehr deutlich durch den Mund seines furchtbaren Königs Kleomenes, als er ohne irgend einen Grund Argos angriff17: »was einer dem Gegner irgend Böses zufügen kann, gilt bei Göttern und Menschen als allem Recht vorangehend«. Auch die übrigen Poleis begehen dann die entsetzlichsten Dinge nicht einmal in sonderlicher Leidenschaft, sondern wohlerwogener Maßen, aus sogenannter Notwendigkeit, und gar nicht bloß gegen eigentliche Feinde, sondern gegen solche, welche zu opfern irgendwie zweckdienlich erscheint, überhaupt nicht aus zwingenden Gründen der Kriegsführung,[274] sondern aus politischem Hasse. Die Macht auf Erden hat sich von jeher, wenn ihr Interesse ins Spiel kam, vieles gestattet, aber in großen Staaten bändigt sie die vielen kleinen Einzelkräfte und hat in der Regel und auf lange Zeiten den Wunsch, nach außen Frieden zu halten. Griechische Poleis dagegen sind Kleinstaaten, deren innere Unruhe seit dem V. Jahrhundert beständig auf Regung nach außen drängt und sich, sobald Krieg ausgebrochen ist, das Äußerste für erlaubt hält; sehr schwer aberA5 ist ihnen die Anerkennung von Hegemonie und Heeresfolge und ganz unmöglich die Unterwerfung unter andere Poleis. Wer eine Stadt aus irgend welchen Gründen besitzen will, muß daher die Bürgerschaft zernichten; die Folge ist die äußerste Gegenwehr, und, wenn man besiegt wird, die möglichste Ausrottung18. Ausrottung im Kleinen und in der Nähe aber macht tatsächlich einen ganz besonders empörenden Eindruck. Man handelt fortwährend, als ob das griechische Menschenkapital unerschöpflich und kein Persien, keine lauernde Barbarenwelt mehr vorhanden wäre. Unaustilgbar bleiben jene beiden erhaltenen Protokolle über das Schicksal von Platää und Melos19. Der heldenmütige Rest der Platäer, nach einer berühmten Belagerung, hat (427 v. Chr.) mit den Spartanern daraufhin kapituliert, daß spartanische Richter über sie entscheiden sollten; es erscheinen fünf solche, mit dem geheimen Auftrag, den Thebanern zu Gefallen (welche in diesem Krieg noch Sparta nützlich sein konnten) das Todesurteil über jene zu sprechen. Dies verrät sich sogleich durch die kalte, bornierte Jakobinerfrage, welche an jeden einzelnen Platäer gestellt wird: ob er sich im gegenwärtigen Krieg um die Lakedämonier und ihre Verbündeten verdient gemacht habe? – Und da keiner dies bejahen kann, werden sie alle hingerichtet, die Weiber zu Sklavinnen gemacht und die Stadt zunächst ausgetriebenen Megarern zum Wohnen überlassen, dann aber durch die Thebaner von Grund aus zerstört und die Feldmark verpachtet. Und dieselben Thebaner hatten einst bereits bei Xerxes eine frühere Zerstörung von Platää durchgesetzt und zerstörten es später abermals, als nach dem antalkidischen Frieden (387 v. Chr.) die zersprengten[275] Flüchtlinge die Stadt wieder bevölkert hatten20; erst Makedonien stellte dieselbe bleibend her. – Die vollständigste Philosophie der Macht des Stärkern jedoch enthüllt sich in der entsetzlichen Verhandlung zwischen den Athenern und den Bürgern von Melos (416 v. Chr.), welchen man mitten in Frieden und Neutralität die Untertanenschaft zumutete, wobei die Athener vollkommen wohl wußten, daß Gegenwehr erfolgen und daher die Zernichtung der Schwächern unvermeidlich werden würde; in der Tat mußte man die Melier, nachdem sie sich wegen Hungers ergeben, ermorden, Weiber und Kinder als Sklaven verkaufen und die Insel an athenische Kolonisten geben21. Die Sympathie des Thukydides scheint dem jetzigen Leser etwas nach der Seite der Unglücklichen zu neigen, dochA6 vielleicht nur, weil der Leser den innern Schauder, welchen er bei dem so völlig objektiven Bericht empfindet, unwillkürlich auch dem Geschichtschreiber zutraut; der wirkliche Thukydides, Sohn des Oloros, wenn er mit zu beschließen gehabt hätte und damals nicht schon längst als unglücklicher Stratege verbannt gewesen wäre, hätte vielleicht auch die Melier zernichten helfen22. Aber freilich wehe, wenn einmal eine große Polis wie Athen ins Unglück kam und sich dann erinnern mußte, wie sie die kleinen behandelt hatte23.

Die bei den Siegern vorherrschend übliche Handlungsweise geht auf völlige Zerstörung (κατασκάπτειν) einer bezwungenen Stadt, wobei auch die Tempel und die Gräber nicht geschont werden; Götterstatuen nimmt der Sieger bisweilen mit sich24. Oder die Tempel – alleA7 oder einzelnebleiben stehen, wie zu Theben nach der Eroberung durch Alexander. Aus dem brauchbaren Material des gänzlich zerstörten Platää bauten die Thebaner einen neuen Heratempel und eine große Karawanserei von 200 Fuß[276] ins Gevierte und verpachteten die Feldmark. Andere Male wird die letztere samt den Ruinen der Stadt einem dort befindlichen Tempel geweiht25, wodurch jedem Wiederaufbau wirksamst begegnet wurde. Denn diesen mußte man vor allem verhindern, indem die Lage der Städte oft eine vortrefflich gewählte und daher die Herstellung derselben und die Neubildung einer rachedürstenden Bevölkerung vorauszusehen war, wenn man nicht vorsorgte. Hiezu diente auch die feierliche Verfluchung, ein uralter Brauch, meint Strabo26, sintemal schon Agamemnon die Stätte des zerstörten Ilion mit Fluch belegt habe, und dies möchten alle, welche dort später wieder eine Stadt bauen wollten, inne geworden sein. Auch Krösos habe alle die, welche das zerstörte Sidene wieder aufbauen wollten, mit Flüchen belegt.

Ließ man aber die Stadt bestehen, so half nur eine vollständige Neubevölkerung, und auch wenn die Stadt zerstört wurde, so durften die alten Einwohner nicht weiter existieren, damit sie nicht dereinst wiederkämen. Man mußte sie töten oder verkaufen. Die Regel war: Tötung sämtlicher Männer vom Jünglingsalter an und Verkauf der Weiber und Kinder in die Sklaverei27; die Sklaven wurden entweder ebenfalls verkauft oder in die siegreiche Stadt herübergenommen. Mordete man auch Weiber und Kinder, wie z.B. die Byzantier und Chalkedonier, als sie im Jahre 415 v. Chr. Bithynien durchzogen28, so geschah dies wohl, weil man nicht hoffen konnte, sie mit Vorteil als Sklaven zu verkaufen, während man etwa zu Hause schon Sklaven genug hatte. Von Platää und Melos war schon die Rede; auf Beschluß des athenischen Demos wurde bei der Einnahme von Skione (auf Pallene) die erwachsene männliche Bevölkerung ermordet29 und Stadt und Feldmark an die nach Athen geflüchteten Platäer gegeben. Bei der Eroberung von Mitylene auf Lesbos begnügte sich derselbe Demos mit Ermordung der nach Athen gesandten tausend »Schuldigsten« und einer Verteilung fast der ganzen Insel an attische Kleruchen; Schleifung der Mauern, Wegnahme aller Schiffe ging daneben mit. Andere Male wurden die Männer der eroberten Stadt zwar nicht getötet, aber in die Sklaverei verkauft30 oder einstweilen in harter, auf die[277] Länge todbringender Gefangenschaft gehalten, im Hinblick entweder auf hohen Loskauf oder auf einen Austausch gegen Gefangene der eigenen Partei. Es waren eine sehr rühmliche Ausnahme, als Kallikratidas in dem eroberten Methymna, als die Bundesgenossen verlangten, er solle die Bürger verkaufen, antwortete: wo er befehlige, solle kein Hellene verkauft werden; er ließ sie frei und verkaufte nur die vorgefundenen athenischen Söldner und die Sklaven. Sonst ging es wohl dem gefangenen Bürger gewöhnlich schlechter als dem gefangenen Söldner; denn diesen konnte man abziehen lassen oder in den eigenen Sold nehmen, weil an ihm keine Partei hing; eine solche nämlich glaubte man nur durch Mord oder Verkauf unschädlich zu machen. Als König Philipp Olynth nahm und zerstörte, diente beim Verkauf der Einwohner ein olynthischer Verräter als Taxator seiner Mitbürger, und es gab Griechen, die sich vom König Olynthier als Sklaven schenken ließen31. Die gefangenen Athener der sizilischen Expedition sind in den Steinbrüchen von Syrakus, wo man sie zum Verkauf auf behalten wollte, größtenteils verschmachtet, nachdem eine Anzahl durch Gunst waren hinausgebracht worden32. Der Jammer sollte später vergolten werden angefangenen Syrakusiern der peloponnesischen Flotte in den Steinbrüchen des Piräus, doch konnten diese den Fels durchbrechen und entweichen33. Bei der geringsten Verlegenheit konnte es vorkommen, daß man Kriegsgefangene tötete, nur um sie nicht länger mitführen und speisen zu müssen; ein peloponnesischer Flottenführer, Alkidas, verfuhr so mit wehrlos überraschten Zwangsverbündeten der Athener, die keine Hand gegen ihn erhoben hatten34; waren ja doch gleich von Anfang des Krieges an friedlich daherfahrende Kaufleute neutraler Staaten sowohl als athenischer Verbündeter, kurz, wen man zur See antraf, von den Spartanern ermordet worden35. Und wer will von Griechen besseres erwarten? etwa von Sparta, das tausend seiner eigenen tüchtigsten Heloten in den Krieg sandte, damit sie aufgerieben würden36 und dann erst daheim die bekannten Zweitausend heimlich morden ließ aus bloßer Zweckmäßigkeit37? – oder von Staaten überhaupt, welche in Vertilgung von Parteien[278] im Innern jedes Maß zu verlieren im Begriffe waren? wie hätten sie gegen äußere Feinde auch nur vernünftig, geschweige denn menschlich verfahren sollen? Wohl mag hie und da in Abrechnung zu bringen sein, daß die absolute Wortlosigkeit, welche man im Kriege noch zu den »Stratagemen« rechnete, den Gegner, wenn er siegte, zu schrecklicher Vergeltung reizte und zu berechtigen schien; es geschah aber gar zu vieles durch Überfall gegen völlig Wehrlose. Im Verlauf des peloponnesischen Krieges sandten einst die Athener aus Geldmangel 1300 thrakische Söldner fort, mit dem allgemeinen Auftrag, die Feinde Athens zu schädigen38; sie überfielen das völlig ungerüstete böotische Mykalessos, plünderten Häuser und Tempel und mordeten Alt und Jung, auch Weiber und Kinder und eine ganze Knabenschule, sogar die Zugtiere und alles Lebende; freilich waren es blutgierige Thraker, aber der sie führte, war der Athener Diitrephes, welcher sehr wohl wissen mußte, wohin er seine Leute lenkte.

Die Vergeltung kam dannA8 mit Aegos Potamoi; die Athener hatten für den Fall des Sieges beschlossen gehabt, allen Gefangenen die rechte Hand abzuhauen39; sie hatten noch neulich die Mannschaft zweier Trieren zu Tode gestürzt, und Lysander, der das Gericht der siegreichen Bundesgenossen präsidierte, tötete eigenhändig den athenischen Strategen, der die letztere Maßregel befohlen hatte, dann wurden alle 3000 gefangenen Athener ermordet. Daß man Athen hernach nicht zernichtete, wie die Korinther, Thebaner und andere verlangten40, hing nicht an dem edelmütigen Grund, welchen die Spartaner vorbrachten: eine Hellenenstadt, welche in Gefahren der Nation so große Dienste erwiesen, dürfe nicht in Knechtschaft gebracht werden, sondern an der Erwägung, daß man besser tue, einen letzten Verzweiflungskampf nicht hervorzurufen und daß man mit der Zernichtung Athens nur Theben groß machen würde.

Statt des Abhauens der rechten Hand der Überwundenen gab es auch attische Volksbeschlüsse auf bloßes Abhauen des Daumens derselben, damit die Hand später wohl noch das Ruder, aber nicht mehr den Speer führen könne; dabei ist, wie man denken sollte, vorausgesetzt, der Besiegte – sei er Aeginet41 oder Verbündeter der Spartaner42 – werde als Rudersklave eingestellt. Wenn das Wappen oder Abzeichen einer siegenden43[279] Stadt den Gefangenen mit glühenden Eisen ins Gesicht gebrannt wurde, so mag dies geschehen sein teils zur Kontrolle beim Nachzählen der Leute, teils um das Entlaufen zu erschweren, ganz gewiß aber um auch den wieder frei Gewordenen eine Schmach auf Lebenszeit anzuhängen44. Es kommen noch verschiedene Degradationen vor; die Mitylenäer straften abgefallene und wieder unterworfene Bundesgenossen damit, daß bei denselben der Jugendunterricht im Lesen und Schreiben und in der Musik verboten wurde45. Wie eine Art von Milde nimmt es sich aus, wenn eine Einwohnerschaft nur ausgetrieben wird, wie die Athener mit den seit 30 Jahren zinsbar gemachten Aegineten im Jahre 427 v. Chr. taten, »indem es sicherer schien, athenische Kolonisten auf der Insel wohnen zu lassen«. Lehrreich aber waren dann die weitern Folgen: als die Athener später das peloponnesische Thyrea in ihre Gewalt bekamen, wo flüchtige Aegineten wohnten, brachten sie dieselben doch nach Athen und töteten sie »aus altgewohnter Feindschaft«, d.h. sie bewiesen, daß sie früher bei der Austreibung nur eben nicht die Kraft zur Zernichtung aller gehabt hatten; nach dem Sturze Athens aber führte Lysander die übrigen Flüchtlinge zurück, und nun wird man sich nicht wundern, wenn diese keinem Athener mehr das Betreten der Insel gestatten wollten. Aegina hatte einst auch gegen die Perser, zumal bei Salamis, auf das Ruhmvollste mitgekämpft und war auch eine Stätte hoher Kunst gewesen wie Athen; der Neid der großen Nachbarin aber hatte zuerst die drückendste Unterwerfung und später die Austreibung verlangt. Hatte doch auch den Mykenäern gerade ihr Ruhm vom Perserkriege her und der daherige Neid der Argiver zum Verderben gereichen müssen.

Da man einander unter Hellenen kannte und wußte, daß dem Besiegten nicht nur Unterwerfung unter eine politisch und kriegerisch stärkere Macht, sondern die völlige Vernichtung bevorstand, indem der Sieger die ganze Habe rauben, die Feldmark an sich ziehen, die Einwohner töten oder verkaufen würde, daß also der Untergang der Polis auch der Untergang aller einzelnen sein würde, bekam auch die Gegenwehr den Charakter einer Verteidigung des ganzen allgemeinen und persönlichen Daseins, und je unruhiger die Zeiten wurden, je näher und häufiger diese[280] Schicksalsproben gegen die Städte herangeschritten kamen, desto gewisser konnte die Polis auf jeden Bürger als Krieger zählen, und desto beharrlicher wurde die Verteidigung. Hier mag der Aufwand von Mut und Verzweiflung sehr viel größer gewesen sein als in den Schlachten. Alle Gefühle so zahlreicher und so verschiedener Menschen verwandelten sich in das eine des Widerstandes46. Aus solcher Stimmung erklären sich jene Städteverteidigung bis auf das Äußerste, mit aller Kraft der Verzweiflung, selbst noch in spätgriechischen Zeiten, z.B. die Gegenwehr der Abydener gegen den jüngern Philipp von Makedonien im Jahre 200 v. Chr. Der Angreifer mußte dies zum Voraus in Rechnung ziehen, und manche Belagerung wird deshalb wohl unterblieben sein. Auch im Felde kam es vor, daß ein Anführer auf eine Schlacht verzichtete, weil er bei den Gegnern ἀπόνοια, Bereitschaft zum Äußersten, gewahr worden war47. Was aber die Athener betrifft, so bleibt es dabei, daß sie, die 415 im Falle des Sieges die Syrakusier in die Knechtschaft verkaufen und 405 bei Aegos Potamoi den Gegnern die rechte Hand abhauen wollten, bei der Belagerung durch Lysander es für sich an dem wahren Verzweiflungsmut fehlen ließen.

Zu den bekannten Druckmitteln im Kriege gehörte, daß man einem Gegner die Leichen der Seinigen nur herausgab, wenn sein Verlangen danach zugleich ein Bekenntnis der Niederlage sein sollte, und dies hing dann z.B. bei unentschiedenen Schlachten einzig von dem höhern oder geringern Grade von Pietät ab48. Sonst ließ man die feindlichen Leichen wohl meist unbestattet, obwohl dies ein Greuel auch für die obern Götter49 und überhaupt vom Entsetzlichsten war, was man tun konnte. Es wollte viel heißen, wenn der Athener Kineas, dessen Bruder gefallen war, erklärte: lieber möge derselbe unbestattet bleiben, als daß den Feinden eine Niederlage zugestanden werde50.

Eine besondere Beachtung verdienen die planmäßigen Verwüstungen in Feindesland. Soweit sie zur Schädigung des Feindes als Kriegsmittel dienen, kommen sie bei allen Völkern und in den verschiedensten Zeiten vor; in unserm Mittelalter zernichtet man z.B. offene Dörfer, um deren[281] Herrn arm zu machen und dadurch zum Nachgeben zu bringen; zu diesem Zwecke werden die Häuser verbrannt, die Bauern ermordet oder verscheucht, das Vieh – wenn es die Eigentümer nicht vorher selber getötet haben – geraubt und ebenso alle übrige Habe. Deshalb wäre auch bei den Griechen das Verwüsten und BrandlegenA9, δῃοῖν und πυρπολεῖν, nichts Besonderes. Anders verhält es sich mit dem Fällen der Bäume, τέμνειν, δενδροτομεῖν, dessen Zweck über den gegenwärtigen Krieg weit hinausgreiftA10 und einem ganz unversöhnlichen und alten Haß entstammt. In deutschen Fehden, wie z.B. in der der Nürnberger mit Albrecht Achilles wird beim Fällen von Wäldern wenigstens noch ein Zweck genannt: das Holz soll anderswo zum Bauen dienen, sowie das Zimmerwerk, das man von abgebrochenen Häusern mit fort nahm51. Bei den Griechen dagegen macht man ganze Generationen wütend durch die Ausrottung namentlich des so langsam wachsenden Ölbaumes. Einsichtige wußten, daß das Umhauen der Bäume, überhaupt alles, was über das Zernichten einer Jahresernte hinausgehe, nicht Entmutigung, sondern ganz unversöhnliche Erbitterung pflanze52, und schon König Archidamos warnte bei der Besetzung von Attika – wenn auch umsonst – man möge das Land nur als Pfand behandeln, gerade weil es so trefflich angebaut sei, und nicht durch dessen Verwüstung die Athener zum Äußersten (ἀπόνοια) reizen und damit erst recht unbesiegbar machen53. Die Gewohnheit war stärker; es konnte später einem spartanischen König den schwersten Verdacht zuziehen, wenn er die Verwüstung unterließ, wie z.B. dem Kleombrotos, als er Böotien schonte54; Agesilaos aber, als auf einem Feldzug – ebenfalls in Böotien – die Bundesgenossen seinem Befehl des Verwüstens und Baumfällens nicht recht Folge leisteten, widerrief zwar den Befehl, ließ sie jedoch mehrmals an einem Tage das Lager wechseln, so daß sie durch das bloße Holzen für Baracken ebendenselben Schaden anrichteten55. Es kommt überhaupt eine furchtbare Summe heraus, wenn man die Verwüstungen zusammenrechnet, welche Agesilaos auf griechischem Boden geübt hat. Und auch die Athener, z.B. die Flüchtlinge, welche gegenüber den dreißig Tyrannen die Freiheit erkämpften, haben sich nicht mit Zernichtung des Getreides und Brandlegung auf dem eigenen Gebiete begnügt, sondern auch die Pflanzungen[282] zerstört56, wahrscheinlich, weil man es schon nicht mehr anders wußte, als daß dies zur Feindseligkeit gehöre57.

Gab es denn unter den geistig hoch stehenden, weitere Schicksale überblickenden Denkern und Patrioten Niemand, der über diese Art des Kriegsführens der Nation ein deutliches Wort zugerufen hätte? Wohl gab es solche Leute, und wenn man hätte hören wollen, so fehlten die Warnungen nie. Wir meinen nicht die Festredner, welche sich seit Gorgias mit gut gemeinten, aber wohlfeilen allgemeinen Vermahnungen zur Eintracht unter Hellenen und zum Kampf gegen Barbaren hören ließen; – auch nicht die oft sehr schönen Ausdrücke der allgemeinen Friedenssehnsucht, z.B. in den Worten des Chores an die Friedensgöttin bei Aristophanes58, – sondern nur die Mahnungen zur Menschlichkeit. Im großen Kriegsrat des Xerxes legt Herodot59 dem Mardonios die Worte in den Mund: »in den Kämpfen der Griechen untereinander werden die Unterlegenen völlig zernichtet, und doch sollten die Griechen, schon weil sie die gleiche Sprache reden, die Streitigkeiten vorher beseitigen durch Herolde und Boten und auf jede andere Weise als durch Schlachten.« Auch Aristophanes läßt seine Lysistrata zu Athenern und Lakonen sagen60: »Aus demselben Weihwasser, als Stammesgenossen benetzt ihr die Altäre in Olympia, (Thermo-)Pylä, Pytho, und wie viele andere ich noch nennen könnte, wenn Umständlichkeit von Nöten wäre, – und dabei zernichtet ihr hellenische Männer und Städte, während Barbaren als Feinde in der Nähe stehen.« Am deutlichsten aber redet zu seiner ewigen Ehre Plato in seinem Werke61 vom Staat. Sollten Hellenen, frägt er, hellenische Bürgerschaften zu Sklaven machen dürfen und nicht viel eher auch Andere hindern dies zu tun? Sollten sie es nicht überhaupt zur Sitte machen, daß man des hellenischen Geblütes schone, τοῦ Ἑλληνικοῦ γένους φείδεσϑαι, aus Besorgnis unter die Knechtschaft der Barbaren zu fallen?62 Sollte man nicht überhaupt keine Hellenen zu Sklaven haben dürfen?[283] Man müßte auch die Gefallenen, nicht plündern, sondern den Feinden erlauben, die Leichen der ihrigen wegzutragen; keine Waffen besiegter Griechen dürften in Tempeln aufgehängt werden; in Feindesland sollte man bloß die Ernte des Jahres wegnehmen und auf Baumfällen und Brandlegung verzichten; Kampf zwischen Hellenen und Hellenen ist kein Krieg, da sie von Natur Freunde sind, sondern eine Krankheit, ein Aufruhr; den Namen Krieg verdient nur der Kampf zwischen Hellenen und Barbaren, weil nur hier ein Geschlecht dem andern fremd und entgegengeartet ist; gegen Barbaren mag man sich benehmen, wie jetzt leider Hellenen gegen Hellenen tun. – Wo Einzelne so dachten, redeten und schrieben, wird sich die Nachwelt es nicht nehmen lassen, das Volk, welches beharrlich anders handelte, um so schwerer zu verurteilen, zumal da es doch auch Ausnahmen gab; »Epaminondas und Pelopidas«, sagt Plutarch63, »haben nach Siegen nie Mord geübt und nie die Bevölkerung von Städten zu Sklaven gemacht.« – Im Kriege selbst hat einmal Chabrias64 zu seinen Soldaten gesagt: »wenn wir zur Schlacht gehen, so wollen wir annehmen, wir gehen nicht auf Feinde, sondern auf Menschen, welche Fleisch und Blut haben wie wir und von derselben Natur sind.« Laut Nepos war Chabrias ein wohllebiger Herr, der vielleicht schon deshalb andern nicht das Schlimmste gönnte, oder da seine Gegner auch Söldner waren wie die Seinigen, so hatte er nicht den Haß des Bürgers gegen sie. Auch beginnen die Geschichtsschreiber65, wo sie ihre Helden redend einführen, den einen für »milde Kriegsrache« plaidieren zu lassen, während der andere die volle Härte vertritt. Die Praxis aber blieb unter Hellenen die härteste, nur wurde später die Schwäche so groß, daß die Städte einander kaum mehr mit entschiedenen Angriffen zusetzen konnten, während die innern Umwälzungen noch ihren Gang weiter gingen. Plutarch66 sagt von der Zeit um den Anfang des II. Jahrhunderts v. Chr.: »So wie mit den schwindenden Körperkräften auch die Krankheiten schwächer zu werden scheinen, so hörten mit dem Vermögen auch die Kämpfe zwischen den griechischen Städten auf.« Doch kam es noch bis auf die Römerherrschaft vor, daß gelegentlich eine Stadt die andere überfiel, aus Not, um das Letzte wegzurauben.

Aber noch weit über diese Spätzeit hinaus, noch unter den römischen Kaisern, wurde die Erinnerung an Siege von Griechen über Griechen auf alle Weise wachgehalten. Zur Zeit des Pausanias feierten die Tegeaten67[284] ihre Halotien zum Andenken an eine Schlacht, in welcher sie viele Spartaner lebendig gefangen hatten, und so wird es in ganz Griechenland mit sehr vielen Festen gehalten worden sein. Schwerer zu ertragen als solcher Triumph des Augenblicks war die Masse bleibender Trophäen zur Verherrlichung der Städtekriege. Wohl gab es eine Sage68, wonach die »Vorfahren aller Hellenen« absichtlich nur hölzerne Siegeszeichen errichtet hätten, damit dieselben nur kurz dauerten, das wirkliche Griechenland aber wimmelte von den allersolidesten Denkmälern und Weihegeschenken aus innern Kriegen. Man wußte recht gut, daß dergleichen eine »unversöhnliche Feindschaft« begründe und hätte bei den makedonischen Königen in die Schule gehen können, welche solches unterließen69, weil sie ihre Nachbarn einst anders zu gewinnen hofften als durch beständige Erinnerung an erlittene Schlappen; aber die Griechen können sich das Tropaion gerade um so weniger versagen, als es vorherrschend das Monument eines Sieges über solche ist, die man nicht hat dauernd unterwerfen oder zernichten können, sondern nur dauernd kränken will. Namentlich waren die Stätten der höchsten gemeinsamen Festfreude und Gottesverehrung vollgepfropft mit Erinnerungen an Siege von Griechen über Griechen. In Olympia, und zwar mitten in der Altis, unter den Platanen, stand ein Tropaion der Elier wegen Abtreibung eines spartanischen Angriffs70; am Zeustempel, gerade unter der Nike des Paionios, hing der goldene Schild der lakedämonischen Bundesgenossenschaft wegen des Sieges von Tanagra über Argiver, Athener und Jonier71; auch war ja der nunmehrige Tempel selbst samt dem Zeus aus der Beute des Sieges der Elier über die Pisaten bezahlt worden. An der Siegesgöttin, welche die naupaktischen Messenier wegen Teilnahme an der Sache von Sphakteria hingestiftet hatten, war allerdings der Name der Besiegten – es waren die Spartaner! – nicht beigeschrieben, und zwar aus Besorgnis72. Vor allem aber war Delphi noch in der Kaiserzeit das große monumentale Museum des Hasses von Griechen gegen Griechen, mit höchster künstlerischer Verewigung des gegenseitig angetanen Herzeleids. Und dies Museum war noch fast vollständig, während das Land selbst voller Ruinen und Einöden lag, an welchen nicht Makedonier und Römer, sondern die Griechen selbst die Schuld trugen. Schon bei zweifelhaften Siegen sandten beide Parteien Waffen als Weihestücke nach Delphi, wie die Mantineer und Tegeaten im Jahre 423 v. Chr.73; beinahe alle[285] Thesauren74 des Heiligtums waren bei Anlaß von Siegen über Hellenen erbaut und angefüllt worden; dies kolossalste und figurenreichste aller ehernen Gruppen war die der Spartaner wegen des Sieges über Athen75; die Stoa der Athener war ein Denkmal ihrer spätern Erfolge im Peloponnes usw. Zu spät jammert der gute Plutarch76 über solche Anatheme, indem er deren eine ganze Anzahl nennt und sie in eine Linie stellt mit den dortigen Weihgeschenken und Bildnisstatuen von Hetären. Die einzige Griechenstadt, »deren Tempel nicht mit Spolien von Hellenen, nicht mit Anathemen von Getöteten verwandten Blutes geschmückt waren, sondern mit Barbarenwaffen«77 war Korinth; letztere nämlich trugen die Inschrift: »Die Korinthier und der Stratege Timoleon haben die in Sizilien wohnenden Hellenen von den Karthagern errettet und diese Gaben den Göttern geweiht.«


Nun gab es zwischen den Städten längere und kürzere, oft auf Verträgen beruhende Friedenspausen, in welchen ein reger Verkehr herrschte; dieser aber verlangte, daß dem Nichtbürger in gewöhnlichen Zeiten einige Sicherheit gewährt werde. Bei den gegenseitigen Besuchen, mochte der Handel, die Festfeiern oder die Wanderungen zu Heiligtümern sie veranlaßt haben, bildete sich das Verhältnis der Gastfreundschaft, durch welches die griechische Nation in den Ruf einer ganz besonderen Gastlichkeit gekommen ist. Wir überlassen diesen ganzen Gegenstand der Altertumskunde78 und begnügen uns mit einigen unentbehrlichen Bemerkungen. Schön und weihevoll erscheint die Gastlichkeit des frühen heroischen Zeitalters, als ein Bedürfnis der einfachen Menschennatur zwischen ihre Kämpfe hinein; es tönt, als sehnte sich diese Heldenwelt nach einem Verhältnis der reinen Güte79, sei es gegen Leute aus der Ferne oder gegen Schutzflehende. Bei Homer lebt in diesen Dingen ein untrügliches Zartgefühl; zwischen Diomed und Glaukos stellt ein Gastrecht von den Großeltern her den Kampf still, sie wollen einander fortan in der Schlacht vermeiden und tauschen die Waffen80; es wird sogar davor gewarnt, mit einem Gastfreund sich im bloßen Wettkampf zu versuchen81. Und auch[286] der Arme ist geschützt; demA11 Zeus, sagen Nausikaa und Eumäos82, gehören alle Fremden und Darbenden an. Noch in der Frühzeit der Polis weissagt dann Hesiod83 denjenigen Städten Blüte und Gedeihen, welche Fremden sowohl als Einheimischen »gerade« Rechtssprüche gewähren; später verstand sich dies nicht mehr so von selbst, und der Grieche außerhalb der Heimatsstadt bedurfte vor Gericht und für seine Sicherheit überhaupt einer sehr besonderen Vertretung durch einen Bürger des Ortes, wo er sich befand, was hier samt allen übrigen Antiquitäten der sogenannten »Proxenie«84 unerörtert bleiben mag. Sind es ja doch nur Notbehelfe, die man z.B. in dem weiten persischen Reiche gar nicht gekannt zu haben scheint, indem hier, unter dem Königsdespotismus, jedermann sicher reisen und Geschäfte machen konnte, soweit einer seine Sache verstand und Geld hatte. Nur bei den Griechen, wo die Entwicklung der Polis eine Antipathie gegen alle andern Poleis hatte ausbilden können, bedurfte der Grieche einer andern Stadt jenes aparten Schutzes, den man dann mit anmutiger Sitte und Geist verbrämte. Wenn nun der Schein entsteht, als wären die Griechen vorzugsweise gastlich gewesen, so ist die Täuschung eine ähnliche, wie z.B. bei der spartanischen Musikpflege; es ist von einer Sache viel die Rede, die sich anderswo einfach von selbst verstand.


Wenn man nun die Einheit der griechischen Nation nicht eben in dem gegenseitigen VerhaltenA12 der Poleis erkennen kann, so wird man sie zunächst doch in der gemeinsamen Religion zu finden erwarten. Und als gemeinsames Kulturelement ersten Ranges hatte dieselbe gewiß eine einigende Kraft; sie führte eine Welt von mächtigen Anschauungen mit sich, welche das ganze Volk teilte. Dazu kamen die großen gemeinsamen Heiligtümer85, Festorte und Orakel, wo sich zumal zugeweihten Zeiten Hellenen und Kolonialhellenen zusammenfanden, wo man inne wurde, »wie groß die Nation war«; solche Stätten erschienen dann wie ein gesteigertes Griechenland. Auch knüpfte sich an die großen Festzeiten ein Gottesstillstand für die Kriege, und hie und da bei solchen Anlässen[287] wurde sogar eine Fehde gänzlich abgestellt86. Der Gottesfriede von Olympia, die heilige Neutralität von ganz Elis haben ihre eigene Geschichte. Wirkliche Kriege jedoch sind durch die Feste nicht verhindert und kaum momentan unterbrochen worden; man wollte nur von alters her die Vereinigung zu Opfer, Wettkampf und Markt nicht entbehren, und ohne das olympische Fest wäre keine Ordnung in die Chronologie gekommen, indem überall daneben örtliche Zeitrechnungen mit besonderen Jahren und Monaten fortdauerten. Der Apoll von Delphi aber beriet auch Griechen im Kampf gegen Griechen, und seine Orakelstätte war, wie gesagt, mit Denkmälern des gegenseitigen Hasses reichlich versehen. Ja die griechische Religion konnte ihrer innern Natur nach unmöglich das eigentliche Band der Nation sein; in ihrer Hauptstärke, nämlich als Religion der einzelnen Polis, ihrer Tempel und Gräber, steigerte sie eher das Vermögen des Hasses gegen andere Städte; ihre Götter sind im Streit unter sich und spiegeln das hadernde hellenische Menschenleben wieder; auch gehen Polytheismen gerne auf Fusion aus und scheiden ihre Völker nicht von andern Völkern. Sobald der griechische Götterglaube sich irgendwo in der Fremde umsieht, fühlt er sich mit allen andern Religionen verwandt, welche eine Mehrheit von Göttern haben, und erzwingt z.B. eine enge Verbindung mit der ihm so fremden ägyptischen Götterwelt.

Viel eher als die Religion verknüpfte der Heldenmythus durch sein großes Organ, die epische Poesie, das ganze Volk, indem er den Charakter eines gemeinsamen Besitzes hatte. Wie viele Blüten von allen Seiten her zusammengeweht sein mochten, bis dieser Wunderwald von Sagen erwuchs, kam nicht in Betracht, sobald sich der epische Mythus zum großen Abbild der Nation und ihres gesamten Fühlens, Sinnens und Strebens gestaltete. Mochten die Hauptzüge der Oedipodie, der Agamemnonie usw. auch bei andern Völkern vorkommen, so trat eben dies allgemein Sagenhafte hier in rein griechischer Auffassung und reichster Ausbildung zu Tage. Der Mythus hatte aber auch eine unmittelbare Anwendung auf die Einheit des Volkes in sich, insofern seine Heroen außer ihren sonstigen Taten sich zu gemeinsamen Unternehmungen versammelt hatten, welche bereits ein ideales Ge samtgriechenland darstellten. Bei der Argofahrt, bei der kalydonischen Jagd sind es in der anfänglichen Gestalt der Sage die Helden einer oder weniger Landschaften, in den spätern Erweiterungen aber gesellen sich solche aus allen Stämmen zusammen, bis endlich die gemeinsame Tat von Völkern und von Helden, der Zug gegen Ilion, zu Stande kommt. Thukydides87 faßt denselben ganz ernsthaft als die erste große gesamthellenische Unternehmung, als[288] Willensakt der ganzen Nation auf. Und so, wie die Helden die frühesten ruhmvollen Persönlichkeiten überhaupt sind, ist dann ihr Herold Homer die früheste geistige Zelebrität allgemein hellenischer Geltung, Homer aber wurde dann zugestandenermaßen das Hauptbildungsmittel von Jugend auf. Seit ihm ist die Griechenwelt erst recht eins; es gibt Griechen, soweit es eine Erinnerung an Heroen gibt; für die Außenlande (das südliche Kleinasien, Großgriechenland usw.) stellte sich eine Verbindung mit dem Mythus her hauptsächlich durch die Irrfahrten der von Troja Heimkehrenden (νόστοι); Diomed wurde der Herr des adriati-Meeres, Achill der des Pontus; dem Herakles gehörten längst alle Ufer des Mittelmeeres, mochte auch nur ein phönizischer Sonnengott von den Griechen als Sohn des Zeus und der Alkmene in Anspruch genommen werden. Auch die uralten Verwandten im Westen, die Italier, wurden von der Schönheit der griechischen Heldensage berührt und überwältigt, und selbst die dumpfen Etrusker empfingen auf den Fittichen der griechischen Kunst und vielleicht selbst der Dichtung eine reichliche Mitteilung davon.

War nun schon mit der Einheit des Mythus ein hoher Grad von Einheit der Bildung gegeben, so verstärkte sich dieselbe allmählich durch eine ganze Kultur, welche den Griechen als solche kenntlich machte, durch eine Fülle gemeinsamer Lebensformen aller Art, ohne welche zu existieren für ein Unglück gegolten haben muß, und welche den Griechen trotz allem Haß immer wieder mit dem Griechen zusammenführten. Dies Ganze war dann stark genug, um daheim zurückgebliebene Elemente – was man pelasgische usw. Reste nannte – zu assimilieren oder auszustoßen und zugleich in den Außenlanden und in den Binnenländern der Kolonien halbgriechische Bevölkerungen hervorzubringen, welche wenigstens eifrig alles Griechische zu verstehen wünschten. Vor allem hatte die griechische Sprache wahrhaft wundersame nationale Eigenschaften; aus verschiedenen Dialekten war frühe eine Sprache des epischen Gesanges emporgetaucht, überall verständlich und überall ersehnt, das edelste Gefäß für die Sagen und Anschauungen von Göttern, Welt und Heroen; wer aberA13 überhaupt nur griechisch konnte, wurde ein anderer Mensch, als was sonst auf der Erde lebte, und wer gut griechisch sprach, der wurde ein Hellene, weil er fähig war es zu sein. Endlich war das ganze griechische Wesen von derjenigen Kraft belebt, welche wir als agonale im weitesten Sinne des Wortes werden kennen lernen. Auf dieses alles gründete sich dann mit der Zeit eine bewußte Erziehung, παίδευσις, und als einmal Grammatik, Kitharspiel und Gymnastik die ganze Jugend der Städte beherrschte, verstand jeder von frühe an, um was es sich in diesem griechischen Leben handle.[289]


Quelle:
Jakob Burckhardt: Gesammelte Werke. Darmstadt 1956, Band 5, S. 270-290.
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