Drittes Kapitel.

Ariovist.

[518] Nach der Unterwerfung der Helvetier ließ Cäsar Deputationen gallischer Fürsten vor sich erscheinen, die ihn baten, sie von der Herrschaft des Ariovist zu befreien. Cäsar machte sich auf und stieß in der Gegend von Belfort oder im oberen Elsaß auf die Germanen.

Eine sichere Bestimmung des Ortes ist nicht möglich. Ariovist ging nicht direkt auf die Entscheidungsschlacht los, sondern umging das römische Lager und schlug eine kleine halbe Meile entfernt, an einen Berg angelehnt, seine Wagenburg auf, so daß er seine Reiter von dort aus vorschicken und die Straße, auf der die Römer ihre Lebensmittel bezogen, unterbrechen konnte. Da Ariovist nicht gedacht haben kann, ohne Schlacht fertig zu werden, ihm auch nicht daran gelegen haben kann, Cäsar einige Meilen zurückzumanövrieren, so dürfte der Zweck seines Manövers gewesen sein, Cäsar um der Verpflegung willen zu einer Rückwärtsbewegung zu nötigen und ihn dann im Marsche anzugreifen. Die Stärke seines Heeres lag in der Verbindung von Reitern und leichten Fußkämpfern, die miteinander eingeübt und sehr gefürchtet waren. Gegen diese Truppe trauten sich die gallischen Reiter, die Cäsar bei sich hatte, nicht heraus.

Dieses Waffenverhältnis, die Überlegenheit der Germanen in dem eigentümlichen Mischkampf muß auch zur Erklärung von Ariovists Manövererfolg dienen. Man könnte sich sonst kaum vorstellen oder müßte in Cäsar im Verhältnis zu Ariovist einen ganz inferioren Feldherrn sehen, daß es diesem gelungen ist, so unmittelbar am römischen Lager, also ganz nahe vorbei- und herummarschierend, seine Wagenburg aufzuschlagen. Auch wenn Cäsars Schilderung noch so sehr übertrieben ist, wenn nicht ganze germanische Völkerschaften[518] mit Weib und Kind, sondern sozusagen nur mobile Krieger mit einem kleinen Gefolge von Troß und Frauen die Bewegung gemacht haben, so sind bloß einige hundert Karren doch schon eine schwere Belastung und dürfen während des Zuges oder beim Aufmarsch zur Wagenburg nicht einem geordneten feindlichen Angriff ausgesetzt werden. Verständlich wird der Vorgang erst, wenn man hinzunimmt, daß Ariovist imstande war, seine Umgehungsbewegung gleichzeitig durch eine geschickte Benutzung des Geländes und durch die Hamippen zu decken. Nachdem die Umgehung gelungen war, beherrschte Ariovist die Ebene und fing die Zufuhren ab, und wenn das römische Heer sich nach irgend einer Richtung in Marsch setzte, so mußte es ihm sehr schwer werden, sich selbst und seinen Troß gegen die bald hier, bald dort ansetzenden Schwarmattacken dieser todverachtenden Barbaren zu verteidigen. Ariovist hatte mit vollendeter Geschicklichkeit operiert, aber Cäsar war ihm überlegen. Zunächst forderte er ihn wiederholt zur Schlacht heraus, indem er sein Heer in der Ebene aufmarschieren ließ. Ariovist hütete sich, aus seiner Wagenburg herauszukommen, und das hob die Moral der römischen Soldaten, die die Zurückhaltung der Germanen als Feigheit auslegten. Aber man mußte vor allem die Zufuhrstraße wieder frei machen. Cäsar rückte mit seinem Heer in Schlachtordnung auf einen Platz, der den Germanen den Eintritt in die Ebene in der Richtung auf Cäsars Zufuhrstraße versperrte, ließ die beiden vorderen Treffen in Schlachtordnung stehen und hinter ihnen von dem dritten eine Befestigung anlegen, die für zwei Legionen Platz bot und mit ihnen besetzt wurde. Vergeblich versuchte Ariovist, sobald das Gros der Römer in das Hauptlager zurückgekehrt war, das kleine Lager in einem schnellen Anlauf zu erstürmen. Cäsar konnte sich aus seine Anlage und die Besatzung so sehr verlassen, daß er nicht einmal das Gros zum Entsatz herausführte. Am andern Tage aber stellte er sich mit seinem ganzen Heer von neuem zur Schlacht auf und rückte nah an die germanische Wagenburg heran. Ariovist entschloß sich nunmehr, die Schlacht anzunehmen. Cäsar konnte es jetzt besser aushalten, als er; er hatte seine Verpflegung gesichert und die Germanen hatten durch Hinziehen nichts mehr zu gewinnen. Ariovist muß ja seit vielen Wochen oder Monaten auf das Herannahen des Krieges vorbereitet gewesen sein und hatte sicherlich alle verfügbaren[519] Kräfte herangezogen, ehe er den Römern entgegen ging. Er hätte ja sonst ohne Schwierigkeit und wesentliche Opfer noch weit zurückweichen und Cäsar hinter sich herziehen können. Aber das hat ihm gewiß sehr fern gelegen. Zu einem Sturm auf die germanische Wagenburg wiederum hätten sich die Römer sicherlich nicht verlocken lassen, und längeres Warten hätte, da sie die Herausfordernden waren, ihre Moral erhöht, die der Germanen geschwächt. Ariovist trat also aus seiner Wagenburg heraus und ordnete seine Krieger völkerschaftsweise zur Schlacht.

Abermals bewährte sich die Treffentaktik der Römer. Als ihr linker Flügel in Bedrängnis geriet, führte der junge Crassus, der eigentlich die Reiterei kommandierte, das dritte Treffen auf diese Seite und gewann durch diese Verstärkung, wie schon Cäsar auf dem andern Flügel, die Oberhand.

In Cäsars Erzählung vermissen wir jede Angabe über die Stellung und das Verhalten der Reiterei. Wo waren die gefürchteten germanischen Doppelkämpfer? Weshalb fielen sie nicht, nachdem sie die gallischen Reiter verjagt, den römischen Legionen in Flanke und Rücken, wie Hannibals Reiter bei Cannä? Daß sie durch irgend einen Zufall nicht zur Stelle gewesen, ist völlig ausgeschlossen, da Ariovist sonst nicht gerade an diesem Tage aus seiner Wagenburg herausgekommen wäre.

Auf die Beantwortung dieser Frage kommt natürlich alles an. Cäsar schweigt darüber. Die Antwort ist, glaube ich, bei seinem berufensten Kommentator, Napoleon I., zu finden, der in seinem Diktat auf St. Helena über die Kriege Cäsars, entgegen allen damaligen Anschauungen, ausspricht, daß die Germanen nicht stärker gewesen sein können als Cäsar. Wir dürfen einen Schritt weiter gehen: für das Fehlen der germanischen Reiter in der Schlacht gibt es nur die eine Erklärung, daß Ariovist an Fußtruppen so schwach war, daß er die Beigänger der Reiterei mit in die Infanterie hatte einstellen müssen. Diese Reduzierung ermöglichte es den gallischen Reitern, sich einigermaßen gegen die germanischen zu halten und ihnen die Flankenwirkung auf die Legionen zu versagen. Cäsar hat uns das verschwiegen, weil er weder die numerische Überlegenheit seines Heeres über das germanische, noch die Mitwirkung und das Verdienst der verbündeten gallischen Reiter erzählen wollte.[520]

Eine willkommene Bestätigung der Vermutung, daß Ariovists Heer nur sehr klein war, ergibt sich aus der Mitteilung Cäsars (I, 40) über die Art, wie der Germanenkönig die Herrschaft über die Gallier erlangt hatte. Monatelang, sagt er, habe er sich durch Sümpfe gedeckt im Lager gehalten (cum multos menses castris se ac paludibus tenuisset neque sui potestatem fecisset). Selbst wenn die Monate auch nur Wochen gewesen sein sollten, so ist doch damit schon mit Sicherheit ausgeschlossen, daß das Heer mehrere Zehntausende stark war, um so mehr, da es ja Weiber und Kinder mit sich führte und außer den Pferden sicherlich auch Viehherden zu füttern hatte. Mag man sich vorstellen, so unwahrscheinlich es ist, daß die Germanen noch viel mehr Getreide als selbst die Helvetier auf ihren Karren mit sich geführt haben, die Helvetier blieben in Bewegung und entnahmen die Fourage der Landschaft: die Germanen im Lager mußten ihre Pferde aus ihren Vorräten füttern. Sicherlich ist das Heer, das Ariovist den Römern entgegenführte, stärker gewesen als das, mit dem er erst seine Herrschaft begründete, aber der Kern war doch derselbe; man kann vielleicht an eine Verdoppelung, aber nicht an eine Verzehnfachung denken.

Die Feststellung der Tatsache der wahrscheinlich sehr erheblichen numerischen Überlegenheit der Römer macht uns nun rückwärts schauend auch Ariovists Manövrieren noch verständlicher und erklärt eine andere berühmte Episode dieses Krieges.

Als Cäsar auf seinem Vormarsch gegen Ariovist bis Besançon gekommen war, meuterten die Truppen und wollten ihm gegen die schrecklichen Germanen nicht weiter folgen. Cäsar sprach ihnen Mut ein, erzählte von jenem früheren Feldzug des Ariovist und schloß seine Rede mit der Verkündigung, wenn die andern nicht wollten, so werde er mit der zehnten Legion allein vormarschieren.

Wären die Germanen wirklich einem Heer von sechs Legionen an Zahl überlegen gewesen, so hätte die Ankündigung des Krieges mit einer Legion auf die Soldaten doch kaum einen guten Eindruck machen können; sie hätten von ihrem Feldherrn den Eindruck eines miles gloriosus gehabt. Cäsar wird aber noch einen Satz hinzugefügt haben, den er nicht in die Kommentare aufnahm: nämlich die Germanen seien so schwach an Zahl, daß er sich getrauen wollte, sie mit der zehnten Legion allein zu schlagen. Das werden[521] die Gallier den römischen Soldaten bestätigt haben, und daraufhin faßten die Römer sich ein Herz und ließen sich von ihrem Feldherrn in die ferne, unbekannte Wildnis zum Kampf mit den ungeschlachten germanischen Recken hinausführen.

Wir würden über diesen Feldzug viel mehr und mit größerer Bestimmtheit sprechen können, wenn wir imstande wären, mit einiger Sicherheit die Märsche der beiden Heere und das Schlachtfeld zu bestimmen. Nicht nur um Cäsars und der römischen Kriegskunst willen wäre das wünschenswert, sondern auch um der Gegner willen; Ariovist muß eine nicht nur gewaltige, sondern auch strategisch genial angelegte Persönlichkeit gewesen sein. Er geriet an seinen Stärkeren und ist zugrunde gegangen, aber in der Mitte zwischen den Cimbern und Arminius ist er ein gewichtiger Zeuge für die ursprüngliche kriegerische Veranlagung des germanischen Volkes. Von den Cimbern wissen wir so gut wie nichts, als daß sie römische Heere besiegt haben und endlich besiegt worden sind. Es wäre denkbar, daß sie keine andere Eigenschaft als rohe Kraft besessen haben, aber da wir sehen, wie geschickt und kühn, geradezu kunstvoll schon Ariovist manövriert, und wie wieder bald nach Ariovist Arminius vor unsern Blicken erscheint, so können wir nicht zweifeln, daß von Anbeginn an nicht bloß das sozusagen wilde, sondern auch das höhere, intellektuelle Moment des Krieges dem germanischen Geiste innewohnte und bedauern, daß wir nicht noch ein anschaulicheres, konkreteres Bild von der Führung des Ariovist gewinnen können.


1. Bei Dio Cassius finden sich hier und da Wendungen, die mit der oben vorgetragenen Auffassung des helvetischen und germanischen Feldzuges übereinstimmen. Als Quellenzeugnis sind sie jedoch nicht zu verwerten, seitdem J. MELBER in einem Münchener Programm (1891) »Der Bericht des Dio Cassius über die gallischen Kriege Cäsars« schlagend nachgewiesen hat, daß dieser Bericht nichts als ein rhetorisch überarbeitetes Exzerpt aus den Kommentaren ist. Auch diesem Bearbeiter aber entgingen die Lücken und Widersprüche in Cäsars Darstellung nicht ganz, und er hat sie zuweilen aus eigener Einsicht in der rechten Richtung ergänzt.

2. Schon Napoleon I. klagt in seinem Précis, daß Cäsars Schlachten in Gallien »ohne Namen« topographisch nicht zu fixieren und deshalb nicht vollständig zu beurteilen seien.

Unzählige Versuche sind gemacht worden, den Ort der Germanenschlacht zu bestimmen, aber keiner hat allgemeine Anerkennung gefunden.[522] Die Möglichkeit der verschiedenen Kombinationen wird in diesem Fall noch besonders dadurch vermehrt, daß eine der wichtigsten Lesarten unsicher ist. Die Cäsarhandschriften sagen übereinstimmend, daß die Römer die geschlagenen Germanen 5000 Schritt (passus) weit bis an den Rhein verfolgt hätten, also eine deutsche Meile. Plutarch aber, der aus Cäsar geschöpft hat, sagt 400 Stadien, das sind 50000 Schritte, und eben diese Zahl liest man bei Orosius, der ebenfalls auf Cäsar zurückgeht. Es ist also möglich, ja wahrscheinlich, daß die Zahl in den Cäsarhandschriften verdorben und die Flucht der Germanen nicht eine, sondern zehn Meilen weit bis an den Rhein gegangen ist. Das ist um so wahrscheinlicher, als nur eine Meile vom Rhein, also mitten in der elsässischen Ebene, die Manöver Cäsars und Ariovists gar nicht zu erklären wären; man bedarf notwendig eines von den Bergen in gewissen Beziehungen begrenzten und beengten Geländes.[523]


3. Kapitel. Ariovist

Dies würde durchschlagen, wenn nicht gelegentlich der rheinregulierung Wasserbautechniker zu der Ansicht gekommen wären, daß in alter Zeit ein Arm des Rheins durch das Gebiet der jetzigen Ill geflossen sei. Auf Grund dieser Feststellung hat GÖLER an den 5000 Schritten festgehalten und sucht das Schlachtfeld an der Südgrenze der Vogesen bei Sennheim (Cennay) nordöstlich von Belfort.

In dieselbe Gegend, aber in den Manövern entgegengesetzt, verlegt Napoleon III. die Schlacht.

40 Kilometer weiter nördlich an dem Fuß der Vogesen, zwischen Colmar und Schlettstadt, nahe bei Rappoltsweiler, sucht Oberst STOFFEL das Schlachtfeld. Nach der Schilderung dieses scharfblickenden Militärs und trefflichen Kenners des Cäsarischen Kriegswesens ist bei dem Dorfe Zellenberg eine Gegend, in die die von Cäsar geschilderten Manöver vollständig hineinpassen. Der Wagenzug der Germanen konnte etwa drei Kilometer von dem römischen Lager entfernt über die Vorberge der Vogesen hinübergeführt werden, wo die Legionen bergauf nur schwer einen Angriff auf sie machen konnten, und das kleine römische Lager wieder findet seinen Platz etwas südwärts, wo es den Germanen den Eintritt in die Ebene verschließt.

Gegen diese Hypothese hat WIEGAND 265 geltend gemacht, daß die Germanen aus einer Schlacht mit der Front nach Osten nicht den Rückzug zum Rhein hätten machen können. Der Einwand ist berechtigt, aber er läßt sich heben. Es ist sehr wohl möglich, daß die Germanen die Schlacht nicht unmittelbar vor ihrer Wagenburg um Zellenberg angenommen, sondern vorher eine Bewegung gemacht haben, so daß sie die Front nach Süden hatten. Cäsar berichtet eine solche Bewegung nicht direkt, sie kann aber erschlossen werden aus der Notiz, die Germanen hätten ihre Schlachtordnung mit ihren Wagen und Karren umgeben: sie haben also vor dem Gefecht mit der Wagenburg tatsächlich irgend eine Bewegung gemacht. Das Motiv, das Cäsar angibt, »damit keine Hoffnung der Flucht bleibe«, gehört in die Gattung der mit Ketten aneinandergeschlossenen Glieder in den Cimbernschlacht, und überdies sind die Germanen, wie wir nachher hören, trotzdem geflohen.

Nicht so leicht ist ein anderer Einwand zu beseitigen, den Colomb und Stolle266 erhoben haben. Cäsar sagt, daß er am siebenten Tage seines[524] Abmarsches von Vesontio von der Annäherung des Ariovist Meldung erhalten und das Lager geschlagen habe, in dessen Nähe nachher die Schlacht stattfand; er habe jedoch nicht die gerade Straße genommen, sondern um durch offenes Gelände zu marschieren, einen Umweg, circuitus, gemacht von 50000 passus = 10 deutschen Meilen. Stoffel, wie die meisten andern, faßt nun den circuitus nur als einen Teil des ganzen Weges auf, nimmt an, daß das römische Heer in den sieben Tagen bis in die Gegend von Rappoltsweiler marschiert sei, was eine tägliche Marschleistung von 27 km im Durchschnitt bedeutet. Das ist gewiß keine unbedingte Unmöglichkeit, aber doch eine so starke Leistung, daß wir zum wenigsten ein Motiv für eine derartige Anstrengung finden können müßten. Ein solches Motiv ist aber nicht ersichtlich. Unmöglich kann Cäsar seine Truppen abgehetzt haben, in der Hoffnung, durch einen Gewinn von zwei oder drei Tagemärschen Ariovist noch unfertig gerüstet zu überfallen. Ariovist hätte, wenn er noch Verstärkungen erwartete, statt Cäsar entgegenzugehen, bloß stehen zu bleiben oder höchstens einen Tagemarsch zurückzugehen brauchen, um alles wieder auszugleichen. Auch wäre es, wenn Cäsar solche Gedanken gehabt hätte, unverständlich, weshalb er, als ihm gemeldet wird, Ariovist sei noch 38 km entfernt, Halt macht und ein Lager aufschlägt, statt ihm zu Leibe zu gehen. Colomb und Stolle haben also darin recht, daß unter den obwaltenden Umständen Cäsar nicht in sieben Tagen von Besancon nach Rappoltsweiler gelangt sein kann.

Trotzdem möchte ich die Stoffelsche Hypothese nicht aufgeben. Wir verlassen uns darauf, daß Cäsars Angabe, er sei sieben Tage marschiert, unbedingt richtig sei. Aber ist das so sicher? Der Bericht ist erst acht Jahre nach dem Ereignisse niedergeschrieben worden. Es ist möglich, daß irgendeine gleichzeitige schriftliche Aufzeichnung dabei eingesehen worden ist; aber vielleicht ist sie auch nicht eingesehen worden, vielleicht enthielt sie keine Zeitangabe. Wenn wir in einem späteren Bande die Memoiren Friedrichs und Napoleons über ihre Feldzüge durchzugehen haben werden, die wir urkundlich kontrollieren können, wird man sehen, wie viele und wie starke Irrtümer, auch ohne jede Tendenz, sich dabei eingeschlichen haben. Es ist keineswegs ausgeschlossen, daß Cäsar sich in seiner Erinnerung getäuscht und daß der Marsch nicht sieben, sondern neun oder zehn Tage gedauert hat, und damit ist der Einwand gegen Stoffel behoben.

Noch weniger Gewicht lege ich auf den anderen, daß von Rappoltsweiler bis zum Rhein die Verfolgung nicht zehn Meilen weit gegangen sein könnte. Der direkte nächste Weg zum Rhein würde allerdings nur etwa 21/2 Meilen betragen haben, aber wenn die Schlacht mit der Front nach Süden geschlagen wurde, so konnten die Germanen nur in einem sehr spitzen[525] Winkel an den Rhein gelangen, und es ist auch nicht ausgeschlossen, ja höchst wahrscheinlich, daß Cäsars Angabe wieder sehr übertrieben ist.

Einer so weitgetriebenen Skepsis gegenüber wirft vielleicht jemand die Frage auf, wie wir für die Perserkriege überhaupt wagen könnten, etwas auszusagen. Hier haben wir die Aufzeichnung eines vielleicht befangenen und einseitigen, aber eines sachkundigen und mithandelnden Zeugen ersten Ranges – dort die Niederschrift eines gänzlich sachunkundigen Erzählers, der das Gerede der Leute nach einem halben Jahrhundert wiedergibt. Gewiß ist Cäsar eine unendlich viel bessere Quelle als Herodot, und ich möchte zunächst umgekehrt denen gegenüber, die Herodot nacherzählen zu dürfen glauben, betonen, daß, wenn selbst bei Cäsar so große Vorsicht geboten ist, Herodot noch viel verdächtiger erscheinen muß. Für die historische Erkenntnis der Perserkriege brauchen wir aber dennoch nicht zu verzweifeln, denn gerade hier besitzen wir ein Hilfsmittel der Sachkritik, das wir bei Cäsar so schmerzlich entbehren: die Perserschlachten sind topographisch fixierbar, und das Gelände ist ein so wesentlicher Teil jedes Gefechts, daß, wo wir diesen Zeugen sicher haben, viele Ungenauigkeiten der überlieferten Erzählung dadurch aufgehoben werden.

Die früheren Hypothesen über den Ort der Ariovistschlacht haben alle den Fehler, unerklärbare sachliche Schwierigkeiten zu bieten. Die Gölersche, die überdies die Einschiebung eines von Cäsar nicht berichteten Marsches der Legionen erfordert, gibt namentlich für das kleinere römische Lager und seinen Zweck keinen passenden Platz. Napoleon III. läßt die Germanen ihre Umgehung durch die elsässische Ebene machen, wo ihnen das Gelände keinerlei Schutz gegen einen römischen Flankenangriff während des Marsches geboten hätte. Die Stoffelsche Hypothese hebt alle sachlichen Schwierigkeiten. Es ist auch durchaus verständlich, daß Ariovist, in dem Bewußtsein, daß seine Stärke in seinen Doppelkämpfern liege, die Römer erst ganz in die elsässische Ebene hineinkommen ließ, ehe er ihnen entgegenging. Aber es ist nicht zu leugnen, daß die Ortsbestimmung mit dem Wortlaut des Textes der Kommentare, wie er vorliegt, nicht zu vereinigen ist.

Die neueste Hypothese von COLOMB UND STOLLE267 wonach die Schlacht bei Arcey, 10 Kilometer östlich von Mömpelgard geschlagen wurde, hat den Vorzug, den beiden positiven Raum- und Zeitangaben Cäsars (über 50000 passus mit dem circuitus von Besançon und 50000 passus vom Rhein) genau zu entsprechen. Auf dem Umwege etwa über Voray, Pennesières, Villersexel ist Arcey etwas über 10 Meilen von Besancon und ebenso viel in gerader Linie vom Rhein entfernt. Der Einwand, daß nur wenig über zehn Meilen für einen Marsch von 7 Tagen zu wenig sei, ist mit Recht zurückgewiesen. Die Römer mußten mit großer Vorsicht marschieren und[526] jeden Abend ihr Lager befestigen; sie hatten keinen Grund zu besonderer Eile, und es ist ja auch denkbar, daß schlechtes Wetter die Wege verdorben und den Marsch aufgehalten hat.

Was dennoch gegen die Hypothese einzuwenden ist, ist folgendes:

Erstens. Es ist nicht einzusehen, weshalb Cäsar, als ihm bei Arcey gemeldet wurde, Ariovist sei 36 Kilometer entfernt, Halt machte. War er schon tief im Elsaß, so ist dieses Halt verständlich und natürlich: der römische Feldherr wollte seine Operationslinie nicht unnötig verlängern und den Verpflegungsnachschub erschweren. Ein Halt bei Arcey, noch mitten im Sequanerlande, fern vom Feinde, hätte den Eindruck der Ängstlichkeit gemacht; bei Rappoltsweiler war man dem Feinde so weit entgegengegangen, daß davon keine Rede mehr sein konnte.

Zweitens. Bei Arcey begreift man weder den Zweck noch die Ausführbarkeit des germanischen Umgehungsmanövers. Stolle hat seine Untersuchung nicht so weit erstreckt, und Colombs Ausführungen sind weder sachlich noch quellenkritisch haltbar. Er nimmt an, Cäsars Lager sei zwischen Sésmondans und Désandans gewesen und Ariovist habe ihm, von Mömpelgard kommend, bei Arcey die Zufuhrstraße verlegt. Weder war aber dadurch den Römern wirklich die Zufuhr abgeschnitten, denn sie konnten sie von den Lingonen und Leukern kommen lassen, noch hätten die Germanen durch die Ebene an dem römischen Lager vorbeikommen können, denn sie wären dabei nicht nur von den gallischen Reitern, sondern auch von den Legionen angegriffen worden.

Schon FRÖHLICH, Cäs. Kriegswesen, S. 206, hat die Ansicht Rüstows, der auf Vegez gestützt einen gewöhnlichen römischen Tagemarsch »justum iter« zu 30 Kilometer ansetzte, als erheblich zu hoch zurückgewiesen. Colomb und in sehr sorgfältiger und gelehrter Untersuchung STOLLE suchen nun darzutun, daß er im Ernstfalle im Feindesland nicht mehr als 12-14 Kilometer betragen habe. Stoffel nimmt 25 Kilometer an, was immer noch etwas mehr wäre, als bis in unsere Tage für normal galt, obgleich der römische Soldat an jedem Abend noch die Lagerbefestigung anzulegen hatte. In einer neueren Untersuchung »Das Lager und Heer der Römer« Straßburg 1912 hat STOLLE seine Ansicht erfolgreich verteidigt.

3. WINKLER. Der Cäsar-Ariovistsche Kampfplatz, Kolmar 1907, glaubt festzustellen, daß in einigen Punkten sich die von Stoffel bestimmte Gegend doch nicht mit der Beschreibung Cäsars vereinigen lasse und sucht das Schlachtfeld noch 23 Kilometer weiter nördlich. FABRICIUS, Zeitschr. f. d. Gesch. d. Oberrheins, hat die topographischen Untersuchungen nachgeprüft, findet manches bestätigt, anderes aber wieder nicht.

4. CHR. EBERT, Üb. die Entstehung des Bellum gallicum (1909) will jetzt nachweisen, daß Cäsar jedes Buch einzeln sofort geschrieben und publiziert habe. Überzeugt hat er mich nicht; aber selbst wenn er recht haben sollte, so ist nach meiner Kenntnis kriegsgeschichtlicher Memoiren ein Irrtum, wie der oben angenommene, daß ein Mensch nicht sieben, sondern neun Tage gedauert habe, keineswegs ausgeschlossen.[527]

Quelle:
Hans Delbrück: Geschichte der Kriegskunst im Rahmen der politischen Geschichte. Berlin 1920, Teil 1, S. 518-528.
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