Drittes Kapitel.

Das Karolingerreich, die Normannen und die Ungarn.

[74] Das Reich Karls des Großen entbehrte jeder innerne Einheit und war das Werk der Dynastie, der Arnulfingischen Familie. Nach germanischem Erbrecht hatten die Söhne gleichen Anspruch an diesen Familienbesitz; ein Versuch, durch ein Thronfolgegesetz (817) die Reichseinheit mit diesem Erbrecht auszugleichen, führte nur zu Familienfehden, und der innere Zwist in der Dynastie verhalf nunmehr dem neuen politischen Prinzip, dem Lehnrecht, zum völligen Durchbruch und löste das alte Prinzip, den Untertanenverband, der unter Karl wenigstens theoretisch noch immer geherrscht hatte, endgültig auf. Die Söhne Ludwigs des Frommen, die mit ihrem Vater kämpften und sich untereinander schlugen, mußten Anhänger zu gewinnen suchen; was sie ihnen dafür preisgaben, war der bis dahin immer noch festgehaltene Begriff des Staatsamts: wenn der König jetzt Grafen ernannte, so waren sie nicht mehr widerruflich angestellte Beamte, sondern die Ernennung wurde angesehen als die Vergebung eines Lehns; der König konnte es nicht nach Befinden zurücknehmen, und wenn bei Ableben eines Grafen ein Sohn vorhanden war, so erhob dieser den Anspruch, an die Stelle des Vaters treten zu dürfen und mit der Grafschaft beliehen zu werden. Die Natur der Dinge führte mit Notwendigkeit darauf. Denn da eine wirkliche Kontrolle der gräflichen Verwaltung durch die Zentralregierung so gut wie ausgeschlossen war, so konnte nur eine enge Verbindung der Grafschaft mit den persönlichen und Familieninteressen[74] des Grafen eine gewisse Bürgschaft für eine sachgemäße Behandlung und Hintanhaltung der gröbsten Mißbräuche geben. Im besonderen eine auf Vasallität und Lehen begründete Kriegsverfassung konnte nicht unter wechselnden Beamten stehen.

Indem nun aber die Grafschaften zu Lehen wurden, wurde die königliche Autorität verflüchtigt. Man verfiel von neuem in den Zustand wie unter den späteren Merowingern. König Pippin und Karl der Große hatten eine königliche Autorität wiederherstellen und erhalten können, indem sie das gewaltige Reich einheitlich beherrschten. Der Graf, der ihren Befehlen nicht pünktlich nachkam, hätte ihre Ungnade zu fürchten gehabt. Die Grafen Ludwigs des Deutschen und Karls des Kahlen und noch mehr ihrer Nachfolger gehorchten einem königlichen Aufgebot nur so weit sie wollten. Die Könige konnten auch nicht einmal gegen den Einzelnen Strenge walten lassen: das Standesgefühl seiner Genossen, auf deren Hilfe doch der König in den dynastischen Zwisten angeweisen gewesen war und angewiesen blieb, schützte ihn.

Dieselbe Lehnsverfassung, die dem karolingischen Staat ein brauchbares Kriegertum gegeben hatte, löste ihn jetzt auf.

In diesem Augenblick erschien ein neuer furchtbarer Feind in der abendländischen Welt, der letzte Rest des noch in der Urbarbarei verharrenden Germanentums, die heidnischen Normannen.

Man hat die verschiedensten Vermutungen aufgestellt, weshalb die bis dahin so kriegsgewaltigen Franken nicht imstande waren, ihr Land gegen die Normannen zu verteidigen, sogar von Entvölkerung hat man gesprochen infolge der vielen Kriege Karls des Großen. In Wirklichkeit werden wir annehmen dürfen, daß die Freiheit von Bürgerkriegen mehrere Generationen hindurch und darauf die fast vollständige Friedenszeit unter Ludwig dem Frommen bis 830 dem wirtschaftlichen Gedeihen des Landes und auch der Volksvermehrung sehr zugute gekommen ist. Gerade aber die geringen Ansprüche, die Karl an die Kriegsaufstellung der einzelnen Gaue machte, und die Ruhe unter Ludwig hatten Kriegstüchtigkeit und Kriegsübung auf sehr kleine Kreise beschränkt. Solange eine Zentralgewalt mit ungebrochener Autorität bestand, konnten immerhin erhebliche Heere zusammengebracht werden. Nachdem nun aber diese Zen tral-Autorität geschwunden und der König[75] auf den guten Willen der Grafen, Bischöfe und Vasallen angewiesen war, da waren aus den ferneren Gegenden die Aufgebote nicht mehr heranzubringen.

Es wiederholen sich jetzt die Zustände im römischen Reich nach der Durchbrechung des Limes. Die Heere der Normannen waren gewiß nicht stärker, eher noch weniger stark, als einst die der Germanen, die im vierten und fünften Jahrhundert die römischen Provinzen plünderten. Alle diese Wikinger kamen aus Dänemark und Norwegen, Ländern, die wegen Kleinheit oder Unfruchtbarkeit unmöglich große Volksmassen ernähren können. Schweden mögen sich auch zuweilen beteiligt haben, in der Hauptsache aber waren ihre Blicke damals nach der entgegengesetzten Seite gerichtet: als Waräger unterwarfen sie sich Rußland und sind mit ihren Stammverwandten, die durch die Straße von Gibraltar und das mittelländische Meer angesegelt kamen, in Konstantinopel zusammengetroffen. Nicht durch die Zahl können diese Nordmänner Europa mit Schrecken erfüllt haben, sondern nur dadurch, daß in ihnen von neuem jenes germanische Urkriegertum erschien, vor dem schon das alte Rom erzittert war, als die Cimbern und Teutonen anrückten, und das dann ein halbes Jahrtausend später das Imperium in Stücke schlug.

Am deutlichsten erkennen wir den Gang der Entwickelung bei den Angelsachsen. Hier ist gerade durch König Ekbert (im Jahre 827) die Verschmelzung der angelsächsischen Staaten auf der britischen Insel zu einem einheitlichen Reiche vollzogen, als die Angriffe der Wikinger beginnen. Man sollte meinen, das große germanische Reich müßte sich der Seeräuberscharen haben erwehren können. Aber die kriegerische Kraft, mit der 400 Jahre früher die Vorfahren die Insel erobert und die Kelten unterworfen haben, ist rein ausgelöscht. Wir werden den Gang dieser Entwickelung unten noch näher betrachten: wie schließlich hier das alte germanische Eroberervolk ganz unter die Herrschaft der Dänen, dann der französierten Normannen geriet.

Nicht ganz so schlimm erging es den fränkischen Teilreichen, wo die Lehnsverfassung immerhin etwas mehr Kriegertum erhalten hatte, als bei den Angelsachsen. Aber auch die fränkischen Lehnsmannschaften genügten den Wikingern gegenüber nicht. Vor allem[76] hatte auch schon Karl dem Großen, nach Rankes Ausdruck, die Hälfte aller Macht, die Seemacht gefehlt. Er hatte schon den Mangel empfunden und Schiffe bauen lassen (i. J. 800), aber es kann nicht viel getan worden sein, denn als i. J. 810 die Normannen wieder erschienen mit 200 Schiffen, konnten sie Friesland ungestraft brandschatzen. Unter Ludwig dem Frommen, wo Zeit und Mittel reichlich vorhanden gewesen wären, eine Seemacht zu schaffen, war nichts geschehen, und in den Bürgerkriegen, die nachher ausbrachen, war eine so große Anstrengung, wie sie der Bau einer Flotte erforderte, nicht mehr zu machen. Der Besitz der Flotte und die Geschicklichkeit der Schiffsführung gab nun den Normannen die Möglichkeit, bald hier, bald dort unvermutet an der Küste zu erscheinen, und wenn es auch nur wenige tausend Mann waren, wie lange dauerte es, bis einige tausend Vasallen zusammengebracht und herangeführt waren! Ehe man kam, konnte der Feind längst mit seiner Beute abgezogen sein, und da lag für entferntere Grafen die Versuchung sehr nahe, sich gar nicht erst in die großen Unkosten eines Feldzuges zu stürzen, zu Hause zu bleiben und die Kräfte ihrer Grafschaften zu schonen.

Wohl bot man auch einmal die Bauern auf, um die entsetzlichen Feinde abzuwehren, aber obgleich eine unzählige Menge zum Kampf zusammenkam, erzählt uns der Chronist, so vernichteten die Normannen die, wennschon bewaffnete, doch des Kämpfens unkundige gemeine Menge und schlachteten sie ab wie das Vieh.77 Die Bauern, ripuarische Franken, müssen also beim Zusammenstoß sofort Kehrt gemacht haben.

So konnte es geschehen, daß die Normannen Köln und Aachen verbrannten, bis nach Koblenz und sogar bis nach Trier kamen und schließlich, während Kaiser Karl III. in Italien weilte, Paris belagerten. Gleichzeitig waren die Küsten des mittelländischen Meeres, besonders Italien, den Angriffen sarazenischer Seeräuber ausgesetzt, die Neapel plünderten und St. Peter in Rom.[77]

Bis hierher mag man ohne besondere Mühe die Ereignisse verstehen, indem man sich erinnert, wie hilflos einst das römische Reich den Einfällen der Germanenschwärme gegenüber war, von denen wir jetzt wissen, wie gering auch ihre Heereszahlen waren. Einer gewissen Anstrengung der Phantasie aber bedarf es, um es begreiflich zu finden, daß, selbst wenn einmal wieder die Kräfte des ganzen Reiches zusammengefaßt wurden und die Normannen, statt auf ihre Schiffe zurückzugehen, dem Angriff die Stirn boten, man sie dennoch nicht zu bewältigen vermochte.

Die früheren Angriffe und Verwüstungszüge der Nordmänner waren begünstigt worden entweder durch ihre Überlegenheit zur See, die allenthalben Überraschungen ermöglichte, oder durch die Spaltungen innerhalb der Dynastie und Kämpfe der Franken untereinander. Endlich wurde das Reich noch einmal unter Karl III., dem Sohn Ludwigs des Deutschen, vereinigt. Jetzt durfte man erwarten, so große Heere zusammengebracht zu sehen, daß sie die Normannen, wo sie sie auch trafen, überwältigten. Aber es geschah nicht.

Schon einmal hatte Karl als König des ostfränkischen Reichs, Lothringens und Italiens ein großes Heer zusammengebracht und gegen die Normannen geführt, die bei Aschloo (Elsloo) an der Maas ein festes Lager geschlagen hatten. Da selbst die Italiener Zuzug geleistet hatten, so dürfen wir annehmen, daß das fränkische Heer wirklich nicht unbedeutend war. Karl, statt die Normannen anzugreifen, schloß mit ihnen einen Vertrag, wonach ihr Führer, Gottfried, sich taufen ließ, eine karolingische Prinzessin heiratete und für sich und seine Scharen einen Teil von Friesland als Wohnsitz angewiesen erhielt; überdies mußten 2412 Pfund Gold und Silber gezahlt werden (882). Nach den Aussagen der Zeitgenossen wäre das Heer mit diesem Abkommen unzufrieden gewesen und hätte lieber gefochten. Immerhin läßt sich denken, daß der Kaiser und seine Ratgeber glaubten, durch die friedliche Aufnahme der Normannen in das Reich mehr zu gewinnen, als selbst durch einen doch immer zweifelhaften Sieg.

Auch diese politische Erklärung aber versagt bei den Ereignissen vor Paris. Karl erschien mit dem gesamten Reichsheer[78] auf der Nordseite der Seine und besetzte den Montmartre. Die Normannen zogen sich auf das Südufer zurück; hier aber hielten sie stand. Jetzt wäre der Augenblick für eine große Entscheidung gegeben gewesen. Karl wagte sie nicht, sondern schloß einen neuen Vertrag, worin er den Normannen 700 Pfund Silber als Lösegeld für Paris zusagte und ihnen Burgund, das sich unter einem Grafen Boso als König, vom Reiche loslösen wollte, als Winterquartier anwies.

Die Zeitgenossen warfen alle Schuld für diesen schmählichen Vertrag auf die Person des gänzlich unfähigen, feigen Königs und erklärten seine Vertrauten für Verräter. Die Empörung war so groß, daß man Karl III. bald darauf absetzte. Aber damit ist die Sache kriegsgeschichtlich noch nicht erledigt. Es wird keiner Frage unterliegen, daß dieser Karl durchaus nichts vom Helden an sich hatte, aber wenn in dem Heer und seinen Führern ein unbedingter Glaube an den Sieg geherrscht hätte, so wären unter den fränkischen Großen doch wohl Männer gewesen, die ihre Stimmen hätten geltend machen und den Kaiser zur Ernennung eines Herzogs hätten vermögen können, der sie zur Schlacht führte.

Wir müssen auch die Momente aufzusuchen uns bemühen, die den Entschluß des Kaisers, der doch wohl nicht ohne Erwägung im Kriegsrat gefaßt worden ist, sachlich begreiflich erscheinen lassen.

Wohl ist es zuweilen fränkischen Königen gelungen, die Normannen zu besiegen, namentlich König Ludwig dem Stammler einige Jahre vorher bei Saucourt (881) und König Arnulf, dem Nachfolger Karls III., bei Löwen, fünf Jahre später (891). Aber diese Siege können doch nicht sehr bedeutend gewesen sein, auch nicht die zweite vielgerühmte Schlacht, denn wenn auch die Meldung eines Annalisten, die Franken hätten überhaupt nur einen einzigen Mann verloren, als eine sehr deplacierte Renommage angesehen werden mag, so zeigt sie doch jedenfalls unmittelbar nur geringe Folgen. Schon nach wenigen Wochen setzten sich die Normannen an eben der Stelle, wo sie die Niederlage erlitten, wieder fest und machten von da einen Plünderungszug bis nach Bonn und von da in die Ardennen.[79]

Wir dürfen aber auch das Verhalten König Heinrichs I. von Deutschland ein Menschenalter später gegen den anderen barbarischen Feind, die Ungarn, die damals die abendländische Welt bedrängten, zum Vergleich heranziehen. Auch Heinrich, der doch den Ruf eines starken Königs hinterlassen hat, hat es für geraten gehalten, den Ungarn neun Jahre lang einen regelmäßigen Tribut zu bezahlen, und dadurch noch nicht einmal die Sicherheit seines ganzen Reiches, sondern nur die seines eigenen Herzogtums Sachsen erkauft. Es ist nicht anzunehmen, daß in der Kriegstüchtigkeit der Deutschen im Jahre 924 und der Franken im Jahre 886 ein wesentlicher Unterschied war: was wir uns also klarzumachen haben und was vor wärts wie rückwärts ein Richtpunkt für unser historisches Verständnis werden und bleiben muß, ist die Tatsache, daß die gesammelten Kräfte des ungeheuren karolingischen Staates und der immer noch ungeheuren aus ihnen hervorgehenden Teilstaaten doch nur gerade ausreichten, mit einem einbrechenden kleinen Barbarenvolk sich ungefähr ins Gleichgewicht zu setzen, sodaß es von den besonderen Umständen, namentlich der führenden Persönlichkeit abhing, wer im einzelnen Fall die Oberhand behielt. Die Ungarn sind schließlich von Otto dem Großen, der die Kräfte von ganz Deutschland mit starker Hand zusammenfaßte, in offener Feldschlacht überwunden worden. Die Normannen sind niemals wirklich besiegt worden. Ein Teil von ihnen hat sich auf der britischen Insel dauernd niedergelassen; ein Teil ist im Jahre 911 unter dem Herzog Rollo an der Mündung der Seine vertragsmäßig angesiedelt worden in der Art, wie es Karl III. schon mit dem Abkommen von Elsloo (abgesehen von einem noch früheren Versuch) beabsichtigt hatte. Indem nun im Laufe des 10. Jahrhunderts auch Dänemark und Norwegen das Christentum annahmen, traten auch die Reste dieser Völker in den Kreis der abendländischen Kulturwelt ein und verloren allmählich den gefährlichen reinen Kriegercharakter.

Die Wikingerfahrten der Nordgermanen sind also nicht bloß in ihrem Ursprung und ihrem Charakter, sondern auch ihrem Ausgang und ihrem Ergebnis ganz analog den Zügen der Germanen in der Völkerwanderung verlaufen: ein Teil der Fahrenden hat sich in den ursprünglich ausgeplünderten und mutwillig zerstörten Landschaften zuletzt niedergelassen. Ein Unterschied ist aber, insofern[80] das fränkische Reich doch nicht so völlig wehrlos war, wie einst das römische. Die Römer brachten aus sich kaum noch ein brauchbares Kriegertum hervor, seitdem die festen Stämme der disziplinierten Legionen verloren gegangen waren; sie vermochten sich nicht anders zu verteidigen, als daß sie die einen Barbaren gegen die anderen ausspielten und ins Feld führten. Als Geiserich Karthago angriff, wurde es durch Goten (cum Gothorum foederatorum manu) verteidigt; mit Hilfe der Heruler, Langobarden und Hunnen besiegte Narses die Goten. Das fränkische, das angelsächsische und später das deutsche Reich schlug sich mit den Normannen und Ungarn, besiegt oder siegreich, doch wenigstens mit seinen eigenen Kräften und Landeskindern. Wäre, wie man früher annahm, das fränkische Heer noch unter Karl dem Großen ein Bauernheer gewesen, wäre also, mit anderen Worten, noch die große Masse der Bevölkerung kriegstüchtig und kriegsbrauchbar gewesen, so wäre es völlig unbegreiflich, daß schon ein Menschenalter nach dem Hinscheiden des Kaisers dies Volk von vielen Millionen die wilden Eindringlinge nicht hat abwehren können. Die Kriegstüchtigkeit auch der germanischen Stämme im Karolingerreich aber war längst beschränkt auf eine sehr dünne Schicht: schon die Heere Karls des Großen waren, wie wir das aus anderen Umständen oben erschlossen haben, sehr klein gewesen. Auch seine Urenkel konnten daher kriegsbrauchbare Waffen nicht zusammenbringen, sondern nur mehr oder weniger zahlreiche Ritterscharen.

Kehren wir von hier aus noch einmal zu der Situation Karls III. beim Entsatz von Paris zurück. Seit fast einem Jahr (November 885) lagen die Normannen vor dieser Stadt, hatten sie heftig bestürmt und zeitweilig so fest eingeschlossen, daß man nur durchschleichend oder mit Gewalt heraus- und hineingelangen konnte. Paris war schon eine große Stadt.

Haben auch die Meldungen der Chroniken, daß die Normannen 30000 oder gar 40000 Mann stark gewesen seien, keinen Wert, so muß ihr Heer doch immerhin recht bedeutend gewesen sein, und als Karl nun mit dem Entsatzheer heranzog, stellte jenes sich nicht zur Schlacht im freien Felde, sondern zog sich in ein wohlbefestigtes Lager auf dem südlichen Seineufer zurück. Die Franken[81] standen also vor der Aufgabe, dieses Lager entweder zu stürmen oder es einzuschließen und auszuhungern. Ob ein Sturm Aussicht auf Erfolg hatte, muß doch wohl sehr fraglich erscheinen. Stellen wir uns Cäsar in einer derartigen strategischen Situation vor, so ist es keine Frage, daß er das feindliche Heer durch Gräben und Palissaden eingeschlossen und durch Hunger endlich zur Ergebung gezwungen hätte. Es gehörte dazu, daß das einschließende Heer sich selber lange genug verpflegen konnte; auf der schönen Wasserstraße der Seine und ihrer Zuflüsse, sollte man meinen, hätte auch der fränkische Kaiser das Nötige heranschaffen lassen können. Aber es fehlten die administrativen Voraussetzungen. Ein karolingisches Heeresaufgebot beruhte ja darauf, das jedes Kontingent sich seine Lebensmittel selber mitbrachte. Schon seit dem August 886 war Karl ganz in der Nähe von Paris und der Abschluß erfolgte erst im November; vermutlich haben sich die Kontingente erst so langsam zusammengefunden. Als die letzten ankamen, hatten die ersten ihren dreimonatlichen Proviant schon verzehrt. Erfahrene und findige Lieferanten, die mit barem Gelde auch die kleinen verborgenen Vorräte herauszulocken und aus weiterer Ferne Zufuhren zu organisieren imstande sind, fehlten. Durch auszuschreibende Lieferungen war in der näheren Umgegend, die die Normannen vollständig ausgeplündert hatten, nichts zu gewinnen, und weiter weg vom Kriegsschauplatz war die königliche Autorität nicht groß genug, um mit Gewalt das etwa Vorhandene herauszuholen und heranzuschaffen.

Versetzt man sich zurück in die Zeit Karls des Großen, so waren die Verhältnisse in ihren Elementen dieselben; dennoch darf man nicht den Schluß machen, daß also auch unter einem so gewaltigen Herrscher Ähnliches hätte geschehen können. Die Abwandlung, die sich von ihm bis zu seinem Urenkel vollzogen hatte, ist zwar sozusagen kriegstechnisch sehr gering, politisch aber um so größer, und dieses politische Moment beherrscht auch die einzelnen Kriegshandlungen. Unter Karl dem Großen wäre es nicht zu einer Belagerung von Paris und zum Abkaufen des Feindes gekommen, weil von Anfang an ein anderer Widerstand geleistet worden wäre. Die Normannen verdanken ihre Kriegserfolge nicht bloß ihrer eigenen wilden Tapferkeit, sondern zunächst auch dem[82] Zwiespalt der Franken untereinander, die Auflösung des Reiches, dem Bürgerkrieg. Die ersten Siege und Erfolge, die diese Verhältnisse ihnen ermöglichten, gaben ihnen eine moralische Zuversicht und Überlegenheit, die sich fortwährend steigerte und fortwirkte. Umgekehrt bei den Franken: nicht bloß, daß sich ihr Gemüt mit einem heillosen Respekt vor den Berserkern erfüllte, sondern vor allem war die königliche Autorität, auch nachdem die Reichseinheit wiederhergestellt war, dauernd gelähmt. Wie wir einst in dem Kriege Cäsars in Gallien festgestellt haben, daß ein ganz wesentliches Element des Sieges der Römer ihre administrative Überlegenheit ist, so ist vielleicht der letzte und entscheidende Grund für die elende Abkunft Kaiser Karls III. mit den Normannen vor Paris nichts als die administrative Unfähigkeit des durch die Feudalität eingeengten fränkischen Königtums, das Heer, das endlich mit Mühe und Not zusammengebracht ist, einen Winter hindurch zu ernähren. Karl der Große hätte wohl noch so viel Gewalt über seine Grafen gehabt, um das Heer zusammenzuhalten und die nötigen Lieferungen zu erzwingen.

Während der Belagerung hatte ein Teil der Belagerer unter dem Seekönig Siegfried sich bewegen lassen, gegen ein Geschenk von 60 Pfund Silber abzuziehen; unmittelbar nachdem Karl mit den Belagernden abgeschlossen hatte und abgezogen war, hören wir, daß der König Siegfried von neuem erschien und hinter dem Kaiser her die Oise herauffuhr. Die Annalen von Fulda berichten, daß das Herannahmen dieses Entsatzheeres den Entschluß Karls zu dem Abkommen bewirkt habe. Aus der Sachlage folgte das nicht so unbedingt, und ob der Chronist authentisch unterrichtet gewesen ist, muß dahingestellt bleiben. Man könnte nämlich auch gerade umgekehrt argumentieren, daß ein neues heranziehendes Heer den Franken die Gelegenheit geboten hätte, ihm entgegenzugehen und zunächst gegen ein feindliches Teilheer eine Schlacht im offenen Felde zu schlagen. Hätten sie diese gewonnen, so hätte ihnen das eine moralische Überlegenheit gegeben und wäre auch auf einen etwaigen Entschluß, das befestigte Lager der Normannen bei Paris zu bekämpfen, von Einfluß gewesen.

Aber es hat keinen Zweck, solche Möglichkeiten zu erörtern, da wir über die tatsächlichen Vorgänge nicht genau genug unterrichtet[83] sind. Das Ergebnis bleibt, daß der Herrscher des vereinigten Frankreichs sich nicht getraut hat, ein bloßes Seeräubervolk mitten in seinem Lande anzugreifen, es niederzukämpfen und zu bestrafen, daß also die kriegerische Kraft dieses Frankenreichs unsäglich gering war.


Quelle:
Hans Delbrück: Geschichte der Kriegskunst im Rahmen der politischen Geschichte. Berlin 1923, Teil 3, S. 74-84.
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