Das Carroccio


Das Carroccio.

[374] Wir haben erkannt, daß das Kriegswesen der italienischen Kommunen das ritterliche war und blieb, aber mit der besonderen Eigenschaft, daß im Mischkampf das Fußvolk eine stärkere, zuweilen auch eine viel stärkere Potenz bildete, als sonst in der Zeit. Zur[374] Bildung einer wirklichen Infanterie jedoch, fester taktischer Körper, wie die Phalanx und Legion, ist es nicht gekommen. Als eine Art Ersatz für die fehlenden taktischen Körper haben wir das Carroccio anzusehen. Das Carroccio ist ein schwerer, von acht Ochsen gezogener Wagen, auf dem eine hohe Stange mit einer Fahne aufgerichtet ist; an der Spitze war auch wohl die Monstranz mit geweihten Hostien befestigt. Auf dem Wagen standen Priester. Nicht übel hat man dies Heiligtum mit der israelitischen Bundeslade verglichen. Wir kennen die Schwäche des nicht fest zusammengeschlossenen Fußvolks gegenüber Reitern; das Carroccio hinter der Front soll einen weithin sichtbaren Mittelpunkt bilden, wo alles sich wieder sammelt, was augenblicklich von seiner Stelle verdrängt oder in Verwirrung geraten ist. Auch die Verwundeten begeben sich zum Carroccio oder werden dort hingebracht, um vor ihrem Scheiden von den Priestern die Absolution zu erhalten. Wir werden annehmen dürfen, daß vor jeder Schlacht den Kriegern noch einmal eingeprägt worden ist, die Fahne nicht zu verlassen, sondern sich in der äußersten Not um das Heiligtum zu scharen und es zu retten oder mit ihm unterzugehen. Die Stimmung der Entschlossenheit und des Vertrauens auf den Sieg, die in einer gut geordneten und geführten Legion (die ja übrigens auch ihre Feldzeichen hat), von selber vorhanden ist, wird durch das Carroccio künstlich hervorgerufen und durch den religiösen Charakter des Symbols gesteigert. Wir finden einen solchen Fahnenwagen zum erstenmal genannt in Mailand im Jahre 1039, eben also um die Zeit, als durch das Zusammenschließen der Stände die italienischen Kommunen sich bildeten und bürgerliche Elemente, die lange des Kriegertums entwöhnt waren, wieder die Waffen aufnahmen. Der Erzbischof Heribert bewaffnete, wie die Quelle sagt, alle »a rustico ad militem, ab inope usque ad divitem.«381 Die Kirche stand also schon bei dem ersten Auftreten des städtischen Symbols (wenigstens dem ersten, das uns überliefert ist) Gevatter, der spätere Bund der Kirche mit den Kommunen trug noch mehr dazu bei, dem Carroccio einen kirchlichen Charakter zu geben, und wir finden es diesseits der Alpen besonders bei[375] Heeren, die mit der Kirche in Berührung stehen. Die Gegner Heinrichs IV. führten es in der Schlacht von Bleichfeld 1086, der englische Landsturm unter Führung des Erzbischofs von York in der Schlacht von Northallterton 1138, Richard Löwenherz in Syrien 1191; ferner Otto IV. bei Bouvines 1214, die Kölner bei Worringen 1288, die Mainzer 1298 bei einer Belagerung von Alzey. Bei den italienischen Kommunen gehörte es wohl das ganze 12. und 13. Jahrhundert zur ständigen Ausrüstung eines Bürger-Auszuges.382


Quelle:
Hans Delbrück: Geschichte der Kriegskunst im Rahmen der politischen Geschichte. Berlin 1923, Teil 3, S. 374-376.
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