15. Die angeblichen Reden Jesu von der Parusie und Bar-Kochbas Verhalten zu den Judenchristen.

[421] Die Resultate der höheren neutestamentlichen Kritik, daß nämlich der urchristliche Literaturkreis nicht historische Fakta aus dem Leben tradiert, sondern lediglich das Pathos und die Situation der Abfassungszeit abspiegelt, bestätigt sich immer mehr, je tiefer man in das Detail mit unbefangenem Blicke eindringt. So enthalten die synoptischen Evangelien eine lebendige Schilderung der Bar-Kochba-Zeit und der darauffolgenden Leiden durch die hadrianische Verfolgung, und die Anspielungen auf diese Fakta sind so deutlich, so in die Augen fallend, daß dabei nur eins zu verwundern ist, wie diese Züge den Kritikern und Rekonstruktoren entgehen können. Wer wird auch nur einen Augenblick verkennen, daß die Worte in den zwei ersten Evangelien: »Wenn ihr nun sehen werdet den Gräuel der Verwüstung (βδέλυγμα τῆς ἐρƞμώσεως ,םמושמ ץיקשה םמושמ םיצוקש), davon gesagt ist durch den Propheten Daniel, stehend an der heiligen Stätte (wer das liest, der merke darauf), alsdann fliehe auf die Berge, wer im jüdischen Lande ist« (Matthäus 24. 15 Markus 13. 14.), wer kann verkennen, daß sie von jenem Gräuel zu verstehen sei, daß Hadrian ein Jupiterbild und seine eigene Statue (Hadriani statua et Jovis idolum) in das Allerheiligste stellen ließ? Diese Anspielung liegt so sehr auf der Hand, daß selbst Hieronymus (in seinem Kommentar zu Matthäus) sie nicht übersehen hat. Zu der lächerlichen Erklärung vom Antichrist und vom Cäsarbilde.[421] das Pilatus in den Tempel hatte stellen lassen wollen, fügt dieser Kirchenvater die richtige hinzu: Man könnte die Worte des Evangelisten auch von Hadrians Reiterstatue im Allerheiligsten verstehen, die noch bis auf seine Zeit daselbst gestanden: Potest autem simpliciter aut de Antichristo accipi, aut de imagine Caesaris, quam Pilatus posuit in templo, aut de Hadriani equestri statua quae in ipso sancto sanctorum loco usque in praesentem diem stetit. Vergl. auch Suidas sub voce βδέλυγμα ἐρƞμώσεως. Es ist höchst unbegreiflich, wie man das Kapitel der Parusie noch immer auf den Untergang Jerusalems22 unter Titus beziehen kann, da in diesem Drama der Zug von der Aufstellung des »Gräuels der Verwüstung«, offenbar der Vordergrund in dem Nachtstücke des Kapitels, ganz und gar fehlt! Das heißt doch wahrlich in der Exegese hinter Hieronymus zurückbleiben: Es ist bezeichnend für Strauß' romantisch flimmernden Standpunkt, daß er das Kapitel von der Parusie und damit die Abfassungszeit des ältesten Evangeliums in Titus' Zeit verlegt (Leben Jesu für das deutsche Volk S. 238 f.) ganz so wie die reuigen Tübinger. Weist nun die Erwähnung des »Gräuels der Verwüstung« auf die hadrianische Zeit hin, so werden die übrigen Züge dieses merkwürdigen Kapitels nicht minder darauf Bezug haben, wenn man nur diejenigen davon abzieht, welche teils dem alttestamentlichen Prophetenstil, teils der Volksvorstellung von der messianischen Leidenszeit (חישמ ילבח) entlehnt sind. Sogleich der Eingang. Auf die Frage der Jünger, welche Zeichen seiner Wiederkunft vorangehen würden, antwortet Jesus angeblich, eigentlich hors d'ouvre, warnend: »Sehet zu, daß euch nicht jemand verführe, denn es werden viele kommen und sagen, ich bin Christus (der Messias) usw. Wenn ihr werdet hören Kriege und Kriegsgeschrei, so fürchtet euch nicht usw.« Dieser τίς, welcher sich als Messias aufwerfen wird, vor dessen Verführung die Gläubigen besonders auf ihrer Hut sein sollen, kann kein anderer sein, als der Messiaskönig Bar-Kochba, dessen Patriotismus nicht ohne begeisternden Einfluß auch auf die Judenchristen gewesen sein mag. Die Kriege und das Kriegsgeschrei und die Worte: »es wird aufstehen ein Volk wider das andere«, sind nicht minder Züge aus der Bewegung des Bar-Kochbaschen Aufstandes gegriffen, und erinnern an die gewaltige Bewegung seiner Zeit, welche Dio Cassius mit den Worten schildert: καὶ πάσƞς, ὡς εἰπεῖν, κινουμένƞς ἐπὶ τούτῳ τῆς οἰκουμένƞς, daß das ganze römische Reich in Aufruhr war. Aus der Bar-Kochbaschen Zeit scheint ferner der Zug entnommen: »und sie werden euch überantworten vor die Rathäuser (συνέδρια) und Schulen (Synagogen) und ihr werdet gestäut werden«, es erinnert an die Nachricht von Justin und Eusebius, daß Bar-Kochba die Christen (Judenchristen) bestrafte, weil sie Christus nicht verleugnen und nicht gegen die Römer kämpfen wollten. (J., Apologia I. 31.) [422] Καὶ γὰρ ἐν τῷ νῠν γεγενƞμένῳ Ἰουδαϊκῷ πολέμῳ Βαρχοχέβας ... Χριστιανοὺς μόνους εἰς τιμωρίας δεινάς, εἰ μὴ ἀρνοῖντο Ἰƞσοῠν τὸν χριστὸν καὶ βλασφƞμοῖεν ἐκέλευεν ἀπάγεσϑαι. Besser motiviert es Eusebius, Chronik zum 17. J. Hadrians: ... Cochebas plurimos Christianos diversis suppliciis affecit, eo quod noluissent proficisci cum illo pugnatum contra Romanos. Bemerkenswert ist, daß die Evangelien nur vom Stäupen (δαρέσεσϑε) d.h. Geißelhieben, und nicht von Todesstrafen sprechen, daß demnach die δειναὶ τιμωρίαι (omnimodis cruciatibus necare), mit welchen Justin und die Spätern Bar-Kochba die Christen verfolgen lassen, höchst übertrieben scheinen. Denn die Worte des Matthäusevangeliums »sie werden euch töten und ihr werdet gehaßt sein«, beziehen sich nicht auf jüdische Richter, sondern wollen nur in der Kürze das aussagen, was das Markusevangelium in größerer Ausführlichkeit hat: »ihr werdet vor Statthalter (ἠγεμόνων) und Könige geführt wer den, um meinetwillen zum Zeugnis für sie«, und die Worte haben offenbar jene Verfolgung zum Hintergrunde, welche die Christen unter den Kaisern Domitian, Trajan und Hadrian (in seinen ersten Regierungsjahren) von den Statthaltern der Provinzen zu erdulden hatten. Für unsern Zweck sind noch die Züge wichtig, »daß ein Bruder den andern verraten wird und die Kinder sich wider die Eltern empören«, welche verstohlen andeuten, daß innerhalb der judenchristlichen Gemeinden ein Zwiespalt ausgebrochen war; ferner die grausige Schilderung von der Verfolgung nach dem Aufstellen des Gräuels der Verwüstung, von welcher auch die Christen betroffen werden, die unzweideutig die Leidenszeit unter Hadrian und seinem Statthalter Rufus vergegenwärtigten. Daß dieses ganze Kapitel der Parusie ein judenchristliches ist, erkennt man, von allem andern abgesehen, an den Worten: »Bittet, daß eure Flucht (vor dem hadrianischen Zorne) nicht geschehe im Winter oder am Sabbat«. Merkwürdigerweise findet sich das Wort »und am Sabbat« nur im ersten Evangelium, scheint aber im zweiten nur ausgefallen, nicht weggelassen. Die Flucht der Judenchristen nach Pella und der transjordanischen Dekapolis geschah gewiß erst wegen der hadrianischen Verfolgung, obwohl die christlichen Annalisten auch diese Tatsache in die Zeit der Tempelzerstörung setzen. Weil diese Gegend nach Epiphanius (Haer. 29.) der Aufenthalt der Judenchristen war, darum läßt das erste Evangelium der Dekapolis die Ehre widerfahren, von Jesu besucht worden zu sein (Matth. IV, 25.) – Im dritten Evangelium ist diese Bezüglichkeit auf Bar-Kochba durchweg verwischt, und das vierte, in seinem Charakter heidenchristliche Evangelium, weiß überhaupt gar wenig von der Parusie. – Von dem gegensätzlichen Verhalten der Juden gegen die Judenchristen in der Bar-Kochbaschen Zeit spricht auch eine talmudische Notiz, welche bisher wenig verstanden wurde. Es heißt nämlich (Mischna Berachot, Ende): Als die Minäer (Judenchristen) entarteten und sagten: es gibt nur eine Welt, hat man verordnet, daß man (zur Schlußbenediktion) sagen soll: »von Welt zu Welt« und hat (ferner) verordnet, daß man einander begrüßen soll mit dem Gottesnamen (Ihwh, Tetragrammaton): והיש וניקתה דחא אלא םלוע ןיא ורמאו ןינימד ולקלקשמ תא לאוש םדא אהיש וניקתהו ,םלועה דעו םלועה ןמ םירמוא םשב ריבח םולש. Die Tragweite der ersten Verordnung, welche dogmatischer Natur zu sein scheint, ist mir noch nicht klar. Die zweite Verordnung, welche offenbar das Aussprechen des Tetragrammaton gestattet und das ältere Verbot aufhebt, wird ausdrücklich in die Zeit des דמש, d.h. der Hadrian-Bar-Kochbaschen Epoche gesetzt, Midrasch Psalm 36 רב אבא 'ר רמא הלודגה תסנכ ישנא שרופמה םשב ושמתשנ תורוד ינש אנהכ דמש לש ורודו. Hier ist es deutlich, daß das Geschlecht[423] der Zeit des hadrianischen Krieges sich des ursprünglichen Gottesnamens bedient hat. Aus jener Mischna erfahren wir, daß es eine ausdrückliche Verordnung (הנקת) gestattet hat und zwar im Gegensatze zu den Minäern, d.h. Judenchristen. Wahrscheinlich liegt der Grund darin, daß diese auch Jesus »Herr« (ינודא,Κύριος) genannt haben; darum wollte man mit dieser Verordnung ein Unterscheidungszeichen einführen, zu erkennen, wer zum Gotte des Judentums oder zu Jesus halte. [Der Ausdruck an der letzterwähnten Stelle bedeutet, wie aus dem Schluß des Kapitels hervorgeht, sich des Gottesnamens bedienen, um Wunder zu tun. Es ist gar nicht anzunehmen, daß man gestattet hätte, den vierbuchstabigen Namen auszusprechen.]


Quelle:
Geschichte der Juden von den ältesten Zeiten bis auf die Gegenwart. Leipzig 1908, Band 4, S. 421-424.
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